Theater der Zeit

Anthropozäne Kartografierungen

Antje Boetius, Hans-Jörg Rheinberger und Frank-M. Raddatz im Gespräch

von Hans-Jörg Rheinsberger, Antje Boetius und Frank M. Raddatz

Erschienen in: Wendungen: Das Drama des Anthropozäns (03/2021)

Anzeige

Anzeige

Frank-M. Raddatz:

Für Kunst und Theater, die sich mit dem Anthropozän konfrontieren wollen, ist es wichtig, sich ein Bild über die Wissenschaft zu machen. Schließlich beruht das meiste, das wir über den globalen ökologischen Bedrohungshorizont wissen, auf deren Forschungen und Modellen.

Für mich war es ein Schock, als mir der Physiker Hans-Peter Dürr in einem Interview Ende der 1980er Jahre erklärte, dass eine Stoffgruppe wie die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) entwickelt wurde, weil sie für uns ungiftig ist, die aber freigesetzt in die Atmosphäre aufgrund von vollkommen unberechneten Interdependenzen im Erdsystem seine schädliche Wirkung entfaltet – in dem Fall das Ozonloch. Das Treibhausgasproblem heute verifiziert ebenfalls die These des lange aus dem Fokus geratenen Alexander von Humboldt, dass in der Natur alles mit allem zusammenhängt. Heute sprechen wir vom Netz des Wissens, das Humboldts Vorstellung viel näher kommt als die traditionelle Aufteilung der Naturwissenschaft in Einzeldisziplinen. 

Hans-Jörg Rheinberger:

Dieses Motto des alten Humboldt, dass „alles mit allem zusammenhängt“, lässt mich ein wenig schmunzeln. Denn darum, wie die Dinge zusammenhängen, dreht sich schließlich das ganze wissenschaftliche Unternehmen. Michel Serres schreibt 2010 in Biogée, seiner eigenwilligen Autobiografie: 

 Meine Hoffnung ruht auf der gegenwärtigen Entwicklung des Wissens. Einfach und leicht basierten unsere alten Wissenschaften auf der Analyse, die trennt und zergliedert. Eine Zergliederung, die die Subjekte von ihren Objekten trennt. Schwierig, global und vernetzt setzen die neuen Wissenschaften vom Leben und von der Erde, Kommunikationen, Interferenzen, Übersetzungen, Distributionen und Übergänge voraus. Begreifen wir mit Empedokles die Dringlichkeit einer Vereinigung von Weisheit und Wissen, und zwar unter Strafe der kollektiven Auslöschung. (Serres 2010: 81 f. [aus dem Franz. von H.-J. R.]) 

 Ich finde diese Differenzierung der beiden Begriffe Wissen und Weisheit eine ganz wunderbare Umdeutung der Kategorien, die bei Kant Vernunft und Verstand heißen. Unser Wissen kann und darf, wenn es auf das Große und Ganze bezogen wird, nicht auf den Verstand reduziert werden. 

Antje Boetius:

Ich denke nicht, dass wir in der Forschung per se interdisziplinärer oder systemischer geworden sind. Es gab schon immer – von den alten Griechen bis heute – Denkerinnen und Denker, die sich Systemfragen, Vernetzungsfragen, grenzübergreifende Fragen gestellt haben, also auch jenseits der Aufgabe agiert haben, die Grenzen des Wissens innerhalb eines Felds zu erweitern. Die Erdsystemforschung war ursprünglich disziplinübergreifend, hat sich dann aber in viele Teilbereiche aufgeteilt. Allein in der Mikrobiologie der Erde existieren mittlerweile unglaublich viele Subdisziplinen. Ein Feld wie die Geochemie ist an sich schon interdisziplinär und umfasst nun auch wieder etliche Subdisziplinen. Diese Ausdifferenzierung entstand in einer Zeit, in der Lynn Margulis, James Lovelock und andere die Grenzen der biologischen, geologischen, chemischen Disziplinen erweitert oder aufgelöst haben, was dazu führte, dass sie in ihren Wissensgebieten lange umstritten waren. Man kann derzeit sagen, dass die sich nähernden Katastrophen wie Klimawandel und Artenverlust mehr Systemforschung in der Wissenschaft generieren, mittlerweile sogar bis in die Gesellschaftswissenschaften hinein. 

