Theater der Zeit

Ausland

Und dann kamen die Kriege

Über ein Brecht-Projekt in Inguschetien. Ein Tagebuch

von Peter Krüger

Erschienen in: Theater der Zeit: Birgit Minichmayr – Ich bin es und bin es nicht (01/2013)

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Der Berliner Regisseur Peter Krüger ist seit 1996 im Rahmen humanitärer Aktionen im Nordkaukasus unterwegs. 2004 begann er dort Projekte mit Texten von Bertolt Brecht zu initiieren. Hier berichtet er aus Inguschetien, wo er gemeinsam mit dem Studio für Theater und Kino Bart in Nasran vom 10. bis 17. September 2012 „Tage mit Bertolt Brecht“ veranstaltete.

Nasran, Samstag, 24. August 2012
Die Situation ist schwierig. Am Tage meiner Ankunft wurden in Nasran 14 Polizisten durch einen Bombenaschlag getötet und 64 verletzt. Auch die Anreise war kompliziert. Der Nordkaukasus ist immer noch ein unsicheres Gebiet, der Alltag sehr eingeschränkt. Vom Hotel aus werde ich stets nur in Begleitung in das 400 Meter entfernte Theater gefahren. In Berlin hatte bis zum Schluss hektisches Arbeiten geherrscht. Die russische Post nimmt Waren für Privatpersonen nur bis zu einem Preis von 287 Dollar an. Wir mussten unsere Ausstellung „Bertolt Brecht und das Berliner Ensemble“ in zwei Geschenkpartien umdeklarieren. Poster, Fotos, Programmhefte, Bücher und anderes gingen mit DHL auf den Weg. Für die Ausstellungstechnik wählten wir eine russische Spedition. Gebe Gott, dass alles zur rechten Zeit eintrifft.

Sonntag, 26. August
Ein Ruhetag, den ich mit Planungsgesprächen verbringe. Der Schauspieler Murtas Osiew leitet unser Projekt für das neue Theaterstudio Bart. Im Hotel beginnen meine „Abenteuer“ mit 30 russischen Fernsehkanälen. Eine unfassbare Militarisierung und Verkitschung ist dort im Gange. Auf allen Kanälen sieht man Serien über heldenhafte Geheimdienstleute, Polizisten, Militärs oder Detektive, stets im brutalen Kampf gegen „böse Buben“, die Mafia und was weiß ich. Unterbrochen wird das Ganze in kürzesten Abständen durch Werbung für Banken, Autos und Kosmetik – sowie für Putin. Oder es sind Regionalfürsten mit ihren belehrenden Reden zu sehen.

Montag, 27. August
Erstes Treffen mit dem Ensemble. Die Schauspieler erzählen, dass morgens ein Bombenanschlag gegen ein Schnapsgeschäft verübt wurde. Zwei Tote, vier Verletzte. Der Probenraum des Studio Bart liegt in einem kühlen Keller. Draußen herrschen 35 Grad Hitze. Für den neuen Brecht-Abend haben wir in mühsamer Arbeit über die Hälfte der Gedichte und Lieder neu übersetzt. Wir beginnen mit dem Gedicht „Vom armen B.B.“. Es wird viel gelacht. Die Konkurrenz zwischen den neuen und alten Schauspielern ist unübersehbar. Sie fauchen sich sofort unterschwellig an, wenn ihnen der Kollege ins Gehege kommt. Die Schauspielerinnen nehmen die kleinen Hahnenkämpfe mit Ironie. Eine Überraschung ist für mich das 13-Uhr-Gebet – in vergangenen Arbeiten undenkbar. Ein Teppich wird zurechtgerückt, die Männer fallen zum halblauten Gebet nieder. Aus stolzen Hähnen werden bittende kleine Jungs. Die neue Glaubensstrenge wird ihnen via Satellit aus Dubai oder Saudi-Arabien übermittelt und durch die russische Aufsicht sanktioniert.

