Theater der Zeit

Gespräch

„Alter Ego Raubkopie“

Jörg Lehmann im Gespräch mit Helgard Haug, Stefan Kaegi und Imanuel Schipper von Rimini Protokoll über ihr aktuelles Projekt, Marionetten, Deepfakes und Elon Musk

von Imanuel Schipper, Stefan Kaegi, Helgard Haug und Jörg Lehmann

Erschienen in: Puppe50 – Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin (12/2023)

Assoziationen: Rimini Protokoll

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Jörg Lehmann: Liebe Helgard Haug, lieber Stefan Kaegi, lieber Imanuel Schipper, wunderbar, dass es klappt, das wir uns hier über zoom treffen, um über euer Projekt zu sprechen, bei dem ihr zum ersten Mal mit uns kooperiert. Ich habe ein paar Fragen formuliert, die ich euch gerne stellen möchte, die folgen ein wenig einer Dramaturgie, mal sehen … Ich beginne mit der ersten Frage: „Alter Ego Raubkopie“ ist der Titel dieses Projektes für den neuen Standort der Puppentheatersammlung in Dresden 2024. Was ist der Glutkern des Unternehmens? Welche Frage steht im Zentrum? Und, davon abgeleitet, wie kam es, dass diese Arbeit zu uns, in die Ernst Busch, in die Abteilung Puppenspielkunst gefunden hat?

Stefan Kaegi: Also, die Arbeit geht ja zurück auf eine Anfrage von der, wenn ich mich nicht irre, zweitgrößten Puppentheatersammlung der Welt in Dresden, die ein neues Museum bekommt und dort Künstlerinnen und Künstler einlädt, jeweils für ein Jahr eine Installation zu machen. Und wir haben uns dann gefragt: Puppe. Was ist Puppe im Zeitalter von Deepfakes und künstlicher Intelligenz, besteht eigentlich die Gefahr, dass wir selber, unser Abbild zur Puppe für andere wird? Und: Was geschieht wiederum mit uns, wenn wir das erleben? Und können wir diesen Konflikt erfahrbar machen – in einer Installation?

Helgard Haug: Das Interessante war, dass wir eine Carte blanche bekamen. So haben wir anfangs erst mal realisiert, wie weit entfernt unsere künstlerische Praxis vom klassischen Puppenspiel entfernt ist und wie wenig Erfahrung wir damit haben. Es war also ein gegenseitiges Aufwecken, die „schlafende Sammlung“ uns und nun wir die „schlafende Sammlung“. Spannend waren für uns eher Begrifflichkeiten als konkrete Puppen oder Stückvorlagen. Der Begriff „Manipulationen“ war schnell relevant. Was bedeutet das im Puppenspiel? Aber auch, wie werden Bilder manipuliert, wie wird Gesagtes manipuliert, und wie werden Nachrichten manipuliert? Wie funktioniert das? Und wie genau sind wir selber in so ein Spiel mit unserer eigenen Identität im digitalen Raum verwickelt? Dieses Verhältnis hat uns interessiert: Wer spielt, wer wird gespielt, was spielt uns, wo spielen wir? Wer macht die Regeln? Und es ist aufregend, mit diesen sehr aktuellen, technischen, aber auch politischen Fragestellungen in so eine alte Kunstform wie das Puppenspiel zu gehen. Um diese Reibung geht es. So finden sich die Besucher:innen am Anfang der Installation auch in einem sehr altmodischen, klassischen Setting wieder …

JL: Ein Zwischenruf von mir: Es ist aber nicht eure erste Arbeit mit dieser „alten Kunstform“, mit Puppe! Wir an der Busch verfolgen ja eure Arbeiten mit großem Interesse, ich glaube „Situation Rooms“, das war 2013, wo Dinge bereits eine tragende Rolle gespielt haben. Wo der Vorgang, Dinge in die Hand zu nehmen, bei den Teilnehmenden plötzlich einen theatralen Vorgang oder eine theatrale Kommunikation ausgelöst hat. Dann natürlich „Uncanny Valley“, ich glaube, das habe ich 2019 in Berlin gesehen, mit Thomas Melle als Roboter auf der Bühne. Ich wollte nur sagen, dass das Interesse von unserer Seite an euren Arbeiten durch ihre Schnittpunkte zu Puppe, zum Theater der Dinge schon länger da ist.

