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Ticktack
In seinem 20. Jahr pendelt das Unidram-Festival in Potsdam auf der Suche nach einer klaren Richtung zwischen magischem Kunstraum und sozialem Forum
von Mehdi Moradpour
Assoziationen: Brandenburg
Beim Versuch, sich aus den Schwingungen entlang der horizontalen Achse zu befreien und wieder in die vertikale Ruhelage zu gelangen, durchläuft ein Pendel mehrere Stationen. Die Ruheposition, in der Dynamik als „kritischer Punkt“ bezeichnet, ist ein Zustand, den das System eigentlich nicht verlässt, solange keine Störungen auftauchen. Auf dem diesjährigen Unidram-Festival in Potsdam fühlte man sich mitunter wie ein Schwerkraftpendel. Man hatte den Wunsch, den Ruhezustand zu verlassen, weil einem vieles trist vorkam, aber auch zu ihm zurückzukehren, wenn es kunterbunt wurde.
Versuchte man, sich nur auf die künstlerischen Ausdrucksformen zu konzentrieren, geriet man in ein Samsara des ästhetischen Experimentierens. Es gab visuelles, Musikund Objekttheater, Schauspiel, Tanz bis hin zur Performance, Figurentheater und allerlei Mischformen. Wer also Lust auf Momente der Verführung und auf ungewöhnliche theatrale Formen und Formate hatte, wurde schnell fündig. Es gab aber nicht nur ästhetizistische Tendenzen: Auch diejenigen, die ein gewisses Maß an Erleuchtung in der suggestiven Wirkung des Theaterrauschs oder im Spiel mit den Möglichkeiten um Illusion und Wirklichkeit suchten, wurden nicht enttäuscht. Exemplarisch dafür war „Die weiße Kabine“ der russischen Künstlergruppe Akhe, die ein puzzlespielartiges Traumtheater präsentierte.
Besessen formalistisch zeigt sich „Ulysses’ Living Room“ des ungarischen Ensembles Artus. In einem Raum, ausstaffiert mit Sofas, Tischen und Lampen, sehen und hören wir ein Potpourri aus Choreografien und aufklärerischen Monologen. Das alles jedoch recht krampfhaft bemüht. „Konfus und verkopft!“, ruft ein Zuschauer. Als das zweite Weinglas angeboten wird, ruft ein anderer: „Publikumsbestechung!“ Akhe dagegen versucht, das Enigmatische zur Poesie anstatt zum Pathos zu erheben, auch wenn es nicht immer gelingt. Visuelle Reizüberflutung, komische Tricksereien, Musik verschiedener Genres, historische und schrullige Bilder aus Film, Fotografie und Malerei überhäufen sich. Eine Offenbarung des Traums als ein Mixtum compositum von Kitschbildern: Nach Walter Benjamin ergibt sich im Kitschbild des Traums die Möglichkeit, „die Kraft der ausgestorbenen Dingwelt“ aufzunehmen und ins Leben zurückzurufen.
Beim Versuch, sich in einigen Produktionen über den Gegenstand der „Theaterästhetik“ hinwegzubewegen, war das meditative Nirwana die Endstation. Hier war es nicht überall möglich, die Momente zu erfassen, welche sich über das Ästhetische hinaus kontemplativ, aber auch eingreifend dem privaten wie dem öffentlichen Leben widmeten bzw. unsere lebenswirkliche Sichtgrenze zu erörtern versuchten.
Mehr als 100 Künstler aus neun Ländern zeigten ihre Arbeiten auf den verschiedenen Bühnen in der Schiffbauergasse. Für den Auftakt des 20. Jubiläums sorgte das vielerorts gespielte Denk-Spiel-Sport-Projekt „Schubladen“ des Theaterkollektivs She She Pop. Auf autobiografisches Material wie Briefe, Tagebücher und andere Texte zurückgreifend, lieferten die Performerinnen eine subjektive Chronik der deutschen Ost-West- Geschichte. Drei Frauen aus Ost- und drei aus Westdeutschland durchwühlten die alten und neuen Schubladen und überschütteten sich mit Fragen zu Identität, Familie, Erziehung und Emanzipation. Begleitet von Einzelund Kollektivtanzeinlagen, bot die spielfreudige Frauenmannschaft einen dialektischen Abend, an dem die janusköpfige Eigenschaft des Theaters als Kunstraum und soziales Forum zutage trat.
Als Forum der Interaktion zwischen Mensch und Objekt fungierte „ArbeiT“, das zirzensische Performancestück der Schweizer Kompanie Tr’espace. Drähte, mechanische Vorrichtungen, eine Nähmaschine mit Fußantrieb und ein schwebendes Pendel. Anhand eines Diabolos, eines rotierenden Jongliergeräts, das ständig mittels eines zwischen zwei Stöcken aufgespannten Seils beschleunigt wird, rückte das Verhältnis Mensch – Maschine in den Vordergrund. Am Ende liegt der Mensch auf einem mit Sägemehl bedeckten Boden. Er genießt seine Muße, und die Maschinen treiben die Show an, ohne sein Zutun.
Magisch wurde es am Ende des Festivals beim Besuch des multimedialen Figurentheaters „R.O.O.M“ (Re Organisation Of Material) der Gruppe meinhardt & krauss aus Stuttgart. Eine Frau ist in einem durch schwarz-weiße Projektionen erstellten Raum ohne Ausgang gefangen. Der Übermacht von Zeit und Stille ausgesetzt, versucht sie, die Kontingenz ihres Seins aufzuheben. Warum ist sie hier? Was macht die kleine weiße Marionette im Raum? Mit diesen Fragen versucht sie, das Ganze zu begreifen. Ausdrucksstarke Bildanimationen und eine virtuose technische Umsetzung treffen auf eine malerische Dramaturgie. Die Magie ist unmittelbar zu spüren. Ein Spiel mit Möglichkeiten und (Nicht-)Notwendigkeiten trieb dieses Stück und das Festival an. //
Mehdi Moradpour