Theater der Zeit

Neue Mexikanische Dramatik zwischen Tradition und Gegenwart

von Heidrun Adler

Erschienen in: Dialog 5: Eine unendliche Reise – Neue Theaterstücke aus Mexiko (01/2004)

Assoziationen: Nordamerika Dramatik

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„Eine unendliche Reise. Neue Theaterstücke aus Mexiko“ ist die achte von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e. V. herausgegebene Anthologie zum zeitgenössischen Theater in Lateinamerika. Anlässlich des "Mexiko"-Schwerpunktes der Frankfurter Buchmesse erschien 1993 ein erster Anthologieband zum mexikanischen Theater (1), der jene Autorengeneration vorstellte, die inzwischen zu den Klassikern der Moderne des Mexikanischen Theaters zählt (Emilio Carballido, Carlos Fuentes, Elena Garro u. a.) sowie die Autorinnen und Autoren der so genannten "neuen mexikanischen Dramaturgie" (Jesús González Dávila, Víctor Hugo Rascón Banda, Sabina Berman). Von der Zeit der Studentenunruhen der 60er-Jahre geprägt, prangert ihr dokumentarischer Realismus oder auch sozialkritischer "Hyperrealismus" Gewalttätigkeit, Korruption und das Elend der unkontrollierbar wachsenden Stadt Mexiko an.

Sahen sich diese Dramatiker in ihrem Theaterverständnis und ihrem politischen Engagement durchaus als Gruppe oder Generation, so grenzen sich die Autorinnen und Autoren, die in den vergangenen zehn Jahren ihre Stücke vorgestellt haben, entschieden gegen jegliche Zuordnung ab und betonen ihren eigenen, unabhängigen Stil. Sie misstrauen Institutionen und Ideologien, polemisieren gegen die offizielle nationale Geschichtsschreibung und parodieren mit Witz und Ironie die historischen, politischen und gesellschaftlichen Traditionen ihres Landes. Dem sozial engagierten, auf Veränderung der Verhältnisse durch Kritik, Aufklärung und Anklage zielenden Realismus ihrer Vorgänger der 70er- / 80er-Jahre und dem Einfluss der "großen Lehrer", die das moderne mexikanische Theater geprägt haben, setzen diese Autoren ihren postmodernen Skeptizismus entgegen. Wie in der lateinamerikanischen Theaterszene vielerorts üblich, sind sie häufig zugleich auch Regisseure oder Schauspieler.

Heute stößt man in Mexiko auf eine urbane, postmoderne Dramatik, die sich sowohl inhaltlich mit den Auswirkungen der Globalisierung auseinandersetzt als auch in ihren narrativen Strukturen diese unmittelbar manifestiert. Die massive Migration in die Städte und die wachsende Weltvernetzung durch die "Neuen Medien" führen in den Ballungszentren zu einer multitemporären Heterogenität und räumlichen Gleichzeitigkeit verschiedener Entwicklungsetappen und dadurch zu einem aggressiven, in Kriminalität, Korruption oder Terrorismus ausufernden Konfliktpotenzial, das sich jeder sozialen Kontrolle entzieht. In der Megametropole Mexiko-City finden interkulturelle Austauschprozesse statt, die für die neue mexikanische Theaterliteratur geradezu konstitutiv geworden sind. Auf sprachlicher, körperlicher und struktureller Ebene thematisieren die jungen mexikanischen Dramatiker das Dilemma einer zentral globalisierten, aber nur peripher modernisierten Realität. Dabei schöpfen die Autoren aus dem Fundus einer neuen kollektiven Vorstellungswelt, die durch Hybridisierung von mexikanischer Volkskultur einerseits und globaler Bilderflut, die die Bevölkerung durch Fernsehen und Neue Medien erreicht, andererseits entstanden ist und die traditionellen mexikanischen Bilderwelten abgelöst hat. Darüber hinaus ist im Norden des Landes, an der Grenze zu den USA, seit Mitte der 90er-Jahre

eine Theaterbewegung entstanden, die mittlerweile einen künstlerischen Gegenpol zum Epizentrum Mexiko-City bildet. Aus dieser konfliktreichen Zone zwischen den Kulturen stammt eine Dramatik mit Endzeitstimmung, die regionale Eigenheiten spiegelt, ohne in Lokalkolorit zu verfallen.