HH: Absolut klar, die größere Frage, die dahintersteckt, ist eine, die uns auch antreibt und in vielen Projekten ihren Ausdruck findet oder gefunden hat. Also in ihrer Übertragung. Aber ich sag mal so: Mit einer Marionette zu arbeiten, also ganz konkret mit einer Holzpuppe an Fäden, ist für mich Neuland. (lacht)

JL: Das wäre die zweite Frage, die mich interessiert. Was bedeutet denn das für euch, die ihr euch mit Deepfake und mit Avataren und mit diesen ganzen gesellschaftlich hochbrisanten Themen in diesem Stück oder in dieser Installation, wie du gesagt hast, Stefan, beschäftigt, wenn ihr auf diese ganz haptischen Zusammenhänge trefft? Also wenn ihr mit Christian Werdin in der Werkstatt steht, der mit einem Set von Schnitzmessern arbeitet und vermutlich aus Lindenholz, ich weiß es nicht …

HH: Soweit ich weiß, ist es Birne!

JL: … aus Birnenholz, danke, jetzt diesen Menschen Elon Musk da herausschneidet? Oder wenn ihr auf jemanden wie unseren Werkstattleiter Ingo Mewes trefft. Also, verändert das eure Arbeit, die Begegnung mit diesen Künstlern, die sehr haptisch arbeiten? Hat das möglicherweise neue Impulse in eure Arbeit hineingebracht?

HH: Das sind ja Übersetzungsprozesse, die auf ganz, ganz vielen Ebenen gleichzeitig stattfinden und die super spannend sind. Wir übersetzen Ideen in Sprache und Räume, aber auch in Codes, wenn wir mit Codern und Programmierern arbeiten, wir übersetzen das aber eben auch in einen ganz, ja, wie du sagst, haptischen Vorgang, bei dem zu beobachten ist, wie aus einem Stück Holz eine Figur entsteht, die ein Abbild einer realen Person ist. Der Puppenmacher Christian Werdin hat die Arbeitsschritte dokumentiert und man sieht, wie er mit seinen erfahrenen Händen, die das schon hundertmal gemacht haben und mit dem Material umgehen können, aus einem Stück Holz eine Figur erschafft. Dann wird daraus langsam eine Person, die den Betrachtenden wieder in ein Verhältnis setzt zu dem Menschen, den diese Puppe repräsentiert. Und spannend ist, dass es eine streitbare Person ist, die weltweit bekannt ist und ihrerseits das Spiel mit Menschen und die Manipulation von Medien und Märkten perfekt beherrscht: Elon Musk …

Imanuel Schipper: Während des Entwicklungsprozesses entsteht oft eine dynamische Wechselwirkung zwischen technologischen und haptischen Aspekten. Einerseits zeigt die existierende Technologie Beschränkungen auf. Sie funktioniert oft nicht so, wie wir das möchten. Das stellt uns vor Herausforderungen, die gelöst werden müssen. Andererseits entwickelt sich die Technologie selber sehr rasch weiter. Bei einigen bestehenden Apps im Bereich der Deepfake-Technologien überrollen sich die Fortschritte: Kaum haben wir einmal gezwinkert, ist schon eine neue Funktion verfügbar! Das ist unglaublich inspirierend, erweitert den Horizont und das Potenzial an Möglichkeiten. Gleichzeitig wächst auch der Pool der Ideen, die man nicht mehr umsetzen muss, weil man sie schon kennt. Dieses Hin und Her im Kreationsprozess ist anregend und herausfordernd zugleich.

SK: Also für uns ist das Haptische schon immer zentral gewesen. Wir suchen zwar immer wieder nach komplexen Inhalten, aber wir überführen die gerne in den Körper. Und da gibt es vielleicht noch einen Aspekt des Marionetten- oder Puppentheaters, wo ich eigentlich schon lange eine Verwandtschaft sehe, weil wir ja gerne das Publikum dazu verführen zu partizipieren und es, so könnte man vielleicht im übertragenen Sinne sagen, an Fäden durch Installationen oder durch den Stadtraum führen und ihm da natürlich auch bestimmte Freiheitsgrade zugestehen. Ein Wort, was wir jetzt gerade an der Puppe gelernt haben. Uns interessiert: Wie bringt man Materialitäten zusammen, während der Kopf natürlich auf abstrakteren Ebenen mitarbeitet?

JL: Das ist ein schönes Stichwort, das du gesagt hast: geführt werden. Viele Arbeiten, die ich von euch erlebt habe, beziehen ihre Wirksamkeit daraus, dass ich als Zuschauender partizipierend geführt werde. In einem Setting, das ich miterlebe und das mir möglicherweise eine neue Wahrnehmung schenkt. Habt ihr es diesmal mit der Marionette vielleicht das erste Mal mit einem Material zu tun, was auch widerständig ist? Wie ist das mit dem Zufall, spielt der Zufall in euren bisherigen Arbeiten eine Rolle? So eine Marionette macht ja, zugespitzt gesagt, nicht immer das, was der Spielende will. Spielt der Zufall, spielt diese Freiheit des Zufalls in euren bisherigen Arbeiten eine Rolle und ist das vielleicht diesmal angesichts des Materials noch mal neu zu bedenken?

