Theater der Zeit

Thema

Französisch, unter anderem

In Zeiten des aufbrausenden Patriotismus fordert die Compagnie Du Zieu mit ihrer Trilogie „Spectres de l’Europe“ das Unerhörte: sich endlich aus dem Klammergriff der eigenen Identität zu lösen

von Lena Schneider

Erschienen in: Theater der Zeit: Am Nullpunkt – Alain Badiou, Philippe Quesne, Joël Pommerat, Du Zieu (01/2016)

Assoziationen: Europa Akteure

Tun wir einen Moment lang so, als hätten wir Zeit. Als habe es den 13. November 2015 nicht gegeben, der rechtsextreme Front National danach nicht die Regionalwahlen in Frankreich dominiert. Folgen wir Peter Handke, der in „Über die Dörfer“ schrieb: „Hab Zeit und nimm Umwege.“ Erlauben wir uns einen Umweg, über die französischen Dörfer.

Spätsommer in Amboise, Region Centre – Val de Loire. Das Feriendorf „Die Veilchen“. Dauerregen. Es gehört zum Luxus dieses Ortes, dass man sich nicht wegbewegen muss. Die Kinder werden betreut, gegessen wird in der Kantine, und manchmal kommen Künstler vorbei und sorgen für Kultur. Heute auf dem Programm: „Othello. Variation für drei Schauspieler“ von Du Zieu, Paris. Die Leute kommen vom Waldspaziergang zurück oder vom Buffet, eine kleine Horde Kinder klebt an einem Betreuer. Wenig später sitzen sie, ohne Betreuer, im Saal in der ersten Reihe, die sonnenbraunen Füße in Badelatschen. Einige ohne Eltern. Das Stück ist ab 14. Ob die Vier- bis Zehnjährigen wirklich bleiben wollen, fragt die Schauspielerin Mitsou Doudeau. Sie wollen. Sie bleiben. Später schwirrt ihnen der Kopf von den Ausführungen zur Funktionsweise des Kapitalismus. Das goldene Lametta, das Jago verschießt, fisteln sie in die zu engen Hosentaschen. Desdemonas Seidentuch auch, beinahe. Jago...

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