Theater der Zeit

Das Haus Kirchgasse 13

Schulei, Helferei. Über 750 Jahre Geschichte

von Valeria Heintges

Erschienen in: Zwischen Zwingli und Zukunft – Die Helferei in Zürich (09/2022)

Assoziationen: Schweiz

Anzeige

Anzeige

1270 bis 1860: Leutpriesterhaus, Schulei, Helferei

Vom Haus der Leutpriester, also der Pfarrer, über die Schulei zur Helferei zum Kulturhaus Helferei – das Haus an der Kirchgasse 13 in der Zürcher Altstadt hatte im Laufe seiner Geschichte viele Namen und Funktionen. Kein Wunder, wird es doch schon 1270, also vor über 750 Jahren, als Wohnsitz des Chorherrn und Leutpriesters Walcho erstmals er­wähnt. Manche Holzbalken in der Zwingli-Stube im ersten Stock stammen tatsächlich aus der Zeit um 1330 bis 1350, wie dendrologische Untersuchungen ergeben haben. Bis 1412 wird das Haus in Steuer­büchern immer wieder als «Lütpriesters hus» genannt; später als «Schulei» oder Schulhof, nachdem die Leutpriester und der damalige Schulherr Heinrich von Randegg ihre Amtsstuben getauscht hatten.

Eine Schulei ist es auch noch, als 1525 der Re­for­mator Ulrich Zwingli einzieht, der sich Huld­rych nennt; die ersten sechs Jahre seiner Amtszeit wohnte er im Haus gegenüber. Zwingli ist nicht nur Leutpriester am Grossmünster, sondern auch Schulherr des Carolinum, der Zürcher Theologenschule. Nur sechs Jahre später, 1531, stirbt er in der Schlacht von Kappel. (zu Ulrich Zwingli siehe Extratext)

Nach Zwingli wohnen viele, mehr oder weniger bekannte Lehrer im Haus: sein direkter Nachfolger Theodor Buchmann aus Bischofszell, der Professor am Carolinum ist, sich Bibliander nennt und sich als Alttestamentler und Übersetzer des Korans einen Namen macht. Johann Jakob Wick sammelt Erzählun­gen von Wundern, Unfällen und Verbrechen – heute, so könnte man mutmassen, wäre er wohl begeisterter Krimileser. Ein anderer ist Kirchen­his­toriker Johann Heinrich Hottinger, er wird im 17. Jahrhundert als Orientalist bekannt und lehrt einige Jahre als Professor an der Universität Heidelberg.

Fast 450 Jahre lang bleibt das Haus an der Kirchgasse 13 eine Schulei, bevor das Grossmünsterstift 1832 aufgehoben wird. Dann geht es über an den Kanton, etwas später an die Kirchgemeinde. Weil jetzt die Diakone einziehen, die Helfer im Gottesdienst, erhält das Haus schliesslich den Namen «Helferei».

1860 bis 1974: Die Kapelle – das Herz des Hauses

Im Zuge der Neuordnung wird auch das ­Chor­herrenstift nebenan abgerissen und neu gebaut. Weil dadurch einige Räume umgestaltet werden, fehlt ein grosser Saal etwa für Gottesdienste und als ­Versammlungsort für die fran­zösische Gemeinde. Deshalb baut man 1858 bis 1860 nach den ­Plänen von Johann Jakob ­Breitinger einen um ein Stockwerk erhöhten Querbau. In dessen Erd­geschoss wird die Kapelle, eine hochmoderne Konstruktion aus Eisensäulen und -trägern, «gewissermassen wie eine Schub­lade eingeschoben», wie der Historiker Matthias Senn formuliert.