H.-J. R.:

Grundsätzlich stehen wir, wenn ich es richtig sehe, vor keiner völlig neuen Situation. Die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen haben, auch wenn sie etwas gröber gestrickt waren, ihre Zeit gehabt. Historisch gesehen war das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Disziplinbildung. Seit dem 20. Jahrhundert findet in dieser Hinsicht ein Revisionsprozess statt, der immer noch anhält. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es – auf die Lebenswissenschaften bezogen – zwei Hybridwissenschaften, die man in dieser Form im 19. Jahrhundert gar nicht kannte. Sowohl die Biochemie wie die Biophysik waren und sind Disziplinen, die die Biologie mit den Leitwissenschaften der Zeit rückkoppelten. Elemente davon verbanden sich später ihrerseits zur Molekularbiologie, unter Einbezug einer dritten biologischen Disziplin: der Genetik. Und dieser Prozess hält an. Das 20. Jahrhundert ist wissenschaftshistorisch gesehen ein Jahrhundert, das durch die Suche nach disziplinären Grenzüberschreitungen charakterisiert ist. Zugleich sind aber die Wissenschaften, soweit sie am Experiment festhalten, immer auf Reduktion angewiesen. Experimente funktionieren nicht und liefern keine signifikanten Ergebnisse, wenn die Parameter nicht reduziert werden. Die entscheidende Frage ist: Wie werden die experimentell gewonnenen Daten epistemologisch rekonfiguriert und miteinander in Beziehung gesetzt? Wie wird diese Reduktion – ich nenne sie jetzt mal ontische Fragmentierung – epistemisch wieder aufgefangen, rekontextualisiert und in einen neuen Zusammenhang gestellt? Wir benötigen für den Fortschritt der Erkenntnis diese beiden gegenläufigen Bewegungen: zum einen die Entgrenzung der Disziplinen, um der Komplexität immer differenzierter nachgehen zu können, und zum anderen eine planvolle Reduktion bei der experimentellen Forschung. Die Humboldt’schen Worte: „Alles hängt mit allem zusammen“ stellen nur die eine Seite der Medaille dar.

A. B.:

Im Zeitalter des Anthropozäns müssen wir nun dazu die Frage stellen, inwiefern sich die Forschung verändert, wenn der Mensch als geologische Kraft und Naturgewalt verstanden wird. In dieser neuen Ära zeigt sich insbesondere, dass alles mit allem zusammenhängt, weil der Mensch mittlerweile zumindest auf der Zeitschiene von ein paar Hunderten von Jahren mit allem in Wechselwirkung steht. Das lässt sich sowohl für die Frage der Gegenwart sagen wie auch dafür, wie wir die Zukunft denken.

Dabei gilt aus meiner Sicht: Entwicklung der Wissenschaft lässt sich nicht unabhängig von geschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachten. Zum Beispiel hat ein Chemiker wie Fritz Haber an den Grenzen des Wissens geforscht und fundamentale Entdeckungen über die Fixierung von Stickstoff als Düngemittel gemacht. Seine Intention war aber nicht, einen Beitrag zur Welternährung zu leisten, sondern er schrieb darüber, wie er die Soldaten der deutschen Armee stärken wollte, damit sie den Ersten Weltkrieg gewinnen könnten. 

Analog können wir heute eine Reaktion der Naturwissenschaften auf den aktuellen gesellschaftlichen Kontext beobachten, nämlich die beginnenden Auswirkungen des Klimawandels. Unter dieser Prämisse wird klar, dass wir Naturwissenschaftler die Wirkung des Menschen mitzudenken haben und auch die Optionen seines zukünftigen Handelns. Für Prognosen, wie sich das CO2 in der Atmosphäre entwickelt, müssen also bei Fragen von Klima und Natur ökonomische und politische Entscheidungen berücksichtigt und abgebildet werden. Das ist eine riesige Herausforderung. Und dann ist auch die Reaktion der Natur – zum Beispiel der Wälder, der Ozeane, der Bodenmikroben auf die möglichen Pfade, welche die Menschheit einschlägt – in die Modelle einzubeziehen. Um es verkürzt zu sagen: Wie gelingt es uns, eine Verknüpfung des Wissens so herzustellen, dass wir die möglichen Zukünfte simulieren und abbilden, um die Menschheit in den Leitplanken des Erdsystems steuern zu können? Wir brauchen die Antworten, um den Pfad zu verlassen, der ins Chaos führt. 

