Theater der Zeit

Auftritt

Greifswald: Am Pult statt zwischen den Stühlen

Theater Vorpommern: „Wladimir Kaminers Russendisko“ (UA). Regie Thomas Roth, Ausstattung Nadira Nasser

von Theresa Schütz

Erschienen in: Theater der Zeit: Tilmann Köhler und Miriam Tscholl: Montagswirklichkeit Dresden (11/2015)

Assoziationen: Theater Vorpommern (Greifswald)

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Auf der grauen Hinterbühne weist Putin (Jan Bernhardt mit Teufelshörnern) dem schwerbewaffneten Soldaten Andrej (Alexander Frank Zieglarski) sein nächstes Schussziel an. Auf der Vorderbühne liegt die tote Freundin Andrejs, Marina (Anna Luise Borner), umgekommen bei einem Attentat auf einen Bus in Donezk, das Andrej zufolge „ukrainische Faschisten, die mit Hilfe der Amerikaner an die Macht geputscht worden sind“, zu verantworten haben. Zwischen den Fronten, in der Bühnenmitte stehend und doch aus der sicheren Entfernung Berlins blickend, sehen wir Andrejs Bruder Wolodja (Dennis Junge) und seine Frau Lena (Katja Hirsch). Mit diesem Bild endet die Vorstellung.

Zur Überraschung und Verwirrung einiger Zuschauer haben sich der Regisseur Thomas Roth und sein Dramaturg Sascha Löschner dazu entschlossen, unter dem Titel „Wladimir Kaminers Russendisko“ nicht nur ein szenisches Potpourri entlang der Anekdoten aus Kaminers gleichnamigem Roman zu entwerfen, sondern dessen Migrationsgeschichte narrativ zu bündeln und sie bis in die tagespolitische Gegenwart zu verlängern.

„Moskau – Berlin – Donezk“. Um diesen geografisch wie politisch weit gespannten Bogen erzähl- und darstellungstechnisch schlagen zu können, wurden autobiografische Passagen aus Kaminers „Russendisko“, Auszüge aus seinen Romanen „Militärmusik“ und „Die Reise nach Trulala“ sowie aktuelle Blog-Einträge und Zeitungsartikel montiert und zu szenischen Miniaturen eines Stationendramas verdichtet.

Im vorangestellten Prolog mokiert sich Wolodja über die Eigentümlichkeiten des deutschen Einbürgerungstests und stellt damit die Anschlussfähigkeit zur gegenwärtigen Asylpolitik sicher; unerheblich, dass sich sein Alter Ego Kaminer nach seiner Emigration nach Ost-Berlin im Zuge der sogenannten fünften Welle 1990 einem solchen nicht zu unterziehen hatte. Sein Eintrittsticket war während des Systemumbruchs schlicht sein Jüdischsein. Inzwischen kennt ihn jeder. Kaminer ist Kult, sein Partyformat „Russen- disko“ allseits beliebt und bekannt. So kann es also auch gehen in Sachen beispielhafte Integration.

Um dramatisches Gefälle zu schaffen, wird Wolodja/Wladimir die fiktive Bruderfigur Andrej zur Seite gestellt. Wir steigen ein, als sie ihren Eltern in Moskau von ihren Auswanderungsplänen berichten, erleben die Ankunft der beiden in Berlin-Lichtenberg, das Bekanntmachen mit ihren vietnamesischen Nachbarn, verfolgen ihre ersten Versuche, beruflich Fuß zu fassen (Bierverkauf, Papierfabrik, Spielkasino), teilen Wolodjas Liebesglück und freuen uns über den Besuch der Eltern, der sie ihrerseits zur Immigration motiviert. Während Wolodja sein Leben in zunehmend sichere, bürgerliche Bahnen lenkt, rutscht Andrej in die Kriminalität ab, lässt Marina sitzen, verkracht sich mit Wolodja und kehrt radikalisiert zurück, um auf der prorussischen Seite im Ukrainekonflikt zu wirken. Während Andrej („Einer muss ja unsere Kinder beschützen“) und die gleichfalls zurückgekehrte Marina in Donezk Zeugen der gewaltsamen Eskalationen werden, sitzen Wolodja und seine Familie in Berlin vor einem überdimensionierten Fernsehgerät, in dem Teufelchen Putin (Bernhardt) munter gegen den Westen hetzt und systematisch „politische Unwahrheiten“ platziert. Im Live-Chat beschimpfen sie ihn als „Arsch mit Ohren“, woraufhin er forsch durch den Rahmen tritt und zur Freude des Publikums fragt: „Macht man denn so etwas?“ Putin-Bashing im Gewand Kaminer’schen Humors sozusagen.

Dieser erzeugt – platt wie er hier daherkommt – ein Unwohlsein, das gerade jetzt wieder neu vor dem Hintergrund des Syrienkrieges die ganze Zwiespältigkeit in der Wahrnehmung der Konflikte zwischen Russland und Europa bzw. Russland und der NATO spiegelt. In den Foyergesprächen jedenfalls führte dies zu konstruktiv anregenden Diskussionen.

Dieses Unwohlsein könnte man daher wohlwollend als Regieabsicht deuten. Klug verbirgt sich die Inszenierung hinter den Äußerungen ihres Textgebers und macht damit kritisch auf die Ambivalenz von Kaminers Sprecherposition zwischen berechtigter Parteinahme (mit Gegnern von Putins Kriegspolitik) und privilegiert-gesicherter, den Konsens mit vereinfachendem Humor suchender Außenbeobachtung aufmerksam. Damit ist sie ein gelungener Einstieg in die letzte Saison des Schauspieldirektors André Rößler, der im Sommer 2016 von Reinhard Göber abgelöst werden wird. Am DJ-Pult zur Feier des Tags der Deutschen Einheit stand übrigens kein Geringerer als Wladimir Kaminer.//

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