Theater der Zeit

Strange Migrations

von Shaun Tan

Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2019: Heimat-Pflege als Theaterprogramm? – Die Kunst, soziale Zugehörigkeit zu ermöglichen (01/2019)

Assoziationen: Ozeanien

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Typischerweise beschäftigen sich meine Bücher ganz explizit, wenn auch fast unbewusst, mit Themen, die mich immer wieder faszinieren: Kolonisierung, Migration, Übersetzung, Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede. Das Überwinden von Grenzen gehört zu den Wesensmerkmalen einer Geschichte. Es ist zudem ein universeller Teil des Lebens, den ich hier mit Blick auf meine Erfahrungen als Autor von Bilderbüchern, Graphic Novels und anderen illustrierten Geschichten reflektiere. Es ist mein Glück, dass meine Werke in viele verschiedene Sprachen übersetzt werden und dass sie den Spagat zwischen Nationen und Kulturen schaffen. Dieser Spagat verbindet auch unterschiedliche Lesetraditionen oder „-kulturen“ zwischen Kinderbüchern, Science Fiction, bildender Kunst, Film, Theater und Comic und die Geschichten wandern zwischen den Genres von Fantasy bis sozialem Realismus. Zugleich gehören die Leser*innen verschiedenen Generationen an und schaffen damit eine weitere Verbindung. Das Sprechen über unterschiedliche Kulturen sollte also auch die Unterschiede zwischen Kindsein und Erwachsensein thematisieren.

Freiheit an der Peripherie

Migration spielt auch in meinem eigenen Leben eine Rolle. Ich komme aus Perth, Australien, und habe chinesische, malaysische, irische und englische Wurzeln. Obwohl meine Arbeit nicht besonders autobiographisch daherkommt und ich diese Aspekte nicht in den Vordergrund stelle (sie galten in meiner Kindheit als uninteressant), vermute ich, dass dieses Erbe in indirekter Weise von großer Bedeutung ist. Zum Beispiel interessieren mich Fragen nach Zugehörigkeit, Unterschiedlichkeit und der Unterscheidbarkeit von bekannt und „normal“ bzw. exotisch und „seltsam“ mit schöner Regelmäßigkeit.

Das Perth meiner Kindheit war ein peripherer Ort, nicht nur geographisch, sondern auch generell. Peripherie ist hier positiv zu verstehen als ein Ort der Möglichkeiten und Chancen. Die Idee der Peripherie war immer wichtig für mich wie wahrscheinlich für die meisten kreativen Menschen. Es ist ja viel einfacher, Grenzen zu überschreiten oder innerlich Migrationsprozesse zu durchleben, wenn es nicht allzu viele Zäune gibt oder wenn man – durch äußere Umstände oder die eigene Entscheidung – ohnehin schon ein Außenseiter ist. Wenn mich das Wechselspiel zwischen Kunst und Leben etwas gelehrt hat, dann die Gewissheit, dass es so etwas wie „normal“ nicht gibt. Kultur, Natur, Familie, Glaube, Arbeit, Spiel, Sprache – all diese Dinge sind flexible Realitäten.

Universelle Fremdheit

Kulturelle Unterschiede sind per se interessant und oft amüsant, aber sie erzählen uns auch eine Menge über uns selbst und das Wesen der Menschen. Was haben wir also alle gemeinsam? Was verbindet uns und definiert Menschlichkeit? Wo ist die eine „Haltestelle“, an der jeder „Kulturzug“ hält? Diese großen, philosophischen Fragen müssen nicht groß und philosophisch gestellt werden, denn sie sind überall, auch klein und bescheiden, vor allem in der Literatur für ein junges Publikum.

Interessanterweise suchen Autor*innen und Künstler*innen (wie auch Kinder) nicht nach Antworten, indem sie das Leben in Einzelteile zerlegen und es auf diese reduzieren. Stattdessen imitieren wir die Evolution und experimentieren konstant mit Abzweigen und Nebenwegen als Variationen des Bekannten und schauen prüfend, ob diese Veränderung einen Effekt hat. Es entstehen kleine andere Universen, die sich – so hoffen wir – auf ungewöhnliche oder überraschende Weise mit unserer Welt, wie wir sie kennen, überkreuzen. So ähnlich erforschte Charles Darwin unterschiedliche Arten von Käfern, um herauszufinden, was das Wesen des Käfers ausmacht.

Meine illustrierten Geschichten sind das Material, an dem ich diese Argumentation festmache, vor allem mein Buch „Ein fremdes Land“ („The Arrival“). Dieses Buch begann sehr ambitioniert als Idee einer universellen Migrationsgeschichte. Das Ergebnis meiner Recherche über die Grenzen verschiedener Länder und Jahrhunderte hinweg sollte eine einzige Geschichte mit einem Jedermann als Protagonisten sein. Es zeigte sich aber, dass es nicht möglich ist, so viele echte Lebensgeschichten auf ein solches „Destillat“ zu reduzieren. Sie waren alle zu einmalig und zu divers und reichten von Asien bis in den Nahen Osten, von Europa nach Australien, von der Massenmigration des 19. Jahrhunderts bis zu aktuellen Fluchtbewegungen, von Kindern bis zu alten Leuten, von Ungelernten bis zu Akademiker*innen, von reich bis arm, handelten von Verfolgten und Abenteurer*innen, Absicht und Zufall, kurz: von vielen verschiedenen Gründen für verzweigte Lebenswege, von individuellen Entscheidungen mit ganz unterschiedlichen Resultaten, positiv wie negativ. Es gab natürlich Elemente, die sich ähnelten und sich wiederholten: Heimweh, Familie, fremdes Essen, Sprache, Arbeit, aber wie kann man die Essenz dieser Dinge so zeigen, dass es interessant bleibt, ohne zu abstrakt oder zu stark vereinfacht zu sein? Anders gefragt: Wie erzählt man so, dass es sich ehrlich und echt anfühlt?