Die zehn Theaterstücke dieser Anthologie stehen stellvertretend für die wesentlichen Formen und Stoffe heute in Mexiko geschriebener und aufgeführter Dramatik. Dabei ist zu beobachten, dass sich das Handeln der Figuren nicht mehr an Kausalität und Identität rückbinden lässt. Wo spiegeln sich nun Realität und Darstellung in der Unterschiedlichkeit des Sprechens, der ironischen Auseinandersetzung mit sich selbst über das theatrale Schaffen? "Uns, die derzeitige Generation, identifiziert die Pluralität, die Vielzahl an Sprachen, Realitäten und Techniken, die Einheit verschiedener Zeiten und Räume, die Fragmentierung, die Suche nach Identität und Intimität und eine andere historische Sicht unseres Landes: Metaphysik und Metatheater vereinen sich mit Sozialkritik und der Suche nach neuen Formen. Alles in einem Mexiko der Krise ohne gegenwärtige Utopien." So kennzeichnet David Olguín, einer der hier versammelten zehn Autoren und Herausgeber der Theaterreihe Edición Milagros die Ausgangslage der zeitgenössischen mexikanischen Dramatik.

Alejandro Román gehört zu der jungen Underground-Generation Mexikos. Die von Gewalt geprägten Figuren seiner düster, grob, obszön und dennoch poetisch wirkenden Stücke agieren in (ab-)geschlossenen Räumen. Diese scheinbar schützenden Territorien sind aber sowohl durch eine chaotische Außenwelt als auch durch ein inneres Konfliktpotenzial bedroht. Berta Hiriart, die mit Theaterstücken für Kinder begann, setzt sich mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinander und zeigt, was aus den Idealen einer so genannten Aussteigergeneration wurde. Ihre Handlung führt die persönlichen, psychologischen, politischen und wirtschaftlichen Abstürze einer Elterngeneration vor, die unter dem Zeichen der Befreiung angetreten war. Humberto Leyva versetzt seine ganz "normalen" Beziehungen in ein kompliziertes Zusammenspiel von Vorstellung und Realität, Projektionen und Rollenvorgaben und lässt sie mit Sehnsüchten und Träumen auf verschiedenen Zeitebenen konvergieren. Luis Mario Moncada setzt sich betont leger über die Grenzen von Zeit und Raum und der Konvention hinweg. Videospiele, Talkshows, Fernsehrealität und die Mythen der Massenkultur spiegeln ein von Klischees fragmentiertes Leben. Moncada, auch als Vorläufer eines virtuellen Theaters bezeichnet, holt die ideologischen Ikonen seiner Zeit auf die Erde, in die Gesellschaft von Pop-Stars und Supersportlern. Cutberto López aus dem Norden Mexikos verwendet in seinen kurzen, konzentrierten, fast spröden Texten Mythen und Legenden und seine Figuren zeigen sich als Wesen, die sich aufspalten und verwandeln, verschiedene Sphären besetzen und mehrere Personen verkörpern. Es gibt kaum eine lineare Erzählung; kurze Szenen folgen einander wie Assoziationen. Simultan erzählte Augenblicke derselben Geschichte lassen den Raum verschwinden und der Subtext entfaltet sich im Spiel der Symbole. David Olguín unternimmt den Versuch, Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Aktualität, Konvention und Bruch zu vereinen. "Heute und Jetzt reichen nicht aus, um die condition humaine zu beschreiben.", so der Autor. "Wir sind aus Zeit gemacht, und die Zeit der dramatischen Handlung ist die Gegenwart, aber das Bewusstsein ist zeitlos. Das Drama kann in der Unmittelbarkeit stecken, aber ebenso an die Ewigkeit erinnern." Seine Stücke greifen in ihrer Grundkonstellation daher mythische Strukturen und Motive auf: Abstieg in die Unterwelt, Wiederholung des Geschicks, zirkulär verlaufende Zeit, Identitätswechsel, Betrug und Repräsentation und die Allgegenwart des Todes. Ximena Escalante greift auf klassische Theaterstoffe zurück, um auf sehr poetische Weise deren Archetypen in "anderen Gegenwarten" neu zu kontextualisieren. Dabei steht stets die Rolle der Frau im Brennpunkt ihres Interesses. Reale und imaginäre wie historische und mythische Zeit spiegeln sich in den Figuren. Mythos und Gegenwart können so zueinander in Beziehung treten, sich berühren oder ineinander fließen. Ihre Arbeiten zeigen, wie die menschliche Erfahrung, von der die Mythen erzählen, in jeder Zeit durch ideologische, religiöse und moralische Konstrukte beeinflusst wird. Jaime Chabaud, Initiator der Theaterzeitschrift Paso de Gato, begann mit Farcen zu Alltagsthemen und verortet seine Geschichten vor historischen oder tagespolitischen Hintergründen. Doch die in den Arbeiten dargestellte Welt verschiebt die realen Raum/Zeit-Strukturen. Es zeigt sich eine eigene theatrale Welt, die eher Grauzonen und Schwellenbereiche auszuloten versucht. Diese ambivalenten Spiel-Räume der Träume, Halluzinationen und des Wahnsinns unterliegen einer straffen Form. Die Autorin und Regisseurin Estela Leñero - in dezidierter Abgrenzung vom Dokurealismus ihres Vaters Vicente Leñero - experimentiert mit geschlossenen Räumen, in denen sich unbekannte Figuren begegnen und ihren Obsessionen ausgeliefert sind. Sabina Berman ist die vielseitigste unter den Dramatikerinnen, die als Regisseurin nahezu aller ihrer Stücke mit scharfem Humor die normativen Vorstellungen von Mann und Frau karikiert, und die persönlichen und politischen Machtspiele bloßlegt, die sie motivieren; ob es sich um erfundene Figuren oder nationale Heroen, korrupte Präsidenten oder Götter der Kulturgeschichte handelt. Realität ist in ihren Stücken das, was man nicht erinnert, was im Augenblick entsteht und sofort wieder vergeht. Spielmaterial der theatralischen Zeit. Nur die Verletzungen bleiben, als Tattoos auf der Haut, als Narben auf der Seele.