H.-J. R.:

Der Begriff der Kulturtechnik, der in den Medien- und Kulturwissenschaften der letzten zehn, fünfzehn Jahre prominent geworden ist, bezieht sich sowohl auf die Wissenschaften wie auf die Künste wie auch auf andere gesellschaftliche Praktiken. Unter Kulturtechnik werden in allen diesen Bereichen mehr oder weniger geregelte Verfahren subsumiert, die sich historisch entwickelt haben und die in ihren Eigenarten nicht unabhängig von den spezifischen gesellschaftlichen – zeitlichen und räumlichen – Konstellationen verstanden werden können, in denen sie praktiziert wurden und werden. Diese Kontexte des praktischen, verkörperten Wissens darf man auf keinen Fall ausblenden. Nur wurden die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen Wissen generiert und umgesetzt wird, von der Wissenschaftsphilosophie der letzten 150 Jahre regelrecht verdrängt. Es braucht daher unbedingt eine reflexive Ebene, auf der Kategorien für ein Verständnis dessen entwickelt werden können, wie dieser Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beschaffen ist. Bislang wurde zumeist davon ausgegangen, dass es genügt, sich auf einzelne Parameter zu konzentrieren, die von Interesse sind und die man im Natursystem vermessen will. Aber das Anthropozän belehrt uns eines Besseren: Es bedarf dringend einer zusätzlichen Anstrengung, um die Interaktionen unserer Gesellschaften mit der sie umgebenden Welt kategorial adäquat zu erfassen. Diese entscheidende Aufgabe kann nur durch eine Allianz aus den Wissenschaften selbst, der Wissenschaftsphilosophie, der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftssoziologie geleistet werden. 

A. B.:

Im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft kommt es auch auf die Kommunikation an. In der Klimawandelforschung beschäftigen wir uns mit den Konsequenzen der Konzentration eines Moleküls in der Atmosphäre – und so kommunizieren wir Naturwissenschaftler eben Emissionsraten und Mengen des Treibhausgases CO2. Der Klimaökonom Ottmar Edenhofer hat ein effektives Bild dafür gefunden: Er vergleicht die Atmosphäre mit einer Mülltonne, in die wir kostenfrei CO2 emittieren. Irgendwann ist die Tonne voll, und dann wird es schmutzig. Das bereichert die chemische Vermessung einer uns zuträglichen Konzentration von CO2 in der Atmosphäre von unter 450 ppm mit einem eingängigen Bild unserer Verhaltensnormen. Das ist für eine Disziplin wie die Atmosphärenchemie vollkommen neu. Mit dem Anthropozän stellt sich also die Frage: Wie gelingt der Transfer von einer Naturerkenntnis, die sich für die Forscher als Zahlenwerk darstellt, zu einer Übersetzung, die Menschen verstehen lässt, wie sie mit ihrem Handeln zusammenhängt?

H.-J. R.:

Das demonstriert auch die jetzige Covid-Krise. Die numerischen Verhältnisse wie zum Beispiel die Reproduktionszahl oder die Wocheninzidenz sind Anhaltspunkte, sie alleine reichen aber nicht, um das eigentliche Problem für alle dingfest und greifbar zu machen. 

F.-M. R.:

In der Epistemologie ging man lange vom Subjekt-Objekt-Verhältnis als Grundlage des Erkennens aus. Auf der einen Seite der reflektierende oder forschende Mensch, auf der anderen das tote Ding aus der Natur. Bruno Latour versteht die Erzeugung von Wissen als ein Netzwerk, das aus Objekten Aktanten werden lässt, also Wirkmächte, die ihre Umwelt verändern, eine Geschichte haben, Speichermedien mit nicht exakt zu bestimmenden Archiven sind. Nicht nur das Wissen, auch die Vorstellung von der Struktur des Wissens ändert sich. 

H.-J. R.:

Der Wissenschaftsanthropologe Yehuda Elkana spricht von veränderlichen „images of knowledge“. Die Bilder, die wir uns vom Wissen und den Wissenschaften machen, sind weitaus holzschnittartiger als das, was sich im Labor abspielt, und sie können leicht zur Karikatur werden. 

