Das Theater mit dem Waldhaus
Über Christoph Marthalers Inszenierung zum 100-jährigen Jubiläum des Hotels Waldhaus Sils-Maria
von Malte Ubenauf, Stefanie Carp und Christoph Marthaler
Erschienen in: Arbeitsbuch 2014: Christoph Marthaler – Haushalts Ritual der Selbstvergessenheit (07/2014)
Malte Ubenauf: Von deinen Inszenierungen, die außerhalb der Theaterinstitutionen entstanden sind, war jene anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Grandhotels Waldhaus in Sils-Maria wohl eine der ungewöhnlichsten. Und kompliziertesten … Vielleicht, weil es sich bei diesem Ort um ein ziemlich repräsentatives Gebäude mit einer Art europäischen Kulturgeschichte handelt und dir dieses Hotel aus eher theaterfernen Zusammenhängen vertraut war?
Christoph Marthaler: Ich muss gestehen, dass ich mir wirklich zunächst sehr unsicher war mit der Entscheidung, im Hotel Waldhaus Theater zu machen. Aber der Anlass hat mich doch gereizt: 100 Jahre Hotelgeschichte dieses außergewöhnlichen Ortes im Engadin. Darüber hinaus gab (und gibt) es eine sehr persönliche Verbindung zu den Menschen, die damals das Hotel leiteten, zu Maria und Felix Dietrich sowie zu Urs Kienberger, dem Bruder des Musikers und Schauspielers Jürg Kienberger, mit dem ich ja seit vielen Jahren zusammenarbeite. Die Familie hat mich oft in ihrem Hotel aufgenommen. Ich habe dort immer sehr glückliche Zeiten abseits des Theaterbetriebs verbracht und hatte wunderbare Begegnungen mit den Mitarbeitern des Waldhauses. Insofern war es für mich persönlich ein schöner Gedanke, diesem Haus durch einen Beitrag zum Jubiläum etwas für seine Gastfreundschaft zurückgeben zu können. Zunächst habe ich gedacht, es müsste ein kleineres Projekt werden, etwas, das sich fast unscheinbar in den Hotelbetrieb integriert. Dass hierbei die Eingangshalle, in der auch das wundervolle Trio Farkaš abends für die Gäste spielt, wichtig sein würde, daran gab es für mich keinen Zweifel. Doch als wir dann noch einmal das gesamte Hotelareal besichtigten und auch Räume sahen, die hinter dem Hotel liegen, hat es uns erwischt, und wir haben uns doch für ein größeres Projekt entschieden. Eines, das sich einerseits mit der Geschichte des Hotels als Rückzugsort zahlloser internationaler Intellektueller und Künstler, andererseits aber auch mit den Widersprüchlichkeiten beschäftigen würde, auf die man stößt, wenn man Gast dieses Hauses ist. Mit Tiefgaragen und Tennishallen in einer der schönsten und abgeschiedensten Landschaften der Schweiz zum Beispiel …
Ubenauf: Hinzu kam, dass uns die Familien Dietrich und Kienberger anboten, eine ganze Zwischensaison lang in ihrem Haus zu proben.
Marthaler: Das klang natürlich gut. Die Zwischensaison im Hotel Waldhaus dauert mehrere Wochen. In dieser Zeit ist das Hotel geschlossen und die Mitarbeiter machen Urlaub. Außer ein paar Handwerkern, die nötige Reparaturen durchführen, würde niemand vor Ort sein. Mit anderen Worten: Unser Ensemble könnte mehrere Wochen allein im Grand Hotel verbringen, dort proben und gemeinsam das Jubiläumsprojekt erfinden.
Ubenauf: Eine verlockende Vorstellung für diejenigen, die an diesem Projekt mitarbeiten würden. Das war nicht ganz unwichtig, denn zunächst ging es ja darum, Mitstreiter zu finden für einen Anlass, zu dem du und ein paar weitere Mitwirkende eine unmittelbare, andere jedoch eine eher abstrakte Beziehung hatten.
