Theater der Zeit

International

Völlerei und Maßlosigkeit. Das tschechische Märchen vom Kleinen Otik (Otesánek)

von Zuzana Vojtíšková

Erschienen in: ixypsilonzett: Märchen (10/2022)

Assoziationen: Europa Kinder- & Jugendtheater

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In vielen Ländern machen die klassischen Märchen den größten Teil des Kindertheaterrepertoires aus. Die Inszenierungen reichen von der ehrfürchtigen Nacherzählung einer traditionellen Geschichte bis hin zu verschiedenen Interpretationen und Anpassungen im Zusammenhang mit aktuellen Trends. Klassische Märchen können nicht als in sich geschlossenes, unveränderliches Material betrachtet werden, sondern sind Stoffe, die sich über Jahrhunderte hinweg gebildet haben. Es ist weder möglich noch realistisch, ihre weitere kreative Entwicklung zu unterbinden oder aufzuhalten.

Oft gibt es mehrere Versionen ein und derselben Geschichte. Sie unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf Zeit, Entstehungsort und sprachliche Nuancen, sondern auch in Bezug auf die Varianten der Handlung. All dies veranlasst Autor*innen zu unterschiedlichen Interpretationen. Das in Tschechien beliebte Volksmärchen vom Kleinen Otik (Otesánek) zeigt, wie unterschiedlich die Interpretationen desselben Stoffes sein können. Es wurde erstmals 1865 von dem Sammler K. J. Erben veröffentlicht.

Die Geschichte, die jedes Kind in dieser Region kennt, beginnt mit der Notlage eines armen, kinderlosen Paares. Ein Mann und eine Frau hätten gerne ein Kind, aber die Leute sagen ihnen: „Seid froh, dass der Herr euch keins gegeben hat, [...] ihr habt ja selbst nichts zu essen!“ Eines Morgens gräbt der Mann bei der Arbeit einen Baumstumpf aus, der Ähnlichkeit mit einem menschlichen Neugeborenen hat – und nur noch mit einem Beil ein wenig geformt werden muss. Die Frau nimmt ihn in den Arm und singt ihm ein Schlaflied, woraufhin der Baumstumpf anfängt, sich zu bewegen und zu schreien, dass er hungrig sei. Die glückliche Mutter gibt ihm, was sie hat. Aber es ist nicht genug für den Baumstumpf, der fortan Otik genannt wird, also isst er seine Eltern und macht sich auf den Weg ins Dorf. Je mehr er isst, desto mehr wächst sein Appetit. Nach und nach verschlingt er ein Mädchen mit einer Schubkarre, einen Bauern und seine Pferde, einen Hirten und sein Schwein, einen Schäfer und seine Schafherde und Kohlköpfe auf dem Feld. Dort endet seine Reise, denn eine rüstige Großmutter „[...] schlug Otik mit einer Hacke in den Bauch und riss ihm den Leib auf. Otik fiel zu Boden – er war tot.“ Alle seine Opfer springen nacheinander heraus, und „der Mann und die Frau sagten nie wieder: ‚Wir wünschten, wir hätten ein Baby!‘“

Die Geschichte von Otik, die in Tschechien als nationales Märchen betrachtet wird, findet sich auch in anderen Kulturen mit geringfügigen Abweichungen wieder. Im russischen Märchen Глиняный парень wird der Junge aus Lehm erschaffen, in der isländischen Sagan af Gýpu ist die Gefräßige die eigene Tochter des Mannes und der Frau und kein künstliches Geschöpf, und im ungarischen Märchen A kis gömböc werden zahlreiche Menschen und Rinder von einem gefüllten Schweinemagen verschlungen.

Was sind mögliche Deutungen dieses Märchens? Auf den ersten Blick scheint es keine besonders komplexe Erzählung zu sein. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, wie inspirierend sie für Theaterschaffende sein kann:

An erster Stelle steht das Thema der Völlerei und die Darstellung, zu welch schrecklichen Folgen mangelnde Zurückhaltung führen kann. Es ließe sich andererseits auch das unausweichliche Schicksal künstlich geschaffener menschlicher Wesen hervorheben. Viele Psycholog*innen gehen davon aus, dass ein Märchen eine Materialisierung unserer eigenen Schreckensvorstellungen darstellt, die wir nicht klar benennen wollen oder können. Eine Mutter kann Angst haben, dass das Kind sie „verschlingt“, ihr das Leben (die Freiheit) nimmt. Oder sie hat Angst, dass sie nicht in der Lage sein wird, das Kind zu versorgen. Ein Kind kann sich unbewusst vor Völlerei jeglicher Art fürchten. Jede dieser Deutungen beschreiben „das Bild einer mentalen Kraft, die unkontrolliert alles und jeden zu verschlucken und zu verschlingen droht“.1 Andere Interpretationen rücken in den Fokus, dass die Eltern die Natur übergehen und um jeden Preis ein Kind bekommen wollen. Otik kann auch eine Warnung sein, dass ein unausgereifter Wunsch und dessen Erfüllung mehr Sorgen als Freude bringt.