Am Beispiel der Entwicklung der Genetik im 20. Jahrhundert lässt sich sehr schön verfolgen, wie drei solcher Wissensbilder in der zeitlichen Folge einander abgelöst haben. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde das Gen als das Atom des Lebens interpretiert, also eine deutlich reduktionistische Sicht. In der zweiten Hälfte ging die molekulare Genetik zum Bild der Information über. Gene übertragen Information von einer Generation auf die nächste, und sie geben Information an die Zellen weiter, um den Stoffwechsel aufrecht zu erhalten. Heute sind die Genkarte und das Gennetzwerk die dominierenden Wissensbilder. Es wird also von vielfältigen Beziehungen, von einem Viel-Punkte-System auf der molekularen Ebene ausgegangen, und es wird nicht mehr alles auf einen einzigen Punkt zurückgeführt. Unter den einzelnen Bildern konnte jeweils eine Menge an Wissen akkumuliert werden. Sie waren nicht einfach nur aus der Luft gegriffen, nicht einfach nur Ideologeme, die heute mal gebraucht werden und morgen wieder verschwinden, sondern sie erwiesen sich bezüglich der Möglichkeiten des wissenschaftlichen Zugriffs auf die Phänomene durchaus als tauglich, vor allem reflektierten sie die jeweiligen Zugriffsmöglichkeiten. Aber es verändern sich eben die Zugriffsmöglichkeiten mit den zugehörigen Wissensbildern im Lauf der Zeit ganz massiv.

Oder werfen wir einen Blick auf die Biologie insgesamt. Wenn wir uns die Entwicklung der Evolutionstheorie von Darwin bis heute ansehen, haben wir am Anfang die Konkurrenz als Faktor, der alles andere überstrahlt, den „Kampf ums Dasein“. Dann werden die Zufallsbewegungen, wird die Drift als Faktor im Evolutionsgeschehen immer prominenter. Schließlich – denken wir an Lynn Margulis – gewinnt die Symbiose mit ihren vielfältigen Formen des Zusammenwirkens für das Verständnis der biologisch evolutionären Vorgänge an Bedeutung. In solchen Prozessen der Wissenschaftsentwicklung wird, was auf einer frühen Stufe erkannt wurde und prominent war, nicht einfach weggeworfen; es existiert weiter, wird rekontextualisiert und in seiner relativen Bedeutung neu gewichtet. Es handelt sich nicht um Ablösungsprozesse ein für allemal. Die sich wandelnden Modelle und Bilder erfordern eine ständige Rekalibrierung von früherem Wissen. Es kann vormals prominentes Wissen aber sehr wohl marginalisiert werden.

F.-M. R.:

Bei Serres oder Latour wird deutlich, dass die Wissenschaften um den Preis des Überlebens gefordert sind, Lösungen für Probleme zu finden, die vor 200 Jahren noch vollkommen unbekannt waren. Wenn man vom Netz des Wissens spricht, hat das Netz kein Zentrum. Aber mit dem Anthropozän besitzen wir einen verbindlichen Referenten, an dem wir uns orientieren müssen, nämlich die Beziehung zwischen Mensch und Erdplaneten, zumindest seiner Oberfläche. 

A. B.:

Darauf reagiert die Wissenschaft auch, indem sich Forschungsschwerpunkte verändern, die Simulation in der Erdsystemforschung an Bedeutung gewinnt und die Wissenschaft ihre Aufgabe der Risikoabschätzung wahrnimmt. Das ändert ihr Kommunikationsverhalten. So wird versucht, die politischen Entscheidungsträger anzusprechen, und überlegt, mit welchen Strategien die Zivilgesellschaft besser informiert werden kann, Stichwort: „mündige BürgerInnen“. Aber durch die anthropozäne Problemlage entsteht dennoch kein neues Zeitalter des Wissens oder wird das Forschen und Wissen ganz neu strukturiert. Jedoch mittels der Simulation können wir heute ganz anders mit Daten umgehen, als wir das geschichtlich jemals konnten. Datenbasierte Zeitreisen und Prognosen gewinnen an Bedeutung als Leitplanken für das Handeln.

