Theater der Zeit

Editorial

von Irma Dohn

Erschienen in: Recherchen 144: Gold L'Or – Ein Theaterprojekt in Burkina Faso | Un projet de théâtre au Burkina Faso (05/2019)

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Mitte Mai 2018 beim Berliner Theatertreffen habe ich im Diskursprogramm einen Vortrag des senegalesischen Schriftstellers, Philosophen und Ökonomen Felwine Sarr gehört, der neben Achille Mbembe zu einem der wichtigsten Vertreter der Postkolonialismusdebatte zählt. Er sprach über Demokratie heute, ein gerechtes Morgen und die Frage, warum man als erstes die Gedanken dekolonialisieren muss. (Sein Buch Afrotopia ist Ende Januar 2019 erschienen und bereits ein Bestseller.)

Mich hat dieser Vortrag fasziniert und inspiriert, überlegte ich doch, nach Burkina Faso zu reisen, um ein interkulturelles Theaterprojekt des Regisseurs Frank Heuel mit seinem deutsch-burkinischen Ensemble über artisanal mining, den traditionellen Goldabbau, dokumentarisch zu begleiten – denn Burkina Faso, dieses kleine, kaum bekannte Land in der Sahel-Zone, stellte Sarr als herausragendes Beispiel zivilgesellschaftlichen Widerstands dar. Er bezog sich dabei auf die friedliche Bewegung von AktivistInnen der Le Balai Citoyen, zu Deutsch etwa Der Bürgerbesen, die sich 2014 gegen den autokratischen Präsidenten Blaise Compaoré auflehnte und ihn stürzte. Frauen gingen mit Kochlöffeln auf die Straße, Männer mit Besen, Taxifahrer blockierten die Wege, und StudentInnen und SchülerInnen führten Sitzstreiks durch. Und es waren vor allem MusikerInnen und performative KünstlerInnen, die sich an die Spitze des Protestes stellten. In Berlin habe ich Sarr im anschließenden Gespräch gefragt, wie er es sich erkläre, dass gerade in diesem Land, das zu den ärmsten der Welt gehört und eine Analphabetenrate von über siebzig Prozent hat, eine so starke emanzipatorische Bewegung entstehen konnte. Die Antwort war für ihn einfach: Weil ein großer Teil der Bevölkerung, gerade die Jugend, die Ideen des ermordeten Thomas Sankara (von 1983 bis 1987 Präsident von Burkina Faso) weiterdenkt und praktiziert. Ein charismatischer Politiker, der sein Land für verantwortliche Lebensformen sensibilisierte, für Frauenrechte, starkes Umweltbewusstsein, Selbstverwaltung und für eine selbstbewusste Identität seiner BürgerInnen und daher das Land von Obervolta in Burkina Faso, das Land der Aufrechten, umbenannte.

Also machte ich mich auf die Reise in dieses aufregende Land, das bereits den deutschen Künstler Christoph Schlingensief zum träumerischen Denken anregte. Herausgekommen ist das vorliegende Buch, das sich – zweisprachig konzipiert – als Beitrag versteht zu einer Debatte, die die Besonderheiten dieser ungewöhnlichen künstlerischen Kooperation reflektiert und sie einbindet in ein diskursives Umfeld.

Die Leiterin des Goethe-Instituts in Burkina Faso, Carolin Christgau, der Frank Heuel besonders dankt für die ideelle Unterstützung des Projekts, denkt über den kulturellen und politischen Mehrwert einer internationalen Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ nach ebenso wie der afrikanische Projektpartner und Leiter des freien Kulturzentrums Espace Culturel Gambidi, Kira Claude Guingane. Regisseur und Mitherausgeber des Buches Frank Heuel spricht über die Genese des Projekts und seine Probenarbeit. Die besondere Situation der Frauen in den Goldgräber lagern beschreibt die burkinische Anthropologin Alizèta Ouedraogo, und der Agrarwissenschaftler Martin Baumgart thematisiert die ökologischen Folgen des handwerklichen Goldabbaus für die Landwirtschaft und die Zukunft der Bevölkerung. Die SchauspielerInnen, die burkinischen und die deutschen, schildern ihr Zusammenspiel auf der Bühne und ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse. Die Ausstatterin und Videokünstlerin Annika Ley bereichert das Buch mit ihren aussagekräftigen Fotos, die sie während der Reisen und Proben aufgenommen hat. Und ich nähere mich dem Projekt von außen, werfe einen Blick auf das künstlerische Ergebnis und verorte es im postkolonialen Kontext.

Danken möchten wir, das Herausgeberteam, allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen entscheidend zum Gelingen des Buches beigetragen haben. Ein besonderer Dank gilt der Journalistin und Autorin Ingrid Müller-Münch, die uns bei der Übersetzung des Recherchematerials unterstützt hat.

In diesem Sinne viel Spaß beim Lesen und Nachdenken!

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