HH: Ich glaube, es ist wichtig, bei den Beispielen unserer Projekte zu differenzieren. Bei „Situation Rooms“ trifft die Beschreibung zu, da ging es tatsächlich um eine Art Führung oder Verführung, um eine Präzision. Es war uns daran gelegen, dass die Besucher:innen möglichst perfekt das nachvollziehen, was eben vorher in diesen Räumen stattgefunden hat und auf Film gebannt wurde. Das Stück lebte genau davon, dass die Tür im Film fast zeitgleich mit jener im realen Raum aufgeht. Weil die vorgegebene Handlung von den Besucher:innen perfekt ausgeführt wurde. Es ging darum, hier keinen Spielraum zu lassen und alle in dieses Räderwerk zu schicken. Es gibt aber auch andere Arbeiten, in denen die Abweichungen interessant sind. Also wo es wirklich darum geht zu sehen, wie spielen die Zuschauer:innen mit einer Vorlage, wie gehen sie damit um, was erfinden sie neu. Wie bringen sie sich ein. Und jetzt hier bei dem Puppenprojekt ist es total spannend zu verstehen, wie schwierig das überhaupt ist, mit einer Puppe zu spielen. Wann übernimmt die Puppe, wann verselbstständigt sie sich – Ingo Mewes hat uns das am Beispiel des Laufens gezeigt. Wo bekommt die Puppe ein Eigenleben, mit dem man rechnen oder mit dem man arbeiten muss, wann schlackert so ein Körper nach und hat eine eigene Dynamik, was macht die Figur „menschlich“, wo überrascht sie, wo muss man so eine Puppe zum Beispiel mal niesen oder sich verschlucken lassen? Erwähnt haben wir bislang noch nicht, dass die Puppe ja wiederum nicht von einem Menschen ge-
spielt wird, sondern ein Roboter diese Figur manipuliert …

IS: In vielen Arbeitsprozessen, zumindest in denen, die ich kenne, spielt das Zusammenspiel von Zufall und Kontrolle eine wesentliche Rolle. Dies wird oft in Diskussionen und Verhandlungen ausgelotet. Ein gutes Beispiel dafür ist das Stück „Top Secret International“ (2017), das so konzipiert ist, dass kein Zuschauer das gleiche Erlebnis hat wie ein anderer. Oder „Welt-Klimakonferenz“ von 2015, wo es Teil des Konzepts war, dass die Zuschauer am Ende des Stücks ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Versionen austauschen konnten. Man kann zwar bestimmte Aspekte steuern, aber andere Teile bleiben unkontrollierbar. Man kann beispielsweise Optionen vorgeben, sie auch gewichten und promoten, aber welche Wahl letztendlich getroffen wird, bleibt offen. Dieses Spannungsfeld zwischen der gut gestalteten Führung der ästhetischen Erfahrung und der Kreation eines unkontrollierbaren Zufalls durch die partizipative Wahl der Zuschauenden ist für uns ein wiederkehrendes und wichtiges Thema. Dies spiegelt sich in diesem Projekt in den physischen Gegebenheiten der Marionette, die sich ebenfalls nicht komplett kontrollieren lässt.

JL: Mir fällt auch noch deine Arbeit, Helgard, „Chinchilla Arschloch waswas“ von 2019 ein. Was als Aufführung, vermute ich, dann immer ein Zufall war, der stattgefunden hat. Ich glaube, wer die Arbeit zweimal gesehen hat, hat natürlich zwei total verschiedene Abende erlebt. Mir ging es vor allen um Projekte wie eben „Situation Rooms“, wo es Teil eurer künstlerischen Strategie war, das Publikum sehr eng zu führen …

HH: Genau.

JL: … damit genau dieser Effekt entsteht. Daraus abgeleitet eine nächste Frage: Wir haben schon über den führenden Arm gesprochen, Helgard hat ihn erwähnt, der diesmal kein Menschenarm sein wird. Wir freuen uns natürlich riesig, dass ihr nicht nur bei uns arbeitet, sondern dass ihr ganz konkret mit unseren Studierenden, in diesem Fall aus dem dritten Studienjahr, arbeitet und mit ihnen diesen Arm kreiert. Was sind eure Erwartungen an die Studierenden, was ist das Forschungsfeld, wo ihr sagt, hier brauchen wir vielleicht nicht nur Hände, die das machen, sondern hier brauchen wir Leute, die das gerade studieren?