Die Gegenwart ist die Grundlage des Dramas, dennoch ist das Theater die Kunst, die in höchstem Maße die Tradition wahrt. Dramatische Formen, literarische oder volkstümliche Sprache, archetypische Situationen appellieren an das Gedächtnis der Theaterliteratur und an die condition humaine. Und so sehr die mexikanischen Theaterautoren heute ihre Unabhängigkeit von vorangegangenen Generationen betonen, so sehr sie sich als Einzelgänger gerieren, so fest stehen sie in der Tradition ihres Landes. Was sie für die Bühne schreiben, ist das Ergebnis einer Abrechnung zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

Heidrun Adler

 

(1) Theaterstücke aus Mexiko, hrsg. von H. Adler/V. H. Rascón Banda. Berlin/St. Gallen/São Paulo 1993. Begleitend dazu erschien Materialien zum mexikanischen Theater, hrsg. v. Adler/Nigro, K. Berlin/St. Gallen/São Paulo 1994, mit einem ausführlichen Überblick zur Geschichte des mexikanischen Theaters und Analysen der in der Anthologie gesammelten Stücke. Einen weiteren ausführlichen Aufsatz zum Theater in Mexiko findet man in: Adler/ Schmidhuber de Mora, K.: "Theater in Mexiko", in: Theater in Lateinamerika. Ein Handbuch, hrsg. v. Adler. Berlin 1991, S. 159 - 176. In dem von Carola Dürr koordinierten Mexiko-Schwerpunkt der Zeitschrift Theater der Zeit von September 2004 finden sich zahlreiche Beiträge zur mexikanischen Gegenwartsdramatik und Theaterstruktur. In spanischer Sprache erscheint zeitgleich Un viaje sin fin: teatro mexicano, hrsg. Adler/Chabaud, J., Madrid, Iberoamericana 2004. Schon vor Erscheinen der vorliegenden Anthologie wurden zwei der Stücke in Deutschland vorgestellt: Im Rahmen von MexArtes-Berlin 2002 arrangierte die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine szenische Lesung des Stücks "Die Jahre nach John Lennons Tod" von Berta Hiriart. Anfang Dezember 2003 wurde Luis Mario Moncadas "Superhelden des Global Village" im Rahmen von "drame - eine Reihe szenischer Lesungen" im Studio des Maxim-Gorki-Theaters gelesen.

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