H.-J. R.:

Die erste Industrialisierung in den westlichen Ländern in Europa, dann etwas später in Amerika am Ende des 18. und dann im frühen 19. Jahrhundert ging zunächst mit einer massiven Verschlechterung der Lebensbedingungen für große Teile der Bevölkerung einher. Die einzige Möglichkeit, diese Entwicklung in den Griff zu bekommen, waren Hygiene- und weitere medizinische Maßnahmen, die in den Jahrhunderten zuvor nicht nötig gewesen waren, weil sie in dieser Dringlichkeit das Leben gar nicht bestimmten. Die Hygienebewegung im 19. Jahrhundert hat, was an aktuellen Umweltveränderungen vor sich gegangen ist, einigermaßen – mehr schlecht als recht, aber immerhin – im Zaum halten können. Mit dem Anthropozän heute haben wir eine vergleichbare Problemlage, nur in einer ganz anderen Größenordnung. Jetzt geht es nicht nur um konkrete Luft, die wir real einatmen, oder den städtischen Müll, der uns umgibt; wir sind vielmehr mit Emissionen und den dadurch verursachten Veränderungen in planetaren Dimensionen konfrontiert. 

A. B.:

Dabei sind wir selbst abhängig von diesem vernetzten System, sodass Verluste an Natur unsere Lebensqualität verschlechtern. Diese Kausalitäten sind zu Teilen in Raum und Zeit entkoppelt, mit der Folge, dass wir die Konsequenzen nicht unbedingt am eigenen Leib spüren, sondern Menschen auf anderen Kontinenten oder zukünftige Generationen.

F.-M. R.:

Das erinnert mich an ein Gedicht von Brecht, das solch einen Haltungswechsel angesichts des Todes formuliert, wo das Ego als verbindlicher Referenzpunkt verabschiedet wird:

 ALS ICH IN WEISSEM KRANKENZIMMER 

DER CHARITÉ

Aufwachte gegen Morgen zu

Und eine Amsel hörte, wußte ich

Es besser. Schon seit geraumer Zeit

Hatte ich keine Todesfurcht mehr, da ja nichts

Mir je fehlen kann, vorausgesetzt

Ich selber fehle. Jetzt

Gelang es mir, mich zu freuen

Alles Amselgesanges nach mir auch. 

(Brecht 2007: 1564 f.)

 A. B.:

Wir sind heute mit fundamentalen normativen Fragen konfrontiert. Wir müssen zu Haltungen finden, in denen auch das nicht-menschliche Leben zählt. Im Augenblick argumentieren wir mit dem Erhalt der Gegenwart, die wir kennen, manchmal schon mit den Chancen der nächsten Generationen von Menschen. Aber wir brauchen mehr Regeln dafür, wie wir unsere Leitplanken in Bezug auf den Planeten gestalten. Am Beispiel Atmosphäre: Der Mülleimer für CO2 ist deswegen randvoll, weil ihn die westliche Welt in den letzten zwei Jahrhunderten gefüllt hat. Die Gestaltung der Zukunft können wir daher nicht anderen Playern in die Schuhe schieben. Klimafragen sind also auch Gerechtigkeitsfragen. Die Menschheit braucht eine Zukunftsvision, wie eine andere Form des Zusammenlebens zu gestalten wäre, und die hat ganz wesentlich etwas mit Richtig und Falsch, Gut und Schlecht, zu tun.

H.-J. R.:

Letztlich geht es um ethische Fragen, die nicht von der Wissenschaft abkoppelbar sind. Die Ausbildung solcher Haltungen muss von einer dezidierten Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Ansätze, die wir heute haben, begleitet werden. Nur wenn diese Aufgaben zusammen vorangetrieben werden, und zwar so massiv wie möglich, eröffnen sich Chancen, die heute noch außerhalb unseres Denkhorizonts liegen.

A. B.:

Sicherlich müssen wir die Wissenschaften und Disziplinen noch mehr vernetzen, weil wir eine Menge Innovationsprozesse brauchen, um eine Carbon-neutrale Zukunft zu bauen, die gleichzeitig wesentlichen Ungleichgewichten der Lebenschancen entgegensteuert. Dabei sind die Reorientierung auf gesellschaftliche Werte und ein Verständnis von Gemeinwohl sowie dem Zusammenhang mit planetarer Gesundheit wichtige Elemente. Die Forschung, die Indikatorik und Prognosen dazu können die Natur- und Technikwissenschaften nicht allein leisten, sondern nur im Zusammenspiel mit Ökonomie und Soziologie. Dabei sind die technischen Lösungen im Umbau des Energiesystems schon evidenter als die politischen, sozialen und ökonomischen.