SK: Das Faszinierende an diesem Projekt ist: Wir haben jetzt an einem Tag mal begonnen zu schauen, wie ist diese Puppe zu steuern, und die wird ja eben nicht nur durch einen Menschen gesteuert. Das ist sozusagen ein multipersonaler Puppenspieler / eine Puppenspielerin. Da ist zum Beispiel eine Studentin dafür zuständig, den Kopf zu drehen und in den Nacken zu legen, eine andere für das Bewegen der Beine und jemand anderes für die Arme und so teilt sich das auf. Ich glaube, im Moment sind wir bei 5 bis 6 Leuten. Das ist natürlich ungeheuer faszinierend, das könnten wir selber ja gar nicht leisten. Da freuen wir uns natürlich auf die Expertise von Menschen, die eben ein sehr genaues Gefühl dafür entwickelt haben, wie indirekt agiert wird. Es wird ja nicht über die Fäden agiert, sondern wir suchen gerade noch mit Julian Jungel vom Labor für Digitalität und Ingo Mewes nach dem richtigen Interface, wie das dann auszusehen hat, und ja, da wird viel Expertise einfließen können.

JL: Das ist, glaube ich, auch das Spannende für das Studienjahr, dass es etwas mit künstlerischer Forschung zu tun hat. Deswegen sitzen und sprechen wir jetzt hier. Das Buch wird im dritten Teil überschrieben sein mit WAS WIRD? Ich glaube, es ist ein Projekt, was ihr uns da beschert habt, was möglicherweise in die Zukunft gerichtet ist, was auch für uns etwas Neues ist. Und ich glaube, das spüren auch die Studierenden, (natürlich großartig unterstützt durch Ingo Mewes und Julian Jungel), dass sie, wie du es gerade gesagt hast, mit ihren besonderen Fähigkeiten gefragt sind. Eben als Spielende, die auf der Bühne auch noch einmal anders denken in dem Sinne, dass sie nicht nur ihren eigenen Körper als Medium der Darstellung betrachten, sondern auch dessen Verlängerung, die Puppe. Ihr habt schon die Puppentheatersammlung Dresden erwähnt, ohne die es vielleicht das Projekt gar nicht gäbe. Was sind eure Überlegungen, diese 12000 Puppen sind auch für uns an der Hochschule bisher gefühlt weit weg – Helgard hat vorhin gesagt, ihr habt euch gegenseitig aufgeweckt. Werden die Objekte, die da in ihren Kästen sitzen oder hängen, werden die eine Rückwirkung auf euer Projekt haben? Soll das, was ihr vorhabt, mit dem, was ihr vorfindet, kofabulieren?

HH: Es ist auch unsere Aufgabe, thematisch auf die Sammlung zurückzugreifen. Und unsere Installation geht ja über das bereits erwähnte Marionettenspiel hinaus. Es ist ein Parcours durch unterschiedliche Räume: vom Marionettentheater-Setting auf die Hinterbühne, wo man auf den Roboterarm schaut, darauf, wie der Roboter mit der Puppe interagiert. Dann finden sich die Besucher:innen in einer Art Gegenüberstellung wieder und im weiteren Verlauf geht es dann stärker um die Frage, wie Daten, die vorher erhoben wurden, manipuliert werden können. Also wie wird im digitalen Raum gespielt? Von dort aus gehen die Besucher dann in eine eher klassische Ausstellungssituation, wo wir Puppen aus der Sammlung ausstellen werden, die thematisch relevant sind. Also zum Beispiel, was ist für uns so eine Kopie von einer Kati Witt, die da mal als Puppe dargestellt wurde, was macht das, wenn ich der heute gegenüberstehe, was hat das mit dem Original zu tun, welche Puppen wurden überhaupt, ja doppelt hergestellt oder haben Doppelgänger, mit solchen Fragen beschäftigt sich der Ausstellungsteil. Und die ganze Idee der Sammlung ist ja auch, dass man einen sehr, sehr kurzen Weg hat, dass man mit dem Reichtum dieser Sammlung am neuen Standort sehr aktiv umgehen kann.

JL: Das finde ich interessant, das ist eine sehr schöne, geplante Wechselwirkung oder Rückwirkung in die Ausstellung hinein.

