Theater der Zeit

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Auftritt

Volkstheater Rostock: Klingt irgendwie voll 90er

„Go West. Das Musical mit den Hits der frühen 90er“ von Arne Bloch – Musikalische Leitung Cindy Weinhold, Inszenierung Daniel Pfluger, Choreografie (in Zusammenarbeit mit der Tanzcompagnie) Keith Chin, Bühne Team des Volkstheater Rostock, Kostüme Andrea Eisensee, Video Sarah Scherer

von Juliane Voigt

Assoziationen: Theaterkritiken Mecklenburg-Vorpommern Volkstheater Rostock

„Go West. Das Musical mit den Hits der frühen 90er“ von Arne Bloch, Musikalische Leitung Cindy Weinhold, Inszenierung Daniel Pfluger am Volkstheater Rostock. Foto Thomas Mandt
„Go West. Das Musical mit den Hits der frühen 90er“ von Arne Bloch, Musikalische Leitung Cindy Weinhold, Inszenierung Daniel Pfluger am Volkstheater RostockFoto: Thomas Mandt

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Das nennt sich mal abgeholt. Wenn das Publikum von den Plätzen aufspringt und tanzt, haben doch alle mal was richtig gemacht. Statt Broadway eben Kapuzenhof, so lautet die Adresse der Schiffbauhalle der Neptunwerft, 1900 gebaut, 1991 mit der Schließung der Werft abgewickelt. Aber sie steht noch, die alte Lady, und ist unter anderem Sommerspielstätte des Rostocker Theaters. Musicals oder zünftigen Operetten sind hier zu sehen.

„Go West“ hat auch einen Plot, aber der ist vor allem dafür da, die Hits der frühen 90erJahre zusammen zu stricken. Die Menschen, die damals jung waren, sind heute so um die 60. Und irgendwie war es natürlich trotz der Hitparade dieser Zeit keine blühende Zukunft, in die sie damals geblickt haben. Endlich wars vorbei mit der DDR. Aber das wars denn auch mit Bezirksleitung, Überseehafen, Hochseefischerei und Schiffbau. Die Folgen waren jede Menge gebrochene Lebensläufe, zerrissene Familien, Lebenskrisen, Ängste, eine brennende Asylunterkunft. Dass Rostock heute im deutschlandweiten Ranking zu den lebenswertesten Städten im früheren Osten gehört, hätte in den 90er Jahren keiner geahnt. Fakt ist: Es war nicht leicht. Und lustig schon gar nicht. Und deshalb ist „Go West“ auch ein prima kollektiver Rückblick, bei dem am Ende mal alles glatt geht.

Glitzernd startet der Abend mit dem Song „Go West“ von den Village People (eigentlich von 1979, aber passtschon …) Personifizierte Glücksversprechen tanzen da auf der Showbühne (Regie Daniel Pfluger) herum, der Marlboro-Cowboy, eine große Chips-Packung, Waschmittel, Kaffee, Schokoriegel, Westautos, Stewardessen mit Fernreiseprospekten – endlich kann man alles kaufen! Dazu kommen Projektionen von Original-Fernsehbildern. Die Mauer fällt, Menschen reißen sich um 100-Mark Scheine, Betriebe werden geschlossen, Politiker feiern die Deutsche Einheit. Aber schon bald landet man als Zuschauer:in mittels Drehbühne unsanft in Dröggelin.

