Tanztheater
Berühr die Grenze mit deinem Körper
Die Tänzerin und Choreografin Wen Hui und ihr Living Dance Studio
von Tang Ying
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: China (12/2015)
Mit den beiden dokumentarischen Arbeiten „Tanz mit Großmutter San“ (He San nainai tiao wu) und „Tanz mit Wanderarbeitern“ (He mingong tiao wu) nahm Wen Hui im Jahr 2015 an der 56. Biennale in Venedig teil.
Wer ist Wen Hui? Wen Hui ist Tänzerin, Choreografin, Performancekünstlerin, Wen Hui ist Theaterund auch Filmemacherin. Im gegenwärtigen Trend der grenzüberschreitenden Künste präsentieren sich Wen Huis Experimente in den verschiedenen künstlerischen Bereichen erstaunlich und zugleich doch sehr natürlich. Wen Hui sagt: „Ich mache mich mit meinem Körper auf, die Welt zu erspüren. Wenn ich Dokumentarfilme drehe, vollziehe ich sogar die Fokussierung durch Bewegungen meines Körpers. Was ich ausdrücken will, kann nicht vom Körper getrennt sein.“
Seit über zwanzig Jahren arbeitet Wen Hui unablässig daran, mit ihren Werken die Möglichkeiten des Körpers zu erweitern. Sie bindet die Körper der Tänzer in den Alltag ein oder, anders gesagt: Sie verwandelt individuelle Körper des Alltags in tänzerische Körper. Mit den beiden Arbeiten, die bei der Biennale in Venedig zu sehen waren, möchte sie zeigen, dass jeder Mensch ein Tänzer sein kann. Im Bereich der chinesischen Avantgardekunst ist Wen Hui eine Künstlerin mit einem einzigartigen individuellen Entdeckungsweg.
Wen Hui wurde in Kunming in der Provinz Yunnan geboren und studierte zunächst sechs Jahre traditionellen Tanz. Im Jahr 1989 schloss sie ihr Studium an der Beijinger Tanzakademie im Fach Choreografie ab und begann im Östlichen Gesang- und Tanzensemble (Dongfang gewutuan) als Choreografin. 1994 gründete Wen Hui zusammen mit Wu Wenguang das Living Dance Studio; das war ein Wendepunkt in ihrer künstlerischen Arbeit. „Lebender Tanz“ wurde zur künstlerischen Idee, nach der sie strebt. Die auf der Biennale präsentierten Arbeiten „Tanz mit Großmutter San“ und „Tanz mit Wanderarbeitern“ sind gelungene Verwirklichungen davon.
„Tanz mit Wanderarbeitern“ ist eine Arbeit aus dem Jahr 2001, die mit der Wirklichkeit unmittelbar zusammenhängt. In jenem Jahr bewarb sich Beijing erfolgreich für die Ausrichtung der Olympischen Spiele und begann mit groß angelegten Bauprojekten. Plötzlich strömten zahlreiche Wanderarbeiter nach Beijing, die sich auf die zahlreichen Baustellen verteilten und ein hartes Leben ohne Wohnung und Versicherung führten. Obwohl sie die wichtigsten Arbeitskräfte beim Aufbau der Stadt waren, wurden sie von den Einwohnern abgelehnt und diskriminiert. Das Thema Wanderarbeiter trat in das Blickfeld von Wen Hui. Zusammen mit Song Dong, Yin Xiuzhen, Wu Wenguang und anderen Künstlern holte Wen Hui dreißig Wanderarbeiter von den Beijinger Baustellen und begann mit ihnen und zehn Künstlern des Living Dance Studios zu arbeiten.
Es war ein dramatischer Arbeitsprozess. Die Proben waren verwoben mit den Schwierigkeiten, denen die Wanderarbeiter in ihrem täglichen Leben begegneten; manchen wurde die vorübergehende Aufenthaltserlaubnis für Beijing entzogen, andere verließen die Proben, um ihre Arbeit auf der Baustelle nicht zu verlieren, wieder andere erhielten keinen Lohn für ihre Arbeit – immer wieder wurde Wen Hui um Hilfe gebeten. Doch angesichts der schwierigen Situationen, in die die ständig ums Überleben kämpfenden Wanderarbeiter gerieten, waren auch Wen Hui die Hände gebunden, anders gesagt: Künstler sind oft ähnlich wie Wanderarbeiter, auch sie gehören zu den Schwachen in der Gesellschaft und haben häufig keine Möglichkeit, die Schwierigkeiten im täglichen Leben zu lösen.
Die einzige wirkliche Aufführung von „Tanz mit Wanderarbeitern“ fand im Probenraum statt, im Raum einer alten Fabrik, an jenem Abend kamen über 500 Zuschauer. Es war wie ein großes Fest vor dem Abschied, leuchtend, aber flüchtig. Nach der Aufführung gingen die Wanderarbeiter wieder auseinander und kehrten auf die Baustellen zurück. Wen Hui wirkte verloren. Die Wanderarbeiter waren zurück in ihrem miserablen Leben, die Aufführung hatte für sie keine Veränderung gebracht. Wen Hui begann daran zu zweifeln, dass die Kunst wirklich im Leben intervenieren kann.