Von Fremdheit zu Klarheit

Mir war bewusst, dass ein gewisses Maß an Reduktion unverzichtbar war und die Realität „elementarer“ werden musste. Ich entfernte also Worte und Namen von Hauptpersonen, verzichtete auf eine Verortung in Zeit und Raum und wählte eine Darstellung zwischen Realismus und Zeichnungen in traumähnlicher Verschwommenheit. Es wurde deutlich, dass all dies den Leser*innen Raum gab, die Geschichte auf ihre Weise zu lesen, in ihrem Tempo und auf ihrer jeweils eigenen Zugangs- und Verständnisebene. Am interessantesten war für mich als Erzähler jedoch die Komplexität des neu entstehenden Universums: Manchmal liegt der Weg zur „Wahrheit“ also im genauen Gegenteil, nämlich in der Fantasie.

So gelangen wir durch Fremdheit zu einer Art der Klarheit, als würden wir aus großer Entfernung auf etwas blicken. Mit anderen Worten: Ich versuchte eine Welt zu schaffen, die so verwirrend war, wie es unsere echte Welt für jede*n neue*n Immigrant*in sein musste, nur um mir vorzustellen, wie es sein könnte. Und zugleich versuchte ich nichts zu erklären, weil die Verwirrung und das Befremden in der Begegnung mit dem Unbekannten nichts Schlechtes sind, sondern oft Gutes hervorbringen. Als Menschen können wir Puzzleteile neu zusammenfügen, Rätsel lösen, unsere Fantasie nutzen, statt nur auf Bekanntes und schon Gelerntes zurückzugreifen. Dazu gehört auch, dass wir auf die kreativen Fähigkeiten anderer Menschen vertrauen und sie respektieren. Ich sehe meine Leser*innen als Ko-Autor*innen, die den halbfertigen Illustrationen Bedeutung geben, die absichtlich Unvollständiges komplettieren. Hier hat mir der Surrealismus oft geholfen, denn wenn man vorsichtig mit ihm umgeht, kann er einen näher an die Wirklichkeit bringen und nicht weiter weg. Er kann uns wach machen, weil er die Trägheit des Wiedererkennens infrage stellt. Wir beginnen dann erst damit, die Wirklichkeit als etwas nicht so Gewöhnliches zu sehen.

Gedanken und Gefühle als Kern der Rezeption

Für durchschnittliche Leser*innen oder Zuschauer*innen sind zwei einfache Fragen von zentraler Bedeutung: Welche Gefühle löst das Werk aus? Worüber regt es zum Nachdenken an? Damit sind zwei grundlegende Aspekte ästhetischer Erfahrung abgedeckt: Gefühle und Ideen. Gute Kunst verbindet beide, sodass Bedeutung aus Gefühlen und freien Assoziationen entsteht, statt auf Vorkenntnissen und privilegierten Zugängen zu basieren. Die echten Antworten sind daher nicht im Kunstwerk, in der Geschichte, einem Bild oder einer Aufführung zu finden, sondern in der Selbstreflexion des Lesers oder der Leserin. In dieser einfachen Erkenntnis stecken viele Möglichkeiten für viele Menschen, die keine Angst mehr davor haben müssen, etwas nicht zu verstehen, wenn sie Kunst rezipieren. Auch für mich als Künstler ist diese Erkenntnis positiv, denn ich muss mir einzig und allein darüber Gedanken machen, wie ich die besten, interessantesten Geschichten und Bilder schaffen kann, die ich mir vorstellen kann. Ich muss mir nicht überlegen, was sie bedeuten könnten, welche Botschaft ich transportiere – welch eine Erleichterung! Über diese Dinge kann mein*e Zuschauer*in selbst entscheiden, denn jede*r ist einmalig und individuell und ich kenne ihn oder sie nicht. Alter, Nationalität, Hintergrund, Subkultur, Bildungsniveau sind mir unbekannt.

Ein gutes Bild muss immer ein wenig fremd bleiben, immer unbeschreiblich, immer offen für alle sein. Geschichten schaffen solche Bilder, öffnen Räume für Fantasie und für Variationen des Bekannten. Sie bieten einen Rahmen für die Reflexion von Veränderungen und dafür, wie wir sie erfahren, denn Geschichten handeln immer von Transit und Transformation: Wachsen, Trauma, Entdeckung, Verwandlung, Zerstörung und Entstehung, großen und kleinen Reisen. Ich denke, gute Geschichten lehren uns, solche Veränderungen zu erwarten und auf Neues und Unbekanntes mit Empathie, Neugier und Fantasie zuzugehen, statt darauf zu hoffen, dass alles so „normal“ bleibt, wie es ist. Das Unbekannte muss für uns ebenso interessant sein wie das Bekannte.

Und hier ist Literatur als Interaktion zwischen Wort und Bild mehr als nur Unterhaltung, denn hier erkennt sie an, dass Realität flexibel ist, zeigt die Freude an der Begrenztheit unseres Wissens, macht den Spaß an der Spekulation erlebbar. Gute, fiktive Geschichten erinnern uns daran, dass wir nicht alleine sind im Ozean der Fragen.

Der Text basiert auf einem Vortrag bei der Konferenz des International Board on Books for Young People (IBBY) (London, 2012). Übersetzung Meike Fechner.

Der Abdruck des Auszugs aus „Hometown“ erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages. Aus: I Feel Machine, erschienen im Verlag SelfMadeHero 2018.
https://www.selfmadehero.com/books/i-feel-machine

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