Die Kapelle im Stil englischer Tudorgotik entsteht also aus recht pragmatischen Gründen. Wer das Haus heute kennt, kann es sich ohne sie gar nicht vorstellen. Nur folgerichtig, dass sie 1974 zu einem Mehrzweckbau umgebaut und 2014 auch technisch aufgewertet wird, schliesslich ist der streng gegliederte, erhabene Raum längst das Herz des Gebäudes. Werner Gysel erinnert sich, dass er zum Abschluss seines Theologiestudiums eine ­Prüfungspredigt von der Kanzel herunter halten musste. Als er 1977, gerade zum Grossmünster-­Pfarrer ernannt, das Haus erneut betritt, erkennt er es fast nicht wieder: «Dem verwinkelten Gebäude war das Muffige durch eine umfassende Renovation bis in die letzten Winkel ausgetrieben worden. Aus der Kapelle war ein Mehrzweckraum mit Design, aus der Helferei das Zentrum Helferei geworden, die müde Orgel war verschwunden.»

Im Vorfeld der Umbauten wird die Kapelle als so marode eingeschätzt, dass ein erster Entwurf vorsieht, sie abzureissen und durch einen Neubau zu ersetzen. Das allerdings stösst auf vehemente Kritik, in einer Volksabstimmung wird das Projekt klar abgelehnt. Der Streit ist so heftig, dass er heute als «markanter Wendepunkt im denkmalpflegerischen Umgang mit historischer Bausubstanz in der Zürcher Altstadt» angesehen wird, wie Historiker Senn urteilt.

1974 bis 2014: Vom Gemeinde- zum Kulturhaus

Der Umbau kostet so viel, dass der dafür zuständige Kirchenpflegepräsident Hugo von der Crone befindet, er sei nicht gerechtfertigt, wenn hier lediglich ein, zwei Veranstaltungen pro Monat stattfinden würden. Von der Crone bringt die Idee eines «Zen­trums für die ganze Stadt» auf, «eines Ortes, der einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung» stehen könnte und für den ein «Zentrumsleiter» angestellt werden sollte, wie Matthias Senn schreibt. Die Idee wird angenommen, drei Jahre später spricht sich auf einer Sitzung weiterhin eine Mehrheit für die Änderungen aus. Trotzdem folgen Diskussionen und Kompetenzstreitigkeiten, und es wird Jahrzehnte dauern, bis das Kulturhaus Helferei, wie es sich ab 2004 nennt, nicht mehr ein vornehmlich theologisch geprägter Ort für die Gemeinde, sondern ein wirkliches Kulturhaus ist, das ein eigenes Profil entwickeln kann und darf. Streit hat es seitdem nur noch um den Dritte-Welt-Laden gegeben, dessen Mitglieder nicht nur Waren aus Entwicklungsländern verkaufen, sondern auch deutliche politische Einmischungen auf Flugblättern verteilen wollen. Ihnen wird der Mietvertrag gekündigt. Der «heftigen Kritik aus der Öffentlichkeit hatte sich die Kirchenpflege zu stellen», schreibt Senn anspielungsreich. Ähnlich umstritten das anfänglich herrschende Alkoholverbot. Es wird immer weiter aufgeweicht – erst mit Apéros im Garten, schliesslich mit einer Erlaubnis im ganzen Haus. Die Realität schafft Fakten.

Seit 2014: Ein Haus, viele Funktionen

Im letzten grossen Umbau von 2012 bis 2014 versucht Architekt Peter Joos, die widerstreitenden Nutzungen des Hauses zu entflechten. Seither können die Bewohner:innen über den Garten zu den sieben Wohnungen in den oberen Etagen gelangen, und die Büros der Helferei-Mitarbeitenden liegen nur noch im Erdgeschoss. Die Kapelle kann wieder direkt über die Kirchgasse betreten werden, und die Zwingli-Stube wird von einer Säule getragen, deren Holz eine 300 Jahre alte Eiche aus dem Neuwald bei Romanshorn liefert.

Von den legendären Treffs der Jugendlichen am Cheminée kann man nur noch von Ehemaligen hören, die in Erinnerungen schwelgen. Denn dort, wo sich heute die grosse, moderne Küche befindet, war einst ihr Jugendraum. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was da alles am offenen Feuer geredet, philosophiert und konsumiert wurde.