Der Regisseur Jan Švankmajer, Schöpfer des surrealistischen Horrorfilms Little Otik aus dem Jahr 2000, behauptet, dass „[…] Otik die Repräsentation von etwas ist, das über uns, über das Menschliche hinausgeht; etwas, das die Grenzen der Zivilisation nicht kennt; etwas Ursprüngliches (vielleicht wie die alchemistische prima materia); etwas, mit dem wir nicht kommunizieren können, weil unsere Wahrnehmung korrumpiert und unsere Empfindungen durch die Zivilisation unterdrückt sind; etwas, mit dem kein Dialog möglich ist und das dadurch zu einer Bedrohung für uns wird.“2 In Little Otik können äußere Bedrohungen konkrete Gestalt annehmen. Sie erscheinen als etwas, das uns über den Kopf wachsen kann, wie z. B. Konsumverhalten, das mit Verschuldung einhergeht; die Wahl eines populistischen Politikers und das darauffolgende Chaos; oder eine globale Tragödie und der Zusammenbruch von Werten.

Entsprechend wird das Märchen vom Kleinen Otik auf dem Theater ganz unterschiedlich interpretiert. Als Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten und Hintergründen lesen wir uns in Themen unterschiedlich ein, wir reflektieren sie durch das Prisma unserer Weltanschauung und unseres Wissens, und wir machen individuelle Erfahrungen in ihrer der Interpretation. Diese Erfahrungen können wir dann durch eine Theateraufführung mit anderen teilen. Das heißt nicht, dass unsere Interpretation auch beim Publikum ankommen muss. Aber das ist unter anderem der Zweck des Theaters: Es stimuliert und ermöglicht dem Publikum neue Erfahrungen. Es ermöglicht andere Perspektiven auf bekannte Ereignisse und Phänomene.

Verschiedene Produktionen tschechischer Autor*innen zeigen eine Reihe völlig unterschiedlicher Herangehensweisen an ein und dieselbe Geschichte. Das Theater „b“ präsentierte eine Geschichte namens iOtesánek, die sich mit künstlicher Intelligenz und ihrer Entwicklung auseinandersetzt. Die Allgegenwart von Technologien wird hier mit dem Thema des menschlichen Missverständnisses verbunden: mit der Unfähigkeit, die anderen zu hören und tatsächlich wahrzunehmen. Studierende der Prager DAMU, des heutigen Tmel-Ensembles, gingen noch einen Schritt weiter: Sie konfrontierten das Publikum von O jako Otesánek mit dem Thema der Ausbreitung der Zivilisation, gefolgt von einer ökologischen Katastrophe. Das Thema der Inszenierung wurde durch ein Bühnenbild aus Elektroschrott ergänzt.

Die Künstler*innen des Studio Damúza wählten in ihrer Inszenierung Otestánek den Teig als Hauptallegorie. Die Inszenierung beschäftigt sich mit dem Thema der Eltern, die sich für ihr Kind aufgeben, sich buchstäblich in Stücke schneiden. Die Schauspieler*innen buken das Brot direkt auf der Bühne – eine Personifizierung der Völlerei.

Das Team des Alfa Theaters in Pilsen hat sich dem Märchen auf eine ganz andere Weise genähert: Anstelle des Bauern und des Mädchens verschlingt der dortige Otik das gesamte Theater, d. h. das gesamte anwesende Kinderpublikum. Das Publikum verfolgt also die Geschichte direkt aus Otiks Bauch heraus.

Bislang sind Theaterschaffende offenbar eher fasziniert von der Abgründigkeit, der konkreten Unersättlichkeit und Gier der Figur, als von der Bedrohung ihrer möglichen Ausdehnung: Die Bühnenbildner*innen der genannten Inszenierungen waren vor allem damit beschäftigt, die Form von Otiks Bauch clever darzustellen, damit möglichst viele Speisen, Figuren und Gegenstände darin verschwinden können. Die Ausdehnung der unersättlichen Kreatur vor den Augen des Publikums wurde für sie zu einem zweitrangigen Problem, das sie in der Regel dadurch lösten, dass sie eine Marionette einfach durch eine identische, größere Version ersetzten.

Die jüngsten Theateradaptionen des Volksmärchens vom Kleinen Otik verbindet, dass sie den Kampf gegen den übermäßigen Konsum als eine relevante Herausforderung für die heutige Gesellschaft darstellen. Vielleicht ist es nun an der Zeit, auch anders über Otik nachzudenken, ihn als Metapher zu begreifen für das Schlechte, Unmoralische oder Böse in der Welt. Otik verkörpert agressive Trends, intolerante Meinungen. Er erscheint als etwas, das aus gutem Willen heraus geboren wurde, aber sich dann zu etwas Grausamen und Gefährlichen verkehrt hat. Otik ließe sich so verstehen als das sich schnell und unaufhaltsam ausbreitende Monster, das uns alle verschlingt …

1 Radomil Hradil: Klíck pohádkám: Jak porozumet pohádkám a jejich obrazum. Hranice: Fabula 2016, S. 154.
2 Jan Švankmajer: Síla imaginace. Praha: Mladá fronta 2001, S. 199.

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