Die Stimme in der Oper zwischen Mittel des Ausdrucks und leiblicher Affizierung
von Clemens Risi
Erschienen in: Recherchen 113: Die Zukunft der Oper – Zwischen Hermeneutik und Performativität (06/2014)
Wenn die Perspektive des Performativen die besondere Beziehung zwischen Akteuren/Akteurinnen und Publikum in leiblicher Ko-Präsenz hervortreten lässt, so ist die Frage, inwiefern dies auch und in besonderer Weise für die Aufführungssituation Oper gilt. Es ist – so meine These – insbesondere die Stimme, der in diesem Verhältnis eine herausragende Stellung zukommt, ist es doch die besondere Ekstatik der ausgebildeten Gesangsstimme sowie ihr energetisches Wirkpotential, die auch über die räumliche Entfernung einen Nahraum des Hörens zu schaffen und den Zuhörer leiblich zu affizieren vermögen. Von den vielen Wegen, über Stimmen zu sprechen, ist der für diesen Zusammenhang gewinnbringendste Zugang ein phänomenologischer, für den bezeichnend ist, dass kein Ereignis unabhängig von der eigenleiblichen Erfahrung beschrieben werden kann. Nimmt man die Aufhebung der Subjekt/Objekt-Dichotomie, wie sie in der Phänomenologie formuliert wird, ernst, so heißt dies für die Wahrnehmung eines singenden Menschen in der Oper, dass ich als Zuhörer und Zuschauer eine Beziehung mit diesem Gegenüber eingehe. Stimme ist hier als Erfahrung einer Relation zwischen Produzent und Rezipient zu verstehen, in der Ko-Präsenz beziehungsweise Ko-Vibration. Zugleich – und für viele Auffassungen von Oper zuallererst – stehen Stimmen in der Oper im Dienste einer dramatischen Funktion, sind Stimmen Mittel zum Ausdruck musikdramatischer Bedeutungsschichten. Entfernen sich...