Bericht
Durst
Internationale Theaterfestivals zur Corona-Zeit
Insbesondere der internationale Tourneebetrieb ist von den Auswirkungen der Corona-Pandemie nachhaltig betroffen. Double-Redakteur Tim Sandweg, selbst Festivalleiter, vereint in seinem Artikel persönliche Gedanken und Eindrücke, Unsicherheiten und Fragen aus sechs Monaten Planungsarbeit im Zeichen von COVID-19.
von Tim Sandweg
Erschienen in: double 42: Kultur erben – Generationenwechsel im Theater der Dinge (11/2020)
Assoziationen: Hamburg Niedersachsen Berlin Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken Kampnagel Staatstheater Braunschweig
Im Lockdown
Es gab entspanntere Jahre im Dasein als Festivalleiter. Man fährt durch die Gegend, schaut sich Vorstellungen an, spricht mit Künstler*innen, denkt selbst über eine Konzeption nach und erstellt ein Programm. Damit war ich auch Mitte März beschäftigt. Eigentlich wollte ich nach Strasbourg zum Festival „Les Giboulées“ und zum Figurentheaterfestival Aarau. Es kam dann anders. Erst wurde die Region Grand Est zum Risikogebiet, dann gingen die Theater in den Lockdown, dann wurden die Grenzen geschlossen. Festivals wurden der Reihe nach abgesagt, in den Herbst oder gleich ins nächste Jahr verschoben, darunter die FIDENA in Bochum, Blickwechsel in Magdeburg, die Figura in Baden, Scènes Ouvertes in Paris.
Gleichzeitig regte sich so etwas wie Widerstand von Festivals, die alternative Formen suchten, um trotz des Lockdowns und der Reiseverbote stattzufinden. Eines der ersten war „Hauptsache frei“, der Showcase der freien Szene in Hamburg, der bereits Ende März digital veranstaltet wurde. Hier wurden statt der Vorstellungen kurzfristig Gespräche mit den eingeladenen Künstler*innen, Zoom-Performances und Videos gezeigt. Weitere Festivals folgten und verlegten ihr Programm in den digitalen Raum: Das Theatertreffen in Berlin streamte eingeladene Inszenierungen und begleitete diese mit Diskussionen um Virtualität und Theater. Die Wiener Festwochen luden die eingeladenen Künstler*innen zu digitalen Gesten in Form von Texten, Videos oder Fotografien ein. Das Impulse Theater Festival verlegte seine Akademie ins Internet und zeigte Arbeiten, die ohnehin im Netz stattfanden oder die sinnvoll in eine Streaming-Version überführt werden konnten.
Das war im Einzelfall sicherlich nicht immer ideal – auch ich habe keine abgefilmte Vorstellung bis zum Ende durchgehalten –, gleichzeitig war es aber der Versuch, eine Öffentlichkeit für die Künste, die derzeit nicht stattfinden können, für Positionen aus Ländern, aus die man auf unbestimmte Zeit nicht einreisen kann, zu schaffen. Vermutlich hing in vielen Fällen auch einfach die Auszahlung von Fördermitteln und Honoraren davon ab, dass irgendetwas stattfand.
Im Figurentheaterbereich gab es nur wenige Beispiele, wo Festivals in der Zeit des Lockdowns auf digitale Formen umgestiegen wären. Die FIDENA schaffte mit dem Online-Contest um den besten Puppenspiel-Lovesong-Videoclip ein Ersatzformat, ansonsten blieb es aber relativ still. Ich fragte mich, woran das liegt: Waren es künstlerische Entscheidungen? Lässt sich die Kunst des Puppenspiels schlechter in ein digitales Format übersetzen? Oder hängt dies auch mit der Struktur der Festivals zusammen? Während die großen Performing Arts Festivals über eigene Teams verfügen, selbst produzieren und jährlich stattfinden, sind die Figurentheaterfestivals in den meisten Fällen an Häuser oder Strukturen angedockt, sind mehrheitlich einladende Festivals und werden biennal veranstaltet.
Aufkeimen
Ich sitze in einem Sturm auf der großen Bühne des Staatstheaters Braunschweig. Tosende Wellen rollen mir entgegen, ohrenbetäubender Wind, grau-blaue Wassermassen. Es ist gewaltig. Es ist hypnotisch. Es ist wunderschön. Und es ist das erste Theaterfestival, das ich seit dreieinhalb Monaten besuche. Auch das ist gewaltig. Und hypnotisch. Und wunderschön.
Das Festival Theaterformen war eines der ersten, das in einer Mischung mit Live-Kunstwerken und Online-Programm den Neustart versuchte. Die Künstler*innen, die ursprünglich eingeladen worden waren, übersetzten ihre Inszenierungen in Videobeiträge, in Formate, die per Post dem Publikum nach Hause geschickt wurden, oder in Installationen, die vor Ort besucht werden konnten und ohne die Live-Präsenz von Performenden auskamen. Vielleicht ein Vorteil von Objekten, dachte ich – die Ansteckungsgefahr ist recht begrenzt, und sie haben auch kein Einreiseverbot auferlegt bekommen.
Als Sonderausgabe in kleinerem Rahmen, mit weniger Produktionen, mehr Outdoor-Programm, coronatauglichen Formaten oder Public Viewing fanden auch die anderen großen Sommerfestival statt: Das Zürcher Theaterspektakel, das Noorderzon Performing Arts Festival in Groningen, das Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg, Tanz im August in Berlin. Auch wenn sich die Programme angesichts der Situation recht umfangreich lasen und die Stimmung (zumindest in Hamburg) gut war, fiel doch eindeutig ins Auge, was fehlte: internationale Gastspiele, die großen Koproduktionsprojekte, das dichtgedrängte Publikum.
Hatte man im vergangenen Jahr die Kunstfestivals noch ob ihrer miserablen CO2-Bilanz (zurecht) kritisiert, wurde jetzt deutlich, wer vor allem durch den Ausfall der Möglichkeit zu reisen betroffen war: Künstler*innen außerhalb Europas, deren Produktionen vornehmlich durch europäische Koproduktionspartner*innen finanziert werden und deren Positionen insgesamt eher marginalisiert sind. Die reine Regionalisierung der Künste scheint also auch keine so richtig gute Alternative zu sein – das Problem ist komplexer. Vielleicht ist die Corona-Pandemie auch eine Aufforderung, diese Komplexität anzunehmen und anzugehen.
Wie weiter?
Jetzt kommt der Herbst. Manche Figurentheaterfestivals wurden auch in der zweiten Jahreshälfte bereits abgesagt, manche planen weiter. Wir auch. Wahrscheinlich haben wir alle unsere Programme adaptiert – mehr Produktionen aus Deutschland, mehr Produktionen, die mit Abstandsregeln funktionieren, mehr Produktionen draußen. Und wahrscheinlich schauen wir alle täglich auf die Fallzahlen, auf die Ausweisung von Risikogebieten, auf neue Verordnungen und Hygienekonzepte. Davon wird maßgeblich abhängen, was stattfindet.
Ein Kollege sagte zu mir, dass er sich jetzt erst daran gewöhnen müsse, dass man nicht alles schon drei Monate im Voraus planen kann. Ja, wir arbeiten in einer neuen Zeitlichkeit. Und absagen kann man immer noch.