Im Jahr 2008 begann Wen Hui mit der „Serie der Erinnerungen“. 2011 fuhr sie als Gründerin des Projekts „Erinnerungen des Volkes“ (Folk Memory Project) mit ihrer Kamera in die Berge von Yunnan. Dort besuchte sie die älteste Verwandte aus der Familie ihres Vaters, eine Tante des Vaters namens Großmutter San. Ursprünglich wollte sie mehr über die Herkunft ihres verstorbenen Vaters erfahren und Geschichten über seine Kindheit hören, doch während des Erzählens kam Großmutter San auf ihre eigene Geschichte zu sprechen, und es stellte sich heraus, dass die Großmutter, die in der Vergangenheit als „Frau des Großgrundbesitzers“ bezeichnet wurde, die Geschichte der gesamten Familie kannte. Am Ende blieb Wen Hui zehn Tage lang dort. Am Abend vor Wen Huis Abreise fiel im Dorf der Strom aus, und Großmutter San, die eigentlich immer früh zu Bett ging, saß im Licht der Nacht im Hof und wartete auf Wen Hui. Jenes stille Warten war erfüllt von einer Betrübnis, die Wen Hui tief berührte. Sie setzte sich an die Seite von Großmutter San, hielt ihre Hand, verabschiedete sich von ihr. In jenem gefühlvollen Augenblick begann sich Wen Huis Körper zu bewegen, und überraschenderweise bewegte sich auch der Körper der Großmutter. Obwohl sie vorher nie getanzt hatte, folgte sie schnell Wen Huis Rhythmus. In der Dunkelheit fragte Wen Hui: „Kannst du mich sehen?“ Die Großmutter antwortete: „Ja. Kannst du mich sehen?“ Wen Hui antwortete: „Ja.“
Kannst du mich sehen ? Dieser Satz hört sich beinahe an wie ein philosophischer Spruch. Von da an wurde das gegenseitige Fragen und Antworten zum Schlüssel, um ihre Körper zu öffnen. In jener Nacht entdeckte Wen Hui eine magische Kraft des Tanztheaters außerhalb des Theaters.
Im folgenden Jahr fuhr Wen Hui abermals mit Kamera und Assistent zum Haus der Großmutter San in die Berge von Yunnan, um aus dem Alltagsleben der Großmutter ein Tanzprojekt zu machen und es zu dokumentieren. Sie tanzten an allen Orten, an denen Großmutter San ihren Alltag verbrachte, am Brunnen, beim Stroh, am großen Topf mit dem Schweinefutter. Wenn es Zeit war, zu essen, beendete Großmutter San das Tanzen und begann zu kochen. Auf diese Weise löste sich die Grenze zwischen Tanz und Leben auf, und obwohl Wen Hui zu Beginn geführt hatte, übernahm bald die Großmutter im gemeinsamen Tanz die Führung. Wen Hui hielt die Hände der 84-jährigen Frau und war überrascht von der Kraft, die von ihrem Körper ausging; obwohl die Großmutter aktiver war, folgte sie Wen Huis Rhythmus. Für Wen Hui war sie eine überraschende und harmonische Tanzpartnerin. Am Anfang war alles improvisiert; das Feuer zwischen den Körpern inspirierte wiederum die kreative Arbeit. Das Natürliche und Einfache in „Tanz mit Großmutter San“ machte die Arbeit zu einem individuell gefärbten Werk von Wen Hui.
Wen Hui sagt oft, sie habe keine festgelegten Konzepte, am Anfang stehe immer das Tun, der Versuch. In der Tat ist diese Konzeptlosigkeit für sie eine sehr gute Sache; in einem grenzenlosen Raum erweitert sie durch den Körper ihre Vorstellungskraft. Die Version „Tanz mit Großmutter San“ aus dem Jahr 2015 ist reifer und stärker, sowohl in der Idee des lebenden Tanzes als auch in der theatralen Rekonstruktion.
Wen Huis Arbeiten sind erfüllt von weiblichem Bewusstsein. Mit ihren Werken verleiht sie speziell dem Lebensgefühl und der geistigen Haltung von Frauen Ausdruck. In ihrer Entwicklung von der Tänzerin zur Avantgardekünstlerin ging Wen Hui mit ihrem Körper einen Weg der Befreiung. Dabei wurde sie von zahlreichen Frauen umringt, die keine professionellen Tänzerinnen sind und ihre Körper vielleicht sogar noch nie im Tanz bewegt haben. Doch sie werden angezogen von Wen Huis lebendem Tanz, und ihre Körper sind erfüllt von der Sehnsucht danach. Dies ist auch der Beginn eines befreiten Selbst. //