Theater der Zeit

lausitz

Der große Bruch

In der Lausitz wirken verschiedene Transformationen nach- und nebeneinander

von Grit Lemke

Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)

Assoziationen: Sachsen Brandenburg

Transformationslandschaft Lausitz: Kippflächen des Braunkohletagebaus Jänschwalde. Foto picture alliance / Andreas Franke
Transformationslandschaft Lausitz: Kippflächen des Braunkohletagebaus Jänschwalde.Foto: picture alliance / Andreas Franke

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In der Lausitz“, pflegte der legendäre Baggerfahrer und Musiker Gerhard Gundermann zu sagen, „gülten noch Wunder“. So wunderlich wie der hier verwendete Lausitzer Dialekt, der das Deutsche einmal durchkaut und sorbisch verfärbt wieder ausspuckt, ist das Land. Einst verwunschen und morastig, worauf der Ursprung des Wortes verweist: niedersorbisch Łužyca bzw. obersorbisch Łužica, von łuža, die sumpfige Wiese. Wer hier aufwächst, weiß von klein auf, dass Irrlichter durchs Moor geistern, der Wassermann das Blubbern in den Lachen verursacht und die Mittagsfrau sich jene holt, die in der Hitze der zwölften Stunde nicht das schützende Haus aufsuchen. Dies sind die einzigen Gewissheiten. Darüber hinaus weiß man hier nur eines mit Sicherheit: Nichts bleibt, wie es war.

Wohl keine andere Region ist so von Transformation geprägt. Sie ist das alles dominierende Paradigma und Menetekel zugleich. Verlust und Verheißung, Aufbau und Abriss, Abschied und Ankunft in einem ewig währenden Kreislauf. Wo einst ein Sumpf und Kiefernwälder, entstanden Dörfer. Wo einst Dörfer, klafften schon bald die gigantischen Gruben des Braunkohle-Tagebaus, gesäumt von aus Abraum angehäuften Kippen. End­lose Mondlandschaften, die sich – so plant es der Mensch – in eine Seenplatte samt blühender touristischer Ressorts verwandeln. Was die Natur im wahrsten Sinne des Wortes untergräbt, indem das Grundwasser die neuen Landschaften mit anarchistischer Energie unterspült und ganze Areale zum Einsturz bringt. Der Mensch spürt den Boden unter seinen Füßen wanken und überlässt ihn – vorerst – wieder der Natur. Seit ein paar Jahren spürt, wer durch die Landschaft läuft und sie zu lesen versteht, die permanente Anwesenheit des Wolfs und hört die Kraniche schreien.

Was sich als existenzielle Erfahrung in Landschaft und Mensch eingeschrieben hat, beschäftigt neuerdings auch die Institutionen und drängt in Richtung Vermarktung. Transformation als USP. Im Rahmen eines über mehrere Jahre groß angelegten, vom Bund geförderten Strukturentwicklungsvorhabens schickt sich eine Welterbeinitiative an, die Lausitzer Tagebaufolgelandschaft in das UNESCO-Welterbe aufzunehmen: als, wie es heißt, „weltweit größtes zusammenhängendes Beispiel“ einer solchen Landschaft, in der „über den weltweit längsten Zeitraum“ (seit 1900) „alle weltweit bekannten Nutzungsstrategien“ einer solchen Folgelandschaft entwickelt wurden und sich nachempfinden lassen. So viel Welt in einer Region, die sich über Jahrhunderte am Rand derselben wähnte und von ihr kaum je anders behandelt wurde.

So von Transformation gezeichnet wie die Landschaft der Lausitz sind ihre Städte. Allen voran, als Symbol des Wandels, von Utopie und Zerfall selbst, Hoyerswerda: Aus dem sorbisch geprägten 7000-Seelen-Ackerbürgerstädtchen Wojerecy wurde seit 1955 innerhalb von drei Jahrzehnten die zweite sozialistische Wohnstadt der DDR buchstäblich aus dem Heideboden gestampft und ihre Bevölkerung verzehnfacht, parallel zum Bau des Gaskombinats Schwarze Pumpe. Superlative bestimmten auch hier den Sprachgebrauch: die „weltweit erste Stadt, die vollständig in ­Montagebauweise errichtet wurde“, die „kinderreichste Stadt der DDR“ und – durch den immerwährenden Puls der Schichtbusse verbunden – der „größte Braunkohle verarbeitende Industrie­komplex der Welt“. Aufstieg und Verfall sind auch hier wie in ­einem Kompendium der Architektur- und Sozialgeschichte physisch – beim Gang durch die Stadt – erlebbar: von den ersten, aus liebevoll gefertigten Unikaten bestehenden Wohnkomplexen über nur noch an der Länge der Kranausleger ausgerichtete Häuser­reihen bis zu lieb- und kunstlos hingeklotzten Einheitsblöcken, heute gezeichnet von den Schneisen der Abrissbagger. Wo einst eine Stadt – die es dann doch, hauptsächlich durch den Eigensinn ihrer Bewohner wurde – lärmend pulsierte, herrscht nun die Stille einer mehrheitlich von Rentnern besiedelten kleinstädtischen Siedlung. Auch hier, inmitten scheinbar zufällig stehen geblie­bener Plattenbauten, holt sich die Natur zurück, was der Mensch nur temporär eroberte. Wo einst Schulen und Wohnhäuser den Wald verdrängten, wachsen wieder Bäume.