H.-J. R.:

Es ist schon erstaunlich, wie wenig wir aus dem Desaster gelernt haben, das die Atomwirtschaft angerichtet hat. Jetzt kaufen sich die Konzerne mit ein paar Milliarden aus ihrer Verantwortung, sodass es bei der Regierung liegt, Wege zu finden, diese gigantische Menge an hochradioaktiven Abfällen so zu entsorgen, dass sie nicht zukünftigen Generationen das Leben unmöglich macht. Und jetzt suchen die Verantwortlichen den Dialog mit der Bevölkerung – jetzt. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass einfach nur Technik gemacht wurde, weil man es machen konnte, und dabei Vorsicht und Voraussicht außer Kraft gesetzt wurden.

A. B.:

Das gleiche droht bei dem Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen. Auch in diesem Zusammenhang wird die Forderung an den Staat laut, den Umbau zu finanzieren. Er soll den Ausstieg aus der Kohle bezahlen, den Einstieg in neue Infrastrukturen und die zunehmenden Schäden durch den Klimawandel. Mich wundert da immer mehr, warum die Transformation bei uns nicht viel mehr unternehmerische Impulse freisetzt, warum die Blockade so groß ist. Wir müssen uns doch alle fragen: Wie wichtig ist uns die Zukunft? Kann das Ziel, auf das die Gesellschaft hinarbeitet, mehr sein als die Sicherung der Rente? Wie weit dürfen diese Ziele wegliegen? Jahrhunderte oder auch darüber hinaus? Was ist uns das Überleben von Korallenriffen wert? Oder das des Eisbären? 

F.-M. R.:

Wenn wir über normative Kataloge sprechen, die Verhandlungen neuer Haltungen, wird das ohne philosophische oder geschichtliche Entwürfe kaum gehen. Die Frage ist: Woher bezieht die Gesellschaft im Anthropozän ihre normativen Instruktionen? Das ist derart fundamental, dass damit große Auseinandersetzungen – über Gut und Böse, über Wahr und Falsch – verbunden sind. Zugleich führt die Frage, welche Opfer unsere Wohlfühlzone glaubt, sich leisten zu können, in das Zentrum des politischen Theaters. Auf der Bühne geht es immer darum, Haltungen zu verhandeln, neue Menschenbilder zu entwerfen bzw. Transformationen des menschlichen Selbstbilds einzuleiten, ethische Kontradiktionen auszuloten. 

H.-J. R.:

Ich sehe die Künste als Seismografen der Gesellschaft. Die Künstler versuchen, für diese Entwicklung Formen zu finden, in die zwar auch wissenschaftliche Perspektivierungen eingehen, die zunächst aber an andere Erfahrungskanäle appelliert, über die wir als Menschen verfügen und in denen wir unser Leben leben. Da hat das Theater, wie auch alle anderen Künste, eine ganz wichtige Funktion.

A. B.:

Wenn die Wissenschaft, als ein Teil der menschlichen Kultur, die Künste und in Folge die Politik in eine Richtung sprechen, können sie sich verstärken und Dinge bewegen. Für die Beschäftigung in und mit sich selbst, wie es derzeit oft noch der Fall ist, haben wir leider keine Zeit mehr. 

Ich meine auch, es gibt Bewegung. Wenn man auf die letzten zwanzig Jahre schaut, haben die Medien, die Kultur, die Politik, die Zivilgesellschaft dennoch den Klimawandel auf Platz eins der großen Themen gesetzt. Selbst in Zeiten von Corona zeigen aktuelle Umfragen in Europa, dass die Bekämpfung des Klimawandels als globale Herausforderung vorne steht. Das bedeutet, die Gesellschaft ist unterwegs.

H.-J. R.:

Ja, das Bewusstsein hat sich verändert. In den 1960er Jahren, als ich Schüler war, wurde uns in Bezug auf die Umwelt mitgegeben, dass man keine Blechbüchsen wegwerfen und das Zeitungspapier nicht in den Müll werfen, sondern bündeln und separat der Wiederverwertung zuführen soll. Heute müssen ganz andere Formen des Umgangs mit der Umwelt gefunden werden. Da wird der Bildungsbereich ganz entscheidend. Es geht darum, ein Dispositiv zu entwerfen, mit dem Kinder vom Kindergarten bis ins Gymnasium befasst werden, um die Probleme überhaupt als solche wahrzunehmen. Das ist eine gewaltige Aufgabe, die das Bildungssystem zu leisten hat, und da stehen wir erst am Anfang.