Marthaler: Viele kannten das Hotel und waren selbst schon einmal dort gewesen. Und die, die es nicht kannten, hatten schon zahllose Geschichten gehört aus dem Waldhaus. Entsprechend gab es eine große Neugier auf dieses Vorhaben. Dennoch setzte die Mitarbeit im Waldhaus einen gewissen Idealismus für ein solches Projekt voraus, denn das Budget war, da es sich beim Waldhaus eben nicht um ein Theater mit entsprechenden Subventionierungen handelte, vergleichsweise klein. Andererseits handelte es sich ja aber auch um ein sehr großzügiges Angebot, denn wir alle waren ja zu hundert Prozent Gäste des Hotels.
Ubenauf: Schließlich versammelte sich dann ja auch ein großartiges Ensemble für das Waldhaus-Projekt. Und alle zusammen sind wir, nach einigen Vorbesichtigungen und Planungstagen im Vorfeld, Anfang März nach Sils gereist. Dort angekommen, musste man sich dann kurzfristig mit ein paar Umständen arrangieren, die doch anders waren, als in der Vorstellung angenommen …
Marthaler: Ende März hat es dort oben im Engadin im Allgemeinen noch Schnee. Und wenn der Schnee dann langsam weggeht, ist es für einen gewissen Zeitraum nicht so erfreulich, weil dann überall Matsch herumliegt und es noch nicht so richtig blüht. Aber das ist jedes Jahr anders. Diesmal wollte der Schnee überhaupt nicht weggehen. Es blieb einfach Winter, bei ziemlich großer Kälte. Im Ort Sils-Maria hat zu diesem Zeitpunkt auch nur eine einzige Kneipe geöffnet, und überall ist tote Hose, sogar in St. Moritz und den umliegenden Dörfern. Da entsteht dann eine gewisse Einsamkeit in einem Hotel, das überdies auch noch sehr umfangreich umgebaut wurde. Weil eine komplett neue Küche eingerichtet werden sollte, war nur ein Trakt des Hauses für uns geöffnet und beheizt. Natürlich hatte auch das Schwimmbad geschlossen, auf das sich manche gefreut hatten, und aufgrund der Witterungsbedingungen konnte man keine größeren Ausflüge machen. Es entstand für eine gewisse Weile ein bisschen ein Gefühl von Isolation, das allerdings unser Projekt auch produktiv beeinflusst hat. Wir haben dann vor Ort einfach sehr viel probiert, mangels Alternativen – das hatten wir uns im Vorfeld vielleicht ein wenig anders ausgemalt … Dennoch war es etwas sehr Besonderes, in diesem leeren Hotel zu arbeiten und zu leben. Und manchmal gab es ja Zeiträume, in denen wegen Vorstellungsverpflichtungen einiger Schauspieler nur noch eine ganz kleine Gruppe von Personen vor Ort war. In diesen Momenten hatte man dann endgültig das Gefühl, Besuch von den Hotelgeistern zu bekommen.
Ubenauf: Wir entschieden uns dafür, dass es verschiedene Stationen geben würde im Verlauf der Vorstellung: einen ersten Teil in der Empfangshalle, einen weiteren im Speisesaal des Hotels, einen in der Tiefgarage und einen letzten Teil in der Tennishalle.
Stefanie Carp: Ich habe die Inszenierung ja als Zuschauer erlebt. Und für mich war der Beginn der Vorstellung zunächst einmal genau so, wie ich mir ein Hotelprojekt von Christoph im Waldhaus vorgestellt hatte: Man sitzt in diesem schönen Empfangsraum und teilt seine Zeit mit den „Bewohnern“ des Hotels, über deren Köpfe hinweg man hinaussehen konnte in die winterliche Landschaft.
Marthaler: Mit diesem Blick aus den Fenstern der Empfangshalle wurde ja auch gespielt. Draußen in der Natur saß eine als Jäger verkleidete Person auf einem Hochsitz. Als man schon nicht mehr damit rechnete, schoss sie plötzlich mit ihrem Gewehr um sich, traf (so hörte es sich zumindest an) auch eine Glasscheibe der Empfangshalle und beendete auf diese Weise abrupt den ersten Teil der Inszenierung.