Die beherrschende Vokabel, wenn es um die Lausitz geht, ist Strukturwandel. Diesmal müsse er gelingen, wird beschwörend hinzugefügt. Erst neuerdings ist auch vom Strukturbruch die Rede, der in den 1990er Jahren wie ein Tsunami durch die Region fegte. Mit atemberaubender Geschwindigkeit und brachialer ­Gewalt löschte er Industrie wie an ihr hängende Existenzen aus. Schon Mitte 1990 wurde der erste Betriebsteil von Schwarze ­Pumpe – das übrigens schwarze Zahlen schrieb und von Siemens für eine Mark aufgekauft wurde – geschlossen. Wie bei einem ­Kartenhaus folgten weitere, schlossen Gruben – übrigens nicht aus ökologischen Gründen! – und Versorgungsbetriebe, stellten Berufsschulen die Ausbildung ein, fanden sich Tausende Arbeitskräfte von heute auf morgen auf die Straße gesetzt. Ein Exodus gen Westen setzte ein, das Verschwinden einer ganzen Genera­tion samt ihrer Kinder. Das Wort „Bruch“ scheint denen, die dabei waren, unangebracht, suggeriert es doch die Möglichkeit eines Neu-­Zusammenfügens, einer Heilung.

Die Lausitz aber muss sich einmal mehr nichts weniger als neu finden – wobei von Er-finden keine Rede sein kann. Man versteht diese Transformation eben nur, wenn man mehr in den Blick nimmt als 120 Jahre Bergbaugeschichte. Denn schwerer als der Struktur- wiegt der Identitätsbruch. Er währt länger und hat tiefere, sich über viele Generationen ziehende Spuren hinter­lassen. Wer glaubt, hier müsse man nur neue Industrie ansiedeln (das muss man natürlich – auch) und alles würde gut, hat nichts verstanden. Kürzlich veröffentlichte Prognosen der Agentur für Arbeit belegen, dass der in der Lausitz so gefürchtete und gehasste Kohleausstieg angesichts einer komplett überalterten demografischen Struktur keinesfalls zu einer Massenarbeitslosigkeit wie in den Neunzigern führen wird. Wohl aber, ließe sich hinzufügen, zu einem Identitäts- und Sinnvakuum, das wiederum demografisch unheilvoll nachwirkt. Wie die von Gundermann besungenen „Engel über dem Revier“ empfiehlt es sich, einmal höher zu fliegen und den Blick zu ­weiten. Zum einen in Bezug auf zeitliche Dimensionen. In der Kultur- und Geschichtswissenschaft spricht man vom Phänomen der longue durée: lang wirkende (heute würde man sagen: nachhaltige) Gegebenheiten, die die Bedingungen für kürzer wirkende Phänomene wie industrielle Revolutionen oder politische ­Umbrüche diktieren und ihr Verständnis erst ermöglichen. Der Lausitz wird in diesem Sinne nur gerecht, wer sie als Łužyca bzw. Łužica begreift. Denn das Deutsche ist hier, wie der Lausitzer Historiker Grzegorz Wieczorek nicht müde wird zu betonen, ein historisch relativ junges Phänomen. Der Kurator des Wendischen Museums Cottbus Werner Měškank geht sogar davon aus, dass erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem extensiven Ausbau der Kohleindustrie, dem systematischen Abriss sorbischer Dörfer und dem massenhaften Zuzug deutscher Arbeitskräfte sich die ethnischen Relationen in der Lausitz entscheidend veränderten. So betrachtet ist die Rede von einer sorbischen ­Minderheit, deren Minderheitenkultur und Minderheitensprache von der Mehrheit mit viel Geld – und warum eigentlich? – geschützt und erhalten werden müssen, ein historisch junges ­Phänomen. Vor allem aber ist sie Ausdruck eines bislang kaum bekannten und schon gar nicht aufgearbeiteten systemischen ­Kolonialismus und, ja, auch Rassismus.

Von oben sieht man aber auch, dass die Lausitz nur vom Westen betrachtet am Rand liegt. Mittlerweile gibt es sorbische Initiativen, die die Region auch im öffentlichen und politischen Bewusstsein in das Zentrum Europas rückt. Dabei geht es um einen Strukturwandel, der nicht wie das Kaninchen auf die Schlange in Richtung Industrie starrt, sondern bei Identitäten ansetzt. Die Lausitz als Scharnier zum slawischen Osten und Vorreiter auf dem Weg zu einem Europa der multiethnischen Vielfalt und kleineren Strukturen, die großen Brüchen nicht hilflos ausgeliefert sind. Genau Letzteres empfehlen übrigens Transformations­forscher. Und ansonsten gülten weiter die Wunder. //

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