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Kommt Organisation!
Das Model, die Russen und eine Handvoll Dollar – Ein Berlinkrimi über die Neugründung von Theater der Zeit
von Frank M. Raddatz
Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)
Assoziationen: Dossier: TdZ-Geschichte Hebbel am Ufer (HAU)
Es wird 1991 gewesen sein, als mich in Köln der mir nur flüchtig bekannte Harald Müller mit der Frage überraschte, ob ich, falls eine Anschubfinanzierung für Theater der Zeit bewilligt würde, neben Martin Linzer und Friedrich Dieckmann für eine Neugründung von Theater der Zeit als Herausgeber mit westdeutschen Wurzeln zu Verfügung stände. Ich sagte kurzerhand zu. Anscheinend hatten mir meine Heiner-Müller-Interviews in der Zeitschrift TransAtlantik zu einer gewissen Popularität verholfen. Als „berüchtigt“ sollte sie später einmal, nicht ohne Ranküne, Martin Linzer bezeichnen. Ansonsten hatte ich mit Theater der Zeit nur 1991 Kontakt, als ich um ein Interview mit dem Schriftsteller und Dramatiker Jochen Berg gebeten wurde, allerdings habe ich das vereinbarte Honorar nie gesehen. Bald darauf ging der Laden in Konkurs.
Bei unserer ersten Sitzung als Herausgeber zum Neustart schlug der sonst so besonnene Friedrich Dieckmann vor, die etwa 150 000 DM, die uns zur Verfügung standen, mit vier Ausgaben auf den Kopf zu hauen, woraufhin sich Martin Linzer bedenklich verfärbte und rasant einem Kreislaufkollaps näherte. Wir beschlossen fürs Erste ein zweimonatliches Erscheinen. Jahre später freute sich Friedrich, dass wir zu den ganz wenigen Printmedien des Ostens gehörten, die auch im vereinigten Land ihren Weg machten. Er war es auch, der im Dezennium darauf die Verhandlungen führte, als der Friedrich Berlin Verlag, der Theater heute, tanz und so weiter herausgibt, das Heft aufkaufen wollte.
Zu einer unserer Herausgebersitzungen quartierte mich Harald Müller in einem gerade eröffneten Künstlerhotel in Berlin-Mitte ein. Die Hoteletage im dritten oder vierten Stock befand sich in einem eher etwas abgewetzten Haus, das einst in der Nähe der Mauer gestanden hatte – mit dem Charme der Dekadenz ausgestattet, der Berlin in diesen Jahren des Umbruchs nicht abgesprochen werden konnte. Am Abend besuchte ich eine Veranstaltung mit Günther Rühle – vielleicht im Hebbel-Theater oder in der Akademie der Künste – mit dem Thema „Die Zukunft des Theaters“, „Theater ohne Autoren“ oder einem dieser Dauerbrenner. Damals waren die Nächte in Berlin noch ausgesprochen lang und exzessiv. Trotzdem erinnere ich mich noch sehr gut, wie sehr mich die drei Gestalten verwunderten, die – es mochte zwischen drei und vier Uhr sein – auf dem Hotelflur herumlungerten.
Am nächsten Morgen weckte mich ein nachdrückliches Pochen an meiner Zimmertür. Statt einer energischen Putzkraft stand ich einem aufgeregten Hotelgast gegenüber, der mir mitteilte, dass jemand 25 000 Dollar aus einem der Zimmer entwendet habe und sich alle Bewohner der Unterkunft in der Küche versammeln sollten. Zu dieser Population zählten, wie sich schnell herausstelle, etliche Russen. Einem von ihnen war der Geldbetrag abhandengekommen. Für mich stand fest, dass mich das Ganze nichts anging. Trotz meines Katers hörte ich mir die vorgetragenen Arien mit vorgetäuschtem Interesse an. Am Ende wurden wir eindrücklich gebeten, in uns zu gehen und das Geld wieder rauszurücken, denn sonst – so wörtlich: „Kommt Organisation!“
Ich weiß nicht, ob ich mit Heiner Müller verabredet war. Aber gegen Mittag saßen wir nahezu ungestört im sonnenbeschienenen Hof des Berliner Ensembles, und ich erzählte von meinem Abenteuer. An der Stelle, wo es hieß: „Kommt Organisation“, unterbrach er mich mit einer Dringlichkeit, die ich sonst nicht von ihm kannte und die mir noch heute im Ohr ist: „Du musst sofort da weg!“ Irgendwie gelang es mir, auch ohne Handy, Harald Müller zu überzeugen, dass er mich mit seinem Auto – damals fuhr er noch keinen japanischen Flitzer – schleunigst mit meinem Gepäck von dem kriminell durchseuchten Hotspot abholen müsse.
