Die 1960er und 1970er Jahre
Engagement und politisches Theatermachen
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Kulturgeschichtlich bedeutsamer aber war, dass dem Theater gerade Humanisierung, Solidarität mit den Unterdrückten und Rechte der Persönlichkeit, anders gefasst die kritische Verhandlung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse und deren Wirkung auf das/für das Individuum ein Hauptanliegen wurde, dass es auf breiter Front avancierte Kunst politisch machte. Nach Stalins Tod, mit Unruhen und Streiks in Polen 1955/56 und dem Aufstand in Ungarn 1956 öffneten sich in den europäischen Teilen der Länder des Realsozialismus Freiräume für Ansätze wie sie Grotowskis frühe Experimente in Polen ermöglicht hatten. Die Versuche um neuartige Theaterformen korrespondierten bald mit Versuchen, das sowjetische Planwirtschaftsmodell und in der Tendenz das starre, repressive Gesellschaftssystem zu reformieren. Ihr weitestgehender, sichtbarster Ausdruck waren die 1968 durch die Invasion der Sowjetunion abgebrochenen wesentlichen Veränderungen in der Tschechoslowakei, die auf die Ausgestaltung eines demokratischen, repressionsfreien Sozialismus zielten.56 Avanciertes kritisches Theater war ein wesentlicher Faktor der Bestrebungen, intellektuelle, kulturelle Spielräume zu schaffen und die völlig verkrusteten Kunstlandschaften aufzubrechen, die im Zuge der Durchsetzung des in den 1930er Jahren gesetzten Dogmas des Sozialistischen Realismus entstanden waren. Wie sich das in den einzelnen Ländern gestaltete, kann ich hier nicht verfolgen.57 Besonders markant waren eine neuartige, gleichsam kritische Weiterführung Brechts durch Benno Besson und Heiner Müller in...