Carp: Der Verlauf des Abends war sehr imponierend. Zunächst kamen in der Empfangshalle verschiedene „Bewohner“ des Hotels aus verschiedenen Zeiten der 100-jährigen Geschichte zu Wort. Sie erzählten Geschichten …
Marthaler: … zum Beispiel Olivia Grigolli, die Dieter Roths Text „Das Mastkalb“ vortrug und anschließend ohne zu zögern behauptete: „Von mir!“
Carp: … sangen allein und gemeinsam, begleitet vom Trio Farkaš und Jan Czajkowski sowie Bendix Dethleffsen am Klavier. Man hatte das Gefühl, einen Nachmittag mit einer Gruppe von Dauergästen des Hotels zu verbringen, die sich mit dem Verlauf von Zeit an einem solchen Ort auseinandersetzten. Das einzig Jubiläumshafte daran war in meiner Erinnerung der Moment, in dem Ueli Jäggi das Johannes-Heesters-Lied „Ich werde hundert Jahre alt“ anstimmte …
Marthaler: Dieses Lied wurde ja den ganzen Abend über auch in den Toiletten des Hotels eingespielt. Eine wirkliche Zumutung, wenn man es in Dauerschleife anzuhören gezwungen ist …
Carp: Anschließend gab es ein Menü für die Zuschauer im Speisesaal. Und während man dort zusammen aß, sangen Rosemary Hardy und Christoph Homberger von Zeit zu Zeit Lieder aus einer hoch gelegenen Fensteröffnung. Als man dann vom Speisesaal zurückkam, hatte sich die Empfangshalle vollkommen verändert. Auf einmal sah sie so aus, wie ihr sie zu Beginn der Zwischensaison vorgefunden hattet.
Ubenauf: Die Bühnenbildnerin Frieda Schneider hatte, gemeinsam mit ihren Mitarbeitern, während des Abendessens im Speisesaal die gesamte Empfangshalle sowie alle dorthin führenden Flure in einen provisorischen Zustand versetzt. Die Möbel waren zusammengeschoben und mit Tüchern bedeckt. Auf dem Boden lag Malerpapier. Alles schien auf einmal ziemlich unwirtlich. Aus einem der Räume waren die Geräusche eines Presslufthammers zu hören …
Marthaler: Hier spielten plötzlich Eindrücke eine Rolle, die man als Hotelbesucher niemals mitbekommt, weil sie verborgen bleiben sollen. Die Momente des Umbaus, die Betriebspause, die Abwesenheit des Hotelpersonals. Es ist ja so, dass viele Mitarbeiter des Hotels als Saisonkräfte tätig sind, so zum Beispiel auch die Mitglieder des Trios Farkaš. Weil wir so gerne mit ihnen arbeiten wollten, rückten sie für unser Projekt etwas früher in Sils an als üblich. Deshalb mussten sie zum Ende der Saison früher aufhören, da die Saisonniers aus dem Ausland einfach nur eine bestimmte Zeit in der Schweiz arbeiten dürfen. Jurai Farkaš, der leider nicht mehr lebt, kam aus Bratislava, der Geiger Robert Cibula auch, und Eugen Bitto (Cello und Bass!) eigentlich auch, nur dass der irgendwann im Hotel eine Luxemburgerin kennenlernte, diese heiratete und seitdem dort wohnt.
Ubenauf: Die Zuschauer wanderten dann durch dieses menschenleere Zwischensaisonbild aus dem Hotel hinaus und betraten anschließend die Tiefgarage.
Carp: Das war ein Gefühl, als würde man die geheime Unterwelt des Hotels betreten. marthaler: Unterwelt ist eine schöne Beschreibung. Dort, in der Tiefgarage und anschließend in der Tennishalle, fand dann ein ziemlich spezielles Theater statt, das mit Hotel eigentlich nicht mehr viel zu tun hatte.