Im Hotel war zwar noch nicht die Organisation eingetroffen, aber ein osteuropäisches Model, dass sieben Sprachen beherrschte und die Cover von Cosmopolitan, Vanity Fair und ähnlichen Magazinen schmückte. Wir hatten uns bei der Rühle-Veranstaltung kennengelernt. Sie hatte sich erkundigt, woher ich komme. Als ich wahrheitsgemäß antwortete: Stuttgart, hatte sie begeistert erwidert, dass das bekanntlich die Heimat des unvergleichlichen Shakespeare sei. Mein verstörter Blick veranlasste sie zu einer Selbstkorrektur. Sie habe natürlich Schiller gemeint, den sie zugleich mit ein paar schwärmerischen Attributen belegte. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt. Jedenfalls konterte ich: „Nietzsche nennt ihn den Moraltrompeter von Säckingen!“ Darauf hielt sie inne, starrte mich ungläubig an und jubilierte in veränderter Tonlage: „Ich bin extra aus den USA gekommen, um einen Deutschen zu finden, mit dem ich mich über Nietzsche unterhalten kann!“ Diese Eröffnung entwaffnete mich in Sekunden, und wir verabredeten uns zu einem Gespräch über den Roman „Und Nietzsche weinte“ (im Original „When Nietzsche Wept“) des amerikanischen Autors Irvin D. Yalom, der mir völlig unbekannt war und erst im kommenden Jahr ins Deutsche übersetzt werden sollte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich die Saga bis heute nicht gelesen habe. Jetzt saß sie also in der Küche des Künstlerhotels und diskutierte in einer mir unbekannten Sprache über den Vorfall der letzten Nacht. Mich überkam siedend heiß die Erkenntnis, dass die Organisation ein vollkommen falsches Bild von mir bekommen würde, sollte sie mich mit einer derart polyglotten und auffälligen Dame antreffen. Ich sah meine Chancen, unbeachtet zu verschwinden, rapide sinken.
Irgendwie gelang es mir, meine Bekannte aus der Küche in das Auto von Harald zu lotsen, das vor dem Gebäude auf mich wartete. In besagter Küche begann die finale Generalversammlung. Ich stellte mich dazu, ging nach einer Weile wieder hinaus und packte während meines vorgetäuschten Gangs auf die Toilette einige meiner Sachen. Dann ging ich wieder zurück, hörte eine Weile zu, ging wieder hinaus, packte den Rest meiner Klamotten zusammen, nahm wieder an dem Meeting teil. Dann ging ich ein drittes Mal hinaus, schnappte mein Gepäck, rannte die Treppen hinunter und warf mich in den Wagen. Harald gab Gas und brachte mich zu einer Familienpension im Osten der Stadt.
Gefühlte 14 Tage darauf rief meine besorgte Mutter in Stuttgart an und fragte: „Bist du verletzt?“ „Warum sollte ich?“, entgegnete ich kopfschüttelnd.
„Aber die Russenmafia ist doch hinter dir her!“ Heiner Müller hatte in einer Berliner Stadtzeitung die Anekdote mit Nennung meines Namens zum Besten gegeben, um die Ausbreitung von kriminellen Strukturen in der ehemaligen Hauptstadt der DDR zu veranschaulichen. Das war sensationslüsternen Reportern der Neuen Presse in Hannover, meiner Heimatstadt, aufgefallen und führte zu einem Artikel mit dem fetten Titel: „Dr. Raddatz auf der Flucht“. Mit Foto. Meine Oma war darauf aufmerksam geworden und informierte postwendend meine Mutter. Das restliche Telefonat diente der Untermauerung meiner These, dass das, was in den Zeitungen stehe, zumeist erstunken und erlogen sei. Natürlich glaubte mir meine Mutter kein Wort, merkte aber, dass es mir für meine Verhältnisse ganz gut ging. Ansonsten brauchte ich noch eine Weile, bis ich realisierte, dass das ganze Palaver in der Küche nur den Zweck gehabt hatte, dass ich von meiner nächtlichen Begegnung im Hotelflur erzählte und womöglich die drei Gestalten an Ort und Stelle identifizierte. Nur in der Hektik war mir das glatt entfallen. //