Treffpunkt ist die Helferei heute noch. Anna Huber, die die Betriebsadministration innehat und dafür auch auf fünfzehn Hilfskräfte zurückgreifen kann, versteht ihr Büro als «Knotenpunkt» zwischen den verschiedenen Funktionen: Das Haus ist ein Ort für Kulturprogramm, ein Ort mit modern ausgestatteten Räumen, die jeder mieten kann, mit einem Restaurant, das Mittagessen und einen Cateringservice anbietet, und auch noch immer ein Ort der Kirche. Ihr Job ist turbulent. «Man muss das Chaos lieben», sagt Anna Huber, «muss immer etwas möglich machen und spontan reagieren.»

Ansprechpartner für theologische Belange sind die Grossmünster-Pfarrer Martin Rüsch und Christoph Sigrist – der hat sein Büro sogar im Haus. Beide betreuen die Angebote der Kirche mit Kon­firmations- und Religionsunterricht, Bibel- und ­Gesprächskreisen. «Die Unterstützung und Beglei­tung von Hilfesuchenden» sei sein «tägliches Brot», schreibt Christoph Sigrist in der Festzeitschrift zur Neueröffnung nach dem Umbau 2014.

Sigrist hat auch die Verbindung zur Zürcher Anlaufstelle für Sans Papiers, also für Migran­t:innen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, und er entscheidet, wer die Einzimmer-Notwohnung im obersten Stock für drei oder vier Monate als Schutzort nutzen kann. Oft sind es Frauen, die vor häus­licher oder anderer Gewalt fliehen und hier zur Ruhe kommen können, bis eine länger währende Lösung für sie gefunden worden ist.

Viele Vereine mieten die für sie vergünstigten Helferei-Räume: Es gibt Treffen der Anonymen ­Alkoholiker, Deutschkurse von «Soli-Netz», Yoga-, Pilates- oder Gedächtnistrainingskurse. Und auch offizielle Stellen nutzen das Mietangebot: Wer aus dem Ausland zuzieht, kennt die Helferei als Ort für Integrationskurse der Stadt Zürich, genauso mieten nahe gelegene Organisationen wie die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, das Obergericht oder die Staatsanwaltschaft die Räume mit ihren klingend-historischen Namen wie Breitingersaal, Anna-Reinhart-Zimmer oder Zwinglistube.

Für das Team mit Martin Wigger, Anna Huber und vier weiteren festangestellten Mitarbeitenden sind die Kulturveranstaltungen am aufwändigsten, weil da jeder andere Bedürfnisse hat. Zwar wurde die Akustik in der Kapelle beim letzten Umbau verbessert, aber sie ist bis heute anspruchsvoll. Und mit den Säulen muss gekonnt umgegangen werden, sonst stören sie die Sicht. Wenn das berücksichtigt wird, eignet sich der Raum wunderbar für Ban­kette, Theater, Konzerte, Vorträge, Lesungen, Kinovorführungen oder Performances. Mit dem Jazz­festival Unerhört!, dem Filmfestival PinkApple, mit Zürich tanzt und Zürich liest, der Zürcher Hochschule der Künste, dem Flüchtlingstheater Malaika oder dem hauseigenen Helfereitheater bestehen langjährige Kooperationen.

Neben allen Kulturveranstaltungen bleibt die Helferei Treffpunkt und Zufluchtsort auch für ­diejenigen, die sich austauschen möchten. «Viele Menschen bringen ihre Bücher in unsere Hol- und Bringbibliothek im unteren Foyer», sagt Anna Huber. «Andere wollen reden. Es ist selbstverständlich, dass ich ihnen zuhöre.» Schon zu Zwinglis ­Zeiten sollen die Türen der Helferei allen offen gestanden haben. Sie tun es bis heute.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"