Theater der Zeit

Auftritt

Chur: Leben in Rutschgefahr

Theater Chur: „Peiden“ von Rafael Sanchez und Roman Weishaupt. Regie Rafael Sanchez, Bühne Duri Bischoff, Kostüm Dominique Steinegger, Video Robin Nidecker

von Bettina Kugler

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Schweiz Theater Chur

Der doppelte Bruno: Bruno Cathomas in „Peiden“ von Rafael Sanchez und Roman Weishaupt in der Regie von Rafael Sanchez am Theater Chur.
Der doppelte Bruno: Bruno Cathomas in „Peiden“ von Rafael Sanchez und Roman Weishaupt in der Regie von Rafael Sanchez am Theater Chur.Foto: Yanik Buerkli

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Fast findet er nicht ins Rampenlicht. Tückisch versperrt der geschlossene Vorhang den Weg, und so ist Bruno Cathomas zunächst nur dahinter zu ahnen – doch schon dies mit gewaltiger Bühnenpräsenz. Als er sich schließlich durch den schweren Samt gekämpft und gefummelt hat, wirkt der Auftritt wie ein erstes Mal: Als sei er noch jener Bruno, der nach diversen Vereinserfahrungen sein Glück auf der Bühne versucht, beim Dorftheater im Bündner Oberland. Jener Bruno, der noch nie nackt vor dem Spiegel gestanden ist und in naiver Verblendung glaubt, groß, blond und blauäugig zu sein. Nach einem verlegenen „Ciao“ freilich stürzt sich Bruno Cathomas kopfüber in die Geschichte des Bergdorfs Peiden: Zwischen drei Sprachen hin- und herswitchend; mit jeder Faser, jedem Gramm seines schweren Körpers ist er Darsteller seiner selbst und des einen oder anderen kaum merklichen Erdrutsches.

Die Dorfgeschichte wird in „Peiden“ zurückgeblättert bis zur Geburt der Alpen aus der Verschiebung der Kontinentalplatten: Dieses Epos liest Cathomas in eingeschobenen rätoromanischen Kapiteln vor, staunend, als halte er das Buch der Vorsehung in Händen, in welchem der Plan des großen Ganzen schon seit Urzeiten notiert ist. Einen intensiven Abend lang wird das Schicksal des Dorfes, seine geologische Schieflage, zum Spiegel eines Menschenlebens (in zweierlei Gestalt, wie sich bald zeigen wird). Peiden, nahe von Cathomas’ Heimatort Laax in der Surselva über dem Fluss Glenner gelegen, errichtet auf instabilem Grund, rutscht schleichend talwärts. Das Dorf gilt als unbewohnbar; dennoch ist es bis heute nicht gänzlich aufgegeben worden. Es hat zwei schwere Brände erlebt und wurde wieder aufgebaut.

Das unaufhaltsame Rutschen macht sich in feinen Rissen auch in den unzähligen Anekdoten bemerkbar, die Bruno im Text von Rafael Sanchez und Roman Weishaupt rund achtzig Minuten lang auftischt – der leibhaftige Bühnenbruno, ein anderes Ich des weltläufigen, vielfach preisgekrönten Schauspielers Bruno Cathomas. Ein Alter Ego, das Schweizerdeutsch oder Rätoromanisch spricht, in einer holzgetäfelten Stube mit Herrgottswinkel sitzt und Rapid-Bruno gerufen wird, nach der Allround-Landmaschine, die auch auf der Bühne steht und am Ende, sobald der Motor laut tuckernd angeworfen ist, alles abtransportieren wird. Dieser Bruno im Holz­fäl­ler­hemd ist nach der Schlosserlehre bei Blocher nicht aus dem Dorf herausgekommen. Der andere hat sich draußen in der Welt, in Berlin und Köln, zunächst wie ein Alien gefühlt und lange gebraucht, bis er sich selbst akzeptieren konnte.

Dass aus dem Burschen etwas Besonderes wird, hat die Großmutter freilich schon früh prophezeit. Als Kind wacht er eines ­Morgens mit einem Brandmal am Fuß auf, neben dem Radiator. Ein Zeichen Gottes! Doch ­nahezu alles, was der immer noch kindlich wirkende Koloss aus seinem Dorfleben und seiner Familiengeschichte hervorkramt, erzählt eher vom Scheitern und Weiterwursteln. Vom unerschrockenen Ausbalancieren der großen und kleinen tektonischen Verschiebungen in der Erd- und Brunogeschichte.

Medial vermittelt begegnet diesem Bündner Dorfbruno auf allen Kanälen der andere: der gefeierte Schauspieler, der gepflegtes Hochdeutsch oder Bühnendeutsch spricht – als Nathan der Weise, Richard III oder als Gast in Radiosendungen und Talkshows. Als großes Solo für ein zur Selbstreflexion fähiges Bühnentier verbindet „Peiden“ in der Regie von Rafael Sanchez diese Ebenen auf raffinierte Weise; das Stück spielt mit wuchtigen Gefühlen und subtilen Brüchen, mit großen Extremen. Es erzählt darüber hinaus von Landflucht und Dorfsterben, vom Sog der Freiheit und vom Verstoß gegen ungeschriebene Gesetze: der Tatsache beispielsweise, dass Brunos Vater eine Protestantin heiratet, die Außenseiterin im katholischen Dorf bleiben und dies mit Gin wegspülen wird. Als Bruno Cathomas wird der Sohn das alles hinter sich lassen und dennoch weiter mit sich herumschleppen. Er wird den Wacholdergeruch in der Stube nicht vergessen. So flach der Bühnenstar auf dem neuen Großbildschirm wirkt (auch das Auspacken des Ungetüms, mit einem höllisch scharfen Cutter, führt narrativ von Hölzchen auf Stöckchen), so lustvoll verausgabt sich Bruno Cathomas für seinen im wirklichen Leben nicht zum Zuge gekommenen Dorfchaplin, den sitzen gelassenen anderen Bruno in seiner Brust. Es wird an diesem Abend viel gelacht im ausverkauften Theater Chur: ein gemischtes, melancholisch getöntes Lachen angesichts des ­eigenen Da- und Hierseins in ständiger Rutsch­gefahr. //

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