Geschrieben hat die Geschichte Arne Bloch, Dramaturg des Volkstheaters. Es spielt in einem Fantasie-Dorf in Ostseenähe, im Gasthof der Nowacks, der nicht gut läuft. Früher haben sie den Laden als HO „Roter Krug“ betrieben. Jetzt zahlen sie Kredite ab und versuchen, Feriengäste in die Geschmacklosigkeit der 80er zu locken, in der sie hängen geblieben sind. „Verlierer mit vier Buchstaben? Braucht Onkel Werner fürs Kreuzworträtsel: Na klar Ossi!“ Der einzig Brauchbare ist Sohn Torsten (Cedric von Borries) und der bekommt plötzlich in Frankfurt eine Arbeit. Seine Mutter, Renate Nowack (Katrin Heller), freut sich, das sei doch schön da an der Oder. Aber nein, Totti geht an den Main und fängt bei einer Investment-Bank an. „Na toll, wieder einer weg!“ sagt Vati (Ulf Perthel) und rauft sich speckigen Hippie-Haare. Und Mutti singt „Bye bye, my love“ von Silly, von 1993. Und die ganze Schiffbauhalle singt gleich mal mit.

Die Stimmung wird im Laufe des Abends noch anziehen. Torsten fängt zwar an bei „Wagner und Partner“, gewinnt aber auf der Stelle märchenhaft viele Freunde, mit denen er durch die Nachtclubs von Mainhatten zieht. Getanzt wird da nach Nirwana, Snap „I got the power“, oder Haddaway „What is love“. Zu Fugees „Killing me softly“ verknallt er sich in Stefanie (Klara Eham), die mit „Whats up“ von den 4 Non Blondes Szenenapplaus bekommt. Alle Songs werden natürlich live von den Schauspielern und Schauspielerinnen gesungen und von einer Theaterband begleitet. Spielerisch und gesanglich ragt dabei Özgür Platte als Matthias vom Nebenschreibtisch heraus. Er ist auch der Erste, der ein Schnurlostelefon mit sich herumträgt, eine Schuhkartongroße Monster-Technik – heute als Handy bezeichnet. Und während Torsten mit Stefanie knutscht, bekommt er nicht mit, dass sein Chef in Goldgräberstimmung gerät und längst in Dröggelin im Gasthaus sitzt und sich von seinen Eltern dubiose Anteils-Verträge unterschreiben lässt. Wie soll das noch enden, fragt man sich als die Pause beginnt.

Auch mit dem Stück an sich. Die Dialoge sind so lala, die Figuren überzeichnet, die Handlung eindimensional und voraussehbar. Wobei auch wiederum nicht, denn wie kriegen Torsten und seine neuen Freunde aus dem Westen jetzt die Unterschriften der Eltern aus den Kreditverträgen? Der schmierige Investmentbanker und sein Kompagnon (Ulrich K. Müller und Steffen Schreier) machen schon Pläne für ein Nobel-Hotel mit Restaurant und Luxus-Spa. Totti weiß nicht ein noch aus. Als endlich Rettung naht: Auftritt Der Sandmann. Als Großfigur stapft der auf die Bühne und löscht mit seinem Zauberstempel alle Unterschriften von Ossis, die West-Investoren in die Falle gegangen sind. Das Publikum singt textsicher den Abendgruß-Hit.

„Go West“ ist Unterhaltung. Natürlich. Und mehr muss es auch nicht sein. Denn erstens ist es in der Schiffbauhalle ziemlich ausverkauft und zweitens tanzt das Publikum in den Reihen und aus den Reihen heraus, als das Stück mit einem endlosen Medley aus West- und Ost-Songs der 90er Jahre nach zweieinhalb Stunden zu Ende geht. Eine Mischung aus Bühnenshow und 90er-Jahre Jukebox, unterstützt durch Statist:innen und die Rostocker Tanzcompagnie in allen grellen Kostüm-Verwirrungen der Zeit von Hängejeans bis Basketball-Jacken (Kostüme Andrea Eisensee). Mit dem Credo „Du kriegst vielleicht den Totti aus dem Osten. Aber niemals den Osten aus dem Totti, du Besserwessi.“ Klingt irgendwie voll 90er. Totti kommt mit seinen Freunden am Ende zurück. Und bringt Musik mit nach Dröggelin: Techno. „Machen wir eine Fusion!“ sagt er. So ein Festival auf dem Dorf in Mecklenburg? Verrückte Idee, aber kann man ja mal probieren.

Erschienen am 30.8.2024

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