A. B.:

Es wird bald sehr auf die Jugendlichen und Kinder ankommen, die bereits mit der Problematik des Klimawandels und den Verlusten der Biodiversität in der Schule konfrontiert werden. Wir sollten uns fragen, was wir heute als Gesellschaft unternehmen können, damit wir und die kommende Generation, die die nächsten entscheidenden dreißig bis fünfzig Jahre gestalten muss, darin bestärkt werden, die richtigen Entscheidungen zu treffen. 

F.-M. R.:

Momentan besitzt die Gesellschaft nur quantitative Maßstäbe, aber die Qualitäten werden nicht benannt. Was ist denn zum Beispiel Lebensqualität?

A. B.:

Leider können wir kaum mehr fühlen, welche Umwelt uns guttut. Das hängt damit zusammen, dass der Mensch sich anders als die meisten Tierarten schnell an ganz unterschiedliche Umwelten anpassen kann. 

 

H.-J. R.:

Bei den Indigenen Nordamerikas reichten aber ein paar pathogene Keime und Alkohol, um ganze Populationen auszulöschen. Die Flexibilität geht nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn ein Parameter zu viel kippt, dann ist es aus. 

A. B.:

Aber im Gegensatz zu vielen Tiere und Pflanzen, die nur in einem sehr eng gefassten Habitat existieren können, ist der Mensch fähig, sich extremen Umweltveränderungen anzupassen, nicht nur aufgrund unserer Biologie, sondern vor allem aufgrund unserer Technik. Wir bezahlen für diesen Vorteil vielleicht damit, dass wir über keinen Automatismus verfügen, in dem eine Umwelt, die gut für uns ist, sich so in unsere DNA einschreibt, dass wir sie entsprechend achten. Das ist ein Prinzip, das anders als durch reinen Bedarf erlernt werden muss. Wenn wir uns fragen, was eine ökologische Pädagogik vermitteln soll, dann brauchen wir ein Wissen, Kompetenzen, Sinne, die uns sagen, wie sich eine gesunde Umwelt anfühlt, wie sie riecht usw. Es wird gerade erforscht, wie eigentlich die Natur beschaffen sein soll, die geschützt werden muss. Aber damit das zu einem individuellen und kollektiven Verständnis wird, müssen wir das sicher von Kindesbeinen an lernen. Deswegen wäre es gut zu klären, wie genau diese Natur aussieht, die uns enger mit ihr verbindet. 

F.-M. R.:

Ich denke, es ist auch wichtig, einen anderen Umgang mit der Zeit zu entwickeln. Das Anthropozän fordert uns auf, unsere Handlungen mit Voraussicht auf ihre Auswirkungen zu regulieren. Das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 umfasst das Leben einer Generation, die aufgefordert ist, ihre Lebensweise mit Blick auf die kommenden umzustellen. 

H.-J. R.:

Im Mittelalter wurden Kathedralen über mehrere Generationen hinweg geplant – die Gesellschaft bewegte sich in langen Zeiträumen. Die feudale Gesellschaft hat sich über Jahrhunderte in ihren Binnenstrukturen nicht wesentlich verändert. Mit der Neuzeit trat eine unglaubliche Dynamisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein, sodass Veränderungen der Lebenswelt im Laufe einer Generation sinnlich erfahrbar wurden. Dagegen ließ sich die Natur als dasjenige abgrenzen, was objektiv – da es im Grunde immer gleichblieb – erforscht werden konnte. (Vgl. dazu Mannheim 1980) In der Wissenschaft ging es darum, die ewigen Gesetze herauszufinden, welche die Dinge beherrschten. Hatte man die Kausalitäten einmal erkannt, ließen sich die Dinge nutzbar machen. Geschichtlich sind wir aber längst an einen Punkt gekommen, an dem wir begreifen müssen, dass der Planet, auf dem wir leben, selbst eine historische Größe ist, die sich mittlerweile auch in Generationszeiträumen, also in weniger als einem halben Jahrhundert, signifikant verändern kann. Das muss als Dimension erst einmal in den Köpfen der Menschen ankommen. Das ist keine einfache Aufgabe, denn beim Zeitbewusstsein handelt es sich um ein unglaublich komplexes Gefüge. Nicht nur, dass es insgesamt sehr vielfältig ist, sondern auch, weil es in unterschiedlichen Dimensionen spielt: die persönlichen Erfahrungen, die geschichtlichen Erfahrungshorizonte und nun auch evolutionäre Koordinaten aufgrund einer Beschleunigung von Veränderungen der Natur, die es in der bisherigen Geschichte der Spezies so bisher nicht gegeben hat.

