Lehrstück und Möglichkeitsraum
Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)
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In seinen Notizen zur Poetik des Aristoteles notiert Brecht die merkwürdige Überlegung, an die Stelle der »Nachahmung«, mit dem man das aristotelische Konzept der Mimesis übersetzt hat, den Begriff einer neuzeitlichen Darstellung zu setzen, die »vorahmend« zu nennen sei. Wie immer, so bietet sich auch hier eine zu rasche Lesart von Brechts Text an: das Theater soll in der Praxis seines Zeigens die Wirklichkeit nicht einfach wiedergeben, sondern sich in solcher Weise aufs Wirkliche beziehen, daß es Modellcharakter annimmt, so Zukunft vorwegahmt, vorwegahnt, antizipiert. Man kann aber in der Notiz die weiterführenden Idee einer prinzipiellen Künftigkeit im Sinne einer Öffnung auf Zukunft manifestiert finden, die alle Abbildlichkeit und Referenz überbietet. »Vorahmung« findet, gewiß, auch für Brecht nicht anders als die Nachahmung im Jetzt statt, in der Gegenwart des Theaters. Indem aber das Darstellen konzeptionell von seiner Bindung ans Frühere gelöst – »Nach«-Ahmung – und statt dessen an Zukunft geknüpft werden soll, Vor-Ahmung als Vormachen, »Vorausmachen« in Hinsicht auf eine Zukunft, wird ein Theater denkbar, das Gegenwart als Zukunft im Sinne von Künftigkeit, Möglichkeit setzt. Nicht zufällig erinnert Vorahmung an Vor-Ahnung. Nicht aber geht es um ein didaktisches Modell des Künftigen, Antizipation einer künftigen, nur eben jetzt noch nicht wirklichen...