JL: Imanuel hat vorhin gesagt, wie schnell das im Moment geht, wie ihr wahrscheinlich fast überholt werdet von der Entwicklung dieser neuen Technologien. Es ist letztlich eine Entwicklung von Dingen – auch die Puppe ist ja ein Ding. Also die Dinge und unser Verhältnis zu ihnen entwickeln sich rasant. Wir sitzen jetzt auch gerade vor einem Laptop und nur deshalb können wir über große Entfernungen miteinander sprechen. Spielt dieses Phänomen, das ist meine letzte Frage, bei eurem Projekt auch eine Rolle? Was können wir von der Puppe lernen?

SK: Es ist ja ein Medium, das uns spiegelt. Worin wir uns wiedererkennen, wo also gewisse Prozesse von Identifikation, Empathie trickreich umgelenkt werden. Das ist erst mal sehr faszinierend und setzt sich in der Frage fort, wozu künstliche Intelligenz in der Kunst nützlich sein kann. In beiden Feldern spielt eine große Portion Projektion mit, so dass man eigentlich wie in einem Science Fiction die ganze Zeit denkt, da steckt doch Leben drin oder diese künstliche Intelligenz wird uns womöglich irgendwann komplett ersetzen … Was da alles so geschrieben wird, zeugt ja davon, dass die Puppe oder der Roboter offenbar ungeheuer anregend ist. Seine Allmacht ist zwar zum großen Teil fiktiv, aber das macht natürlich eine poetische Reflexion über die eigene Existenz möglich.

HH: Andererseits ist die Puppe, mit der wir es zu tun haben, ja nicht gerade ein Sympathieträger. Das finde ich total interessant. Elon Musk mit seinem Handy in der Hand: Das ist auch so ein Clash der Materialien, die aus Holz geschnitzte Figur, die dann aber mit sehr aktueller Technik ausgestattet wird. Mit seinem Handy generiert die Holzpuppe die Daten, die später manipuliert werden. Es ist also nicht irgendeine Kasperpuppe, sondern eine problematische Figur, an der wir uns auch abarbeiten werden. Das ist vielleicht genau dieses Pinocchio-Gefühl, was ist das für ein Verhältnis und wen hole ich mir da ins Haus oder auf die Bühne, wem gebe ich eine Bühne?

JL: Und er wird, wenn ich euer Projekt richtig verstehe, den metaphorischen Raum verlassen, in welchem man lediglich sagt: „Marionetten, ach, die hängen ja an Fäden, die sind ja ferngesteuert!“ Wenn ich also versuche, zu erahnen, was ihr da vorhabt, dann wird Elon Musk sich sprichwörtlich auch von den Fäden lösen, oder?

HH: Total. Glaub ich auch. Zum Schluss hängen wir an Fäden. (lacht) Ja.

JL: Und das kann dann, Stefan hat es gerade eine Fiktion genannt, vielleicht eine utopische, eine befreiende Erfahrung sein … oder möglicherweise auch eine sehr bedrückende. Also, in diesem Sinne bin ich sehr gespannt, was wir dann im letzten Raum fühlen und denken werden.

IS: Von Beginn an haben wir uns immer wieder mit dem Begriff Freiheit beschäftigt. Sind wir wirklich frei oder sind wir Marionetten, deren Handlungen und Gedanken von unbekannten Kräften gesteuert werden? Werden wir auch von jemandem gespielt? (lacht) Und ich sage das, ohne in Verschwörungstheorien abzugleiten …

JL: Ja, klar.

IS: Wessen Fäden folgen wir, was bedeutet Freiheit? Das Marionettenspiel bietet die Möglichkeit, über verschiedene Konzepte von Freiheit nachzudenken, wie die „Freiheit der Marionette“ oder die Rebellion der Marionette gegen ihren Spieler. Können Marionetten, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, trotzdem eine Art Dialog mit dem „Spieler“ führen? Wenn wir diesen Gedanken auf neue Technologien wie Deepfake anwenden, wird es komplexer. Diese Technologie birgt sowohl Gefahren als auch Chancen und fordert uns heraus, über die Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres Glaubens nachzudenken. In einer Welt, in der das Sehen nicht mehr zwangsläufig Glauben schafft, müssen wir uns fragen: Was bedeutet „Wahrheit“ eigentlich noch? Was weiß ich? Das Sprichwort „Ich glaube es erst, wenn ich es gesehen habe!“ verliert mehr und mehr an Bedeutung und es wird klar, dass es vielleicht nie als Garant für Wahrheit dienen konnte.

JL: Kleist schrieb schon 1801 an seine Verlobte den schönen Satz: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün –
und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört.“ Es ist spannend. Also, ich bin neu inspiriert und gespannt auf das, was ihr macht und was ihr vorhabt – in dieser aktuellen Arbeit mit dem Studiengang Puppenspielkunst der „Ernst Busch“. Danke für das schöne Gespräch!

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