Theater der Zeit

Magazin

Cyberhexen gegen Antiziganismus

Netzwerk für Roma-Theatergruppen wächst in Ungarn

von Lara Wenzel

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Europa Dossier: Ungarn

Der Entwurf einer romafuturistischen Cyber-Zukunft: Zita Moldovan, Augustina Iohan, Fatma Mohamed und Miahela Drăgan in der Inszenierung „Romancen“ am Giuvlipen Theater. Foto Augustina Iohan
Der Entwurf einer romafuturistischen Cyber-Zukunft: Zita Moldovan, Augustina Iohan, Fatma Mohamed und Miahela Drăgan in der Inszenierung „Romancen“ am Giuvlipen Theater.Foto: Augustina Iohan

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Science-Fiction, Historie und Hexenkunst verbinden sich im Giuvlipen Theater zu einer radikalen Neuerzählung von Vergangenheit und Zukunft. Roma Futurism ist die spekulative Fabulation eines kommenden Lebens, das romane Stereotypen verkehrt und zur kraftvollen Wiederaneignung in Stellung bringt. Der Wunsch, Gemeinschaftlichkeit in einem Phenjalipen, einer Schwesternschaft, zu organisieren, steht im Zentrum des Konzepts von Mihaela Drăgan. Entwickelt während einer Residenz im Para Site Art Center in Hongkong, ist der mit Afro- und Sinofuturism verwandte Entwurf ein Hybrid aus Verwünschung, Manifest und magischem Realismus, der sich im Wirken der rumänischen Theatergruppe als Forderung artikuliert.

2015 gründeten Drăgan und Zita Moldovan das romani Kollektiv und benannten es mit einem Neologismus. Sie kombinierten das Romanes-Wort für Frau, Giuvli, mit Pen, das Schwesternschaft oder schwesterliche Solidarität bedeutet, und schufen so einen Begriff für Feminismus. Diese Neukreation bereicherte die Sprache und findet nun über die Gruppe hinaus Anwendung. Ihre gemeinsame Arbeit antwortete auf die Notwendigkeit, einen Raum für romane Schauspielerinnen und Schauspieler zu schaffen, wo sie über ihre Geschichte und Kultur, Probleme und Ideen sprechen können. Hinzu kommt der Fokus auf feministische und tabuisierte Themen, der die doppelte, also antiziganis­tische und sexistische Diskriminierung von romani Frauen sichtbar macht und zugleich eine positive Gegenerzählung, wie die der romafuturistischen Cyberhexe, entstehen lässt. In ihren letzten Produktionen behandelte das Kollektiv den Holocaust in Rumänien, dem 25 000 Roma zum Opfer fielen, die Hyper­sexualisierung von Romani-Frauen und in „Romacen“ von 2019 den Entwurf einer roma­futuristischen Cyber-Zukunft.

Seit einigen Jahren engagieren sich die Künstlerinnen von Giuvlipen für ein staatlich gefördertes Theater, das der rumänischen ­Minorität gewidmet sein soll. Moldovan sieht darin ein starkes Statement für Rom:nja, die sich oft nicht als solche bezeichnen, um sich vor Antiziganismus zu schützen. Auf dem Weg zu mehr Selbstrepräsentation auf der Bühne wächst in Europa ein Netzwerk aus Theatergruppen, die ihre Expertise in Koproduktionen und internationalen Festivals teilen. Jährlich begegnen sich romane Kompagnien beim Roma Heroes Festival in Budapest, das 2017 vom Independent Theatre Hungary gegründet wurde.

Die von Rodrigó Balogh geleitete ­Gruppe kämpft in Ungarn gegen den strukturellen Antiziganismus, indem sie Rom:nja als dramatische Helden erzählt. Auf den institutionellen Bühnen tauchen oft nur rassistische Stereotypen auf, die keine eigene Handlungsmacht haben. Schauspieler und Regisseur Balogh erfüllte es mit Scham, immer wieder mit diesen diskriminierenden Figuren konfrontiert zu werden.

Damit seine selbstverfassten Dramen von Rom:nja gespielt werden können, legt die unabhängige Theatergruppe großen Wert auf Nachwuchsförderung. In „Tollfosztás“, einer Inszenierung über die Morde an Rom:nja durch Rechtsextreme, spielen und erzählen fünf Kinder geträumte und erlebte Abenteuer, die durchsetzt von rassistischer Gewalt schließlich mit ihrem Tod enden. Das Projekt sollte keine einmalige Zusammenarbeit bleiben. Balogh und das Independent Theatre Hungary arbeiteten daran, einen nachhaltigen Eindruck im Leben der jungen Menschen zu hinterlassen, indem sie professionelles Wissen teilten und Bildungswege öffneten. Für Emília Lovas begann so vor 13 Jahren ihre Schauspielkarriere, das Debüt als Regisseurin wird sie beim Roma Heroes Festival 2022 feiern.

Strukturelle Diskriminierung und die damit verbundene Armut macht es Rom:nja häufig sehr schwer, in akademische und künstlerische Ausbildungsstätten zu gelangen. Die in Ungarn im April anstehenden Wahlen lassen kaum Hoffnungen aufkommen, meint Rodrigó Balogh. Oppositionskandidat Péter Márki-Zay, der gegen den rechtskonservativen Viktor Orbán antritt, ist ein konservativer Katholik, der keine Verbesserungen für Rom:nja durchsetzen will. //

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