Ubenauf: Ein wenig wirkte es so, als stieße man hier auf ungebetene Eindringlinge, die sich im unterirdischen Labyrinth des Hotels eingefunden hatten. Es waren zwar die gleichen Figuren wie zu Beginn des Abends in den repräsentativen Räumen des Hotels, aber sie wirkten deutlich verändert. In der Tiefgarage saß eine Gruppe von Schauspielern in einem VW-Bus und sang dort Teile aus den „Quattro pezzi sacri“ von Giuseppe Verdi. Andere Figuren saßen vereinzelt in irgendwelchen Ecken der Garage, führten Selbstgespräche oder spielten auf altertümlichen Elektroorgeln. Eine ziemlich zersplitterte, fast unangenehme Szenerie, die man als Zuschauer erlebte, bevor man in der Tennishalle auf einer eigens eingerichteten Tribüne Platz nahm. Als alle saßen, begann der letzte Teil von „Das Theater mit dem Waldhaus“ mit einer Art stummer, nur von Klavierklängen begleiteter Vorstellungsrunde, bei der jeder Schauspieler einzeln vor das Publikum trat. Anschließend entwickelten sich Szenen zwischen den Figuren, die wie ständige Gewichtsverlagerungen im Raum wirkten. Ziemlich fragile Situationen, Annäherungen, Vereinzelungen. Es ging um einen speziellen Umgang mit Medizin- und Tennisbällen, Versammlungen auf Turnbänken, Versteckversuche hinter großen Hallennetzen, Gleichgewichtsübungen. Manchmal erschien das Ganze auch etwas verzweifelt, zum Beispiel in dem Moment, in welchem Josef Ostendorf erfolglos versuchte, einen Tennisaufschlag über das Netz zu bekommen. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, was zu einer Art Wutkrampf führte und dem – glaube ich – einzigen Textausbruch in diesem Teil der Inszenierung.
Carp: Das war eine wirklich schöne und starke Choreografie. Nie hat man sich gefragt, wer diese Menschen sind. Es ging einfach um Möglichkeiten von Anwesenheit in diesem speziellen Raum. Ein bisschen wie bei einer Kinderbande. Dadurch, dass am Ende des Teils in der Tennishalle dieses imaginäre Feuerwerk abbrannte, von Graham F. Valentine und den anderen Ensemblemitgliedern durch selbstproduzierte Geräusche und den Sound der Tennisbälle hervorgebracht, gab es dann auch noch einen Bogen zum Jubiläum des Hotels. Zumindest hat man als Zuschauer diese Verbindung hergestellt, denn eigentlich wurde in diesem Moment einfach nur irgendetwas gefeiert.
Marthaler: Vielleicht die Rückkehr in das normale Hotelleben und die Erleichterung, vom Spuk der vergangenen Stunden befreit zu sein. Es war ein bisschen wie der Übergang von einem Traum in den anderen. Denn als nach dem Ende der Vorstellung die Zuschauer zurück ins Hotel gingen, war wieder alles so, wie es immer ist im Waldhaus. Die Zuschauer trafen dann einige der Schauspieler, die eben noch in der Tennishalle gespielt hatten, in der Bar und der Empfangshalle des Hotels wieder, diesmal tätig als Alleinunterhalter für die Gäste des Hotels.
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Das Theater mit dem Waldhaus
Mit Claudia Carigiet, Raphael Clamer, Jan Czajkowski, Bendix Dethleffsen, Olivia Grigolli, Rosemary Hardy, Christoph Homberger, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Josef Ostendorf, Sasha Rau, Nicolas Rosat, Bettina Stucky, Graham F. Valentine, Trio Farkaš – Regie Christoph Marthaler – Bühne Frieda Schneider – Kostüme Sarah Schittek – Mitarbeit Bühne Isabel Robson, Madlaina Fontana – Musikalische Leitung und Arrangements Christoph Homberger, Jan Czajkowski, Bendix Dethleffsen – Licht Ursula Degen – Ton Fritz Rickenbacher – Dramaturgie Malte Ubenauf – Technik Peter Affentranger – Maske Christian Schilling – Produktionsleitung Josephine Lischer – Produktion Waldhaus Sils-Maria – Premiere am 11. Juni 2008 im Hotel Waldhaus Sils-Maria.