Samstag, 1. September
Wenn Truppen der OMON angreifen, eine Spezialeinheit der russischen Polizei, zeigt das Fernsehen eingeschlagene Türen. Die Verhafteten werden auf den Bauch geworfen und gefesselt. Vermummte Polizisten setzen sich rittlings auf sie. Warum habe ich diese brutalen Eindrücke bisher kaum in Berichten deutscher Korrespondenten gesehen?

Montag, 3. September
Eine Krise. Man sagt mir, dass Berührungen zwischen Frauen und Männern auf der Bühne nicht erlaubt seien. Wer hat das Verbot erlassen? Das seien Überlieferungen, heißt es. Die Menschen im Nordkaukasus würden einen eigenen Islam pflegten und sich danach richten. Ich frage, wie das zum Beispiel in Shakespeares „Romeo und Julia“ gehen soll? Sie antworten wie bockige Kinder: Dann müsse man es eben so einrichten. In unserem Brecht- Abend werden wir das irgendwie hinkriegen. Derweil befindet sich unser erstes DHL-Paket laut Internetverfolgung kurz vor Moskau. Das zweite scheint verloren.

Freitag, 7. September
Wir bereiten unseren 12-Minuten-Film für die Eröffnung vor. Unser ältester Schauspieler kommt aufgelöst in den Raum und erzählt, dass sein Neffe, ein Polizeioffizier, in der Nacht vor seinem Haus in Slipzowsk ermordet wurde. Ich frage die Schauspieler, ob die wahhabitischen Extremisten viel Rückhalt in der Bevölkerung hätten. Höchstens bei arbeitslosen jungen Männern, meinen sie.

Mittwoch, 12. September
Tag einer improvisierten Premiere. In Nasran patrouillieren vermummte OMON-Trupps. Im Theater erwarten uns vier bewaffnete Milizionäre im Zuschauerraum. Das Regionalfernsehen zeigt immerfort Bilder von gesuchten jungen Terroristen. In dieser Umgebung werden wir unseren Brecht-Abend spielen. Um 12 Uhr beginnt die letzte Verständigungsprobe. Die Texte der Männer sitzen endlich. In der Pause nähert sich mir ein junger Sergeant aus der Gruppe der Milizionäre. Er erzählt, dass auch er einmal Schauspieler werden wollte, dann kamen die Kriege und er entschied sich für die Miliz. Ungefähr 20 Minuten später geht es los. Eine Gruppe junger Kadetten kommt in letzter Minute angehetzt.
Die Stimmung ist von Beginn an sehr freundlich. Die Schauspieler sitzen in der ersten Reihe. Für die 18 Nummern des Programms trommelt ein wunderbarer David die Übergange im Halbdunkel der Bühne. Es gibt Gedichte und Lieder aus der „Courage“, dem „Kaukasischen Kreidekreis“, „Schweyk im zweiten Weltkrieg“, „Die Tage der Commune“ und aus der „Dreigroschenoper“. Es erscheint mir nach den schwierigen Proben wie ein Wunder, dass wir ohne Pannen durch das Programm kommen. Das junge Publikum folgt der Vorstellung mit großer Konzentration, reagiert auf die Komik und die Dramatik der Vorträge. Favoriten sind die „Moritat von Mackie Messer“ und der Song „Soldaten wohnen“ sowie das Eifersuchtsduett aus der Dreigroschenoper, aber auch die Resolution der Kommunarden oder das Lied der Yvette haben großen Erfolg. Meine Hoffnung, dass die Kulturministerin sich um eine kleine Premierenfeier gekümmert hat, erfüllt sich nicht. Wir hatten keine Zeit, im Ensemble etwas zu organisieren. So sitze ich gleich darauf wieder in meinem Hotel. Die Straßen Nasrans sind menschenleer.

