Objekte können wir mit allen Sinnen wahrnehmen; wir können sie nicht nur sehen, sondern ebenso fühlen, riechen, hören und schmecken. Objekte auf der Bühne oder in Aufführungen lassen sich zugegebenermaßen nicht immer berühren (oder anlecken), meist gelingt es aber, den Zuschauenden trotzdem eine sinnliche Wahrnehmung zu ermöglichen – auch ohne in unmittelbarer Nähe zu sein, um das Objekt selbst zu erspüren. Dann erscheint Nebel kalt, ein Stück Holz auf einmal flexibel, simple Pappkartons von endlicher Eleganz und Papiertüten murmeln auf unheimliche Weise. Das jeweilige Material oder die Beschaffenheit eines Objekts erklärt diese sinnlichen Eindrücke aber nur bedingt. Auch die Tatsache, dass wir vertraut sein mögen mit bestimmten Gegenständen, erklärt nicht immer unsere Wahrnehmung. Wir benutzen jeden Tag eine Gabel, wissen, wie sie sich anfühlt, auf welche Weise sie gebraucht wird. Wird diese Gabel in einer Aufführung auf einmal zu einem Musikinstrument oder zu einer scheinbar unendlich biegsamen und zarten Figur, dann ändern sich vorübergehend ihre Eigenschaften. Weder ihr Material noch ihre ursprüngliche Funktion, ihr eigentlicher Zweck, ließen vorher vermuten, dass wir die Gabel auf diese Weise wahrnehmen könnten. Wie beschreiben wir also diese Vorgänge?
Die Theaterwissenschaft unterscheidet hierfür zwischen den Begriffen Material und Materialität. „Material“ meint die Stofflichkeit und die damit einhergehenden Charakteristiken von Objekten. Ist etwas aus Holz oder Metall, aus Seide, Wasserdampf oder Licht? Hat es deswegen einen bestimmten Klang, ist nur bedingt flexibel oder durchsichtig? Hat es einen bestimmten Geruch? All diese Eigenschaften sind eng verbunden mit dem Material von Objekten. „Materialität“ hingegen meint die „spezifische Verwendung und Wahrnehmung [von Theatermitteln] im Prozess der Aufführung“ (Schouten). Der Begriff verweist im theaterwissenschaftlichen und ästhetischen Diskurs auf den Moment der sinnlichen Wahrnehmung und Wirkung von Objekten (aber auch von Texten, Menschenkörpern oder Prozessen). Dann tritt auf einmal der besondere Klang einer Gabel in den Vordergrund oder wir können uns nicht sattsehen an den wunderschönen Blasen von kochendem Wasser. Wir spüren, wie weich die Oberfläche von unebenem Holz ist, obwohl wir es nur sehen, aber nicht berühren können, und das dumpfe Ratschen eines Seilzugs klingt wie Atem.
Man könnte sagen, Materialität bezeichnet, wozu Objekte werden (können). Hierbei setzt das Material (woraus sie „gemacht“ sind) natürlich einen gewissen Möglichkeitsrahmen. Sonst unbeachtete oder unbekannte Qualitäten und Eigenschaften können besonders hervorgehoben, vermeintlich feststehende Charakteristiken unterwandert werden. Die sinnlichen Qualitäten eines Objekts treten dann in den Vordergrund, nicht allein dessen Zweck oder Zeichenhaftigkeit.
Die begriffliche Trennung zwischen Material und Materialität erlaubt, die performative Dimension der Wahrnehmung von Objekten zu beschreiben. Sie verweist auch auf die Flüchtigkeit eines theatralen Geschehens oder einer Alltagssituation. Und sie betont den möglichen Eigensinn von Objekten, ihr Potenzial, zu eigenständigen Akteur*innen zu werden. Es ist somit eine Möglichkeit, präziser über die Rolle von Objekten, ihr Auftreten und ihre spezifische Wirkung und Wahrnehmung in Aufführungen, im Spiel oder in besonderen Alltagssituationen zu sprechen.