A. B.:

Als entscheidend stellt sich für mich dar, ob es uns bei den Menschen gelingt, von den kleinsten soziologischen Einheiten bis hin zur Nation, dem Kollektiv, der Öffentlichkeit die Investition in etwas ganz Langlebiges, in eine ferne Zukunft, in der man nicht mehr sein wird und auch die Enkel nicht, attraktiv erscheinen zu lassen. Einen solchen Gemeinschaftssinn haben wir ja gar nicht. Dabei kommt nicht nur uns, sondern auch dem Verhalten von Bevölkerungen, die sich gerade von weniger als vier Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr in Richtung zehn Tonnen bewegen, eine Schlüsselrolle zu. 

H.-J. R.:

Man sieht in der aktuellen Pandemie Dinge, die vor einem halben Jahr jenseits aller Vorstellungsmöglichkeiten waren. Zum Beispiel, dass man mit der Hälfte der Fliegerei auskommen kann, weil sich viele An-gelegenheiten mühelos durch Konferenzschaltungen von zu Hause aus erledigen lassen. Wird das Homeoffice bleiben? Dass dadurch CO2 eingespart wird, ist evident. 

A. B.:

Leider bringen alle Corona-Lockdown-Maßnahmen bis Ende des Jahres 2020 nur sieben Prozent Einsparung an CO2-Emissionen. Die achtzig oder neunzig Prozent, die noch zu schaffen sind, stecken vor allem in industrieller Produktion, Mobilität und Haushalt und zunehmend im Digitalen. 

Aber nun zurück zur Frage der Transformation und danach, ob die Kunst, das Theater diese beschleunigt. Ich frage mich überhaupt, ob es Beispiele in der Menschheitsgeschichte gibt, wo ohne Katastrophen, Krisen und gigantische Verluste, allein aus Hoffnung auf eine bessere Zukunft, eine Transformation stattgefunden hat.

F.-M. R.:

Das Theater ist immer in die historischen Kämpfe der Zeit eingelassen und versucht, von Lessing über Schiller bis Brecht und Müller Transformationen in Gang zu setzen und zu befördern. Selbst wenn Beckett mitten in der Fortschrittseuphorie ein „No go!“ beschwört, zeitigen seine ästhetischen Innovationen Grenzüberschreitungen! Auch das Anthropozän besitzt ein enormes Konfliktpotenzial. Bruno Latour sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Trump-Regierung und der Klimakrise. Wahrscheinlich hat eine große geschichtliche Verschiebung der tektonischen Platten, auf denen unsere Realität sattelt, schon begonnen, und die Wissenschaften, die Philosophie und die Kunst müssen lernen, diese Entwicklungen zu beschreiben und fassbar zu machen. Die Leitplanken, die es unbedingt braucht, fallen nicht vom Himmel. Sie können nur Schritt für Schritt generiert werden.

H.-J. R.:

Wenn man zum Beispiel an die Dramen von Lessing denkt und an die Art von Sensibilität, die plötzlich auf der Bühne erfahrbar wurde, die es bei Molière in dieser Form überhaupt noch nicht gab, oder an die Konzeption des Theaters als moralische Anstalt durch Schiller und durch Brecht in der ersten und Dürrenmatt in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, um nur bei deutschsprachigen Dramatikern zu bleiben, verfügt die Bühne über eine lange Tradition, solche Veränderungen zu begleiten, wenn nicht gar zu antizipieren. Es wäre also an den Theaterleuten, ein Gespür dafür zu entwickeln, was man in der anthropozänen Situation auf die Bühne bringen kann, das die Menschen auch bewegt. Auch wenn nur fünf Prozent der Bevölkerung ins Theater gehen, ist es ein wichtiger Faktor. Das ist auch bei anderen kulturellen Einrichtungen nicht anders.

Bertolt Brecht: Die Gedichte. Frankfurt am Main 2007

Karl Mannheim: Strukturen des Denkens. Frankfurt am Main 1980

Michel Serres: Biogée. Brest 2010

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"

Anzeige