Donnerstag, 13. September
Um 15 Uhr wollen wir in der Universität von Magas spielen. Ich habe bis dahin vor, unsere Ausstellung in Karabulak vorzubereiten. Das wichtige zweite DHL-Paket mit über 500 Fotos aus dem Berliner Ensemble, Programmheften, Büchern u. a. ist immer noch nicht eingetroffen. Wir werden versuchen, eine Plakatschau mit 50 Arbeiten des BE-Grafikers Karl-Heinz Drescher zu improvisieren. Letztlich jedoch komme ich nicht dazu. Murtas Osiew kommt in das Studio gestürzt und teilt mir mit, dass wir statt um 15 Uhr schon um 13.30 Uhr in der Universität spielen sollen. Wir eilen nach Magas, der auf der grünen Wiese erbauten neuen Hauptstadt. Etwa 12 000 Regierungsbedienstete wohnen hier. Ein verkniffener älterer Mann in Lackschuhen zeigt uns den mit Kristalllüstern, Goldbronzewänden und Wolkengardinen behangenen Senatssaal. Hier sollen wir spielen. Das lehne ich ab. Konsternierte Pause … Wir finden einen taghellen Hörsaal und werden ohne Licht und Ton improvisieren. Hinterher gibt es großen Beifall, Fotografierorgien und Gespräche mit Germanistikstudenten. Ein Mädchen erzählt auf Deutsch von dem Druck seitens des Islam, der zunehmend auf den Frauen laste, von ihrer Zurücksetzung und Drangsalierung.
Dann drängt Murtas auf die Rückfahrt nach Nasran. Der Grund für die Eile ist die anstehende Gebetszeit, sie wird von den Männern geradezu fanatisch eingehalten. Die Frauen sind an den Riten unbeteiligt. Sie können beten, müssen aber nicht. Sie tun es in der Regel auch nicht. Ein neues Ereignis macht Murtas zudem nervös. Der inguschetische Präsident Junus-Bek Jewkurow möchte mich sehen. Im Fernsehen wirkt Jewkurow wie ein versteinerter Natschalnik. Real empfängt uns ein freundlicher Mann in Jeans. Wir sprechen fast eineinhalb Stunden miteinander. Der Präsident redet über seine Sorge, dass Kunst und Kultur in einem tiefen Loch feststecken.

Freitag, 14. September
Das zweite zerknautschte DHL-Paket trifft endlich ein. Trotz des Drucks angesichts unserer Ausstellungsvorbereitungen halten die Männer das Beten ein. Wie fremd mir diese Verhaltensmuster sind. Gegen 15 Uhr fahren wir endlich nach Karabulak.

Samstag, 15. September
Es sind nur noch ein paar große Plakate aufzuhängen. Ab 10.30 Uhr erscheinen bereits die ersten Besucher. Alte Funktionäre und Lehrerinnen kommen mit ihren Schulklassen auf mich zu. Sie wollen unbedingt deutsch mit mir reden. Die Videotechnik funktioniert nicht. Also werden wir wieder improvisieren.

Sonntag, 16. September
Ich warte auf das Ensemble. Die Schauspieler wollen mit mir in die Berge fahren. Schon am ersten Haltepunkt werden wir abgewiesen. Überall schwere Truppentransporter. Später erfahren wir, dass am Straßenrand vergrabene Bomben gefunden wurden. Die reale Lage erscheint mir wie ein mieser Horrorfilm. Freut man sich für eine ganz kurze Zeit, kommt schon wieder der „Hammer“.

Montag, 17. September
Schon um drei viertel acht wollen wir wegen der unsicheren Lage zum ossetischen Flughafen Beslan starten. Wir fahren am Ehrenhain der am 5. September 2004 ermordeten Kinder vorbei und kommen kurz darauf viel zu früh am Flugplatz an. Auf dem Flugfeld steht eine weiße Bombardier. Dahinter erheben sich die schneebedeckten Sechstausender des Kaukasus. Ruhe. Wie schön es doch hier wäre, dürften die Menschen nur besser leben. //

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