Theater der Zeit

Anzeige

Auftritt

Hessisches Staatstheater Wiesbaden: Verschwörungsdenken als True-Crime-Story

„Entrückt“ von Lucy Kirkwood, aus dem Englischen von Corinna Brocher – Regie Jan Bosse, Bühne Stéphane Laimé, Kostüm Kathrin Plath, Komposition Arno Kraehahn

von Shirin Sojitrawalla

Assoziationen: Hessen Theaterkritiken Jan Bosse Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Lennart Preining, Laura Talenti, Maria Wördemann und Klara Wördemann in „Entrückt“ in der Regie von Jan Bosse am Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Foto Laura Nickel
Lennart Preining, Laura Talenti, Maria Wördemann und Klara Wördemann in „Entrückt“ in der Regie von Jan Bosse am Hessischen Staatstheater WiesbadenFoto: Laura Nickel

Anzeige

Anzeige

Was geschah wirklich mit dem jungen Ehepaar Quilter, das leblos in seiner Wohnung aufgefunden wurde? Diese Frage pocht im Stück „Entrückt“ der britischen Dramatikerin Lucy Kirkwood wie eine offene Wunde. Kirkwood zählt zu den angesagtesten britischen Dramatikerinnen, und sie versteht sich auch aufs Schreiben fürs Fernsehen, was man ihrem Stück „Entrückt“, im Original „Rapture“ deutlich anmerkt. Es kommt daher wie ein True-Crime-Format, präsentiert von der Autorin höchstselbst. In Wiesbaden verdoppelt sich die Autorinnenposition, Maria und Klara Wördemann spielen Lucy Kirkwood 1 und 2. Zu Anfang schleppen sie Unmengen an gesammeltem Material herein, Videoaufzeichnungen, die so genannten Quilter-Tapes. Der Abend dokumentiert das Leben von Noah und Celeste Quilter dann wie einen Kriminalfall, erzählt, wie sie ein Paar und Eltern wurden und immer mehr in einen gedanklichen Strudel aus Verschwörungstheorien und Ungewissheit geraten. Es ist eine Geschichte von heute, sie lernen sich über eine Dating-App kennen, erleben gemeinsam die Corona-Pandemie und wittern zusammen an jeder Ecke das nächste Systemversagen. Das Ganze spielt in London, weswegen das Königshaus und Premierminister Boris Johnson eine gewisse Rolle spielen; das tut aber nichts Wesentliches zur Sache, den Befund, dass viele Menschen Wahrheit nur noch als Frage der Perspektive akzeptieren, ist schließlich kein britisches Problem allein. Uraufgeführt wurde das Stück 2022 in London, am Staatstheater Cottbus kam im vergangenen Jahr die deutschsprachige Erstaufführung heraus – da noch unter dem Titel „Verblendet“, um die Metaebene noch ein Stück weiter zu drehen.

Am Staatstheater Wiesbaden macht Regisseur Jan Bosse einen leicht verdaulichen Abend daraus, der Gegenwartsthemen triggert, ohne je Gefahr zu laufen, nachhaltig zu verstören. Das liegt zuallererst am Stück selbst, das zwar das Spiel mit vielen Wahrheiten beherrscht, sich aber auf keine wie auch immer geartete Aussage festlegt. Jan Bosse wiederum tut viel dafür, dass das nicht so auffällt beziehungsweise in guter Unterhaltung untergeht. Dafür steht ihm ein tolles Ensemble zur Verfügung, neben den bereits Genannten spielen Laura Talenti und Lennart Preining das erwachte Durchschnittspaar als gleichzeitig total normal und voll neben der Spur. Auf leerer Bühne lernen sie sich kennen und schwafeln schon da von Chemtrails am Himmel. Mit den Jahren füllt sich die Bühne von Stéphane Laimé mit Gerüsten, auf denen sich Kartons stapeln. Ein schönes Bild für die instabilen Lügengebilde, die sich immer mehr in den Vordergrund schieben. Obendrein gemahnt das Bühnenbild an die Päckchenwut der Online-Shopper und taugt zudem als Sinnbild existenzieller Unbehaustheit. Fast zwei pausenlose Stunden dröseln die beiden Autorinnen das Leben und Sterben des Paares auf und kommentieren es live, blicken auf ihre Radikalisierung in Echtzeit und auch zurück auf pandemische Zustände samt Lockdown und Hygienewahn. Die Quilters, von Kathrin Plath schön verspielt angezogen, sind da schon längst Social-Media-Stars und versuchen, andere aufzuwecken. „State of Awake“ heißt ihr Format, eine Art „Wachtturm 2.0“, das an jeder Ecke eine neue Sauerei vermutet und allenthalben den Untergang. Dabei ist ihre Paranoia so weit gestreut, dass sich alle im Publikum mit der einen oder anderen These identifizieren können werden. Wer noch nie Angst vor der Mehrheitsmeinung gehabt hat, werfe den ersten Stein. Wichtiger ist, dass das alles auf der Bühne abschnurrt wie eine launige Detektivgeschichte, und dabei wirklich Fahrt aufnimmt. Erstaunlicherweise kommt der Abend ohne Smartphones und Videotechnik aus, wir sehen zwar, wie Videos aufgenommen werden, aber das ist sehr analog inszeniert, und Telefone kommen nur in Form einer Nokia-Gurke vor. Neben den üblichen Pop-Songs unterlegt serientaugliche Musik (Arno Kraehahn) den Abend, die mit akustischen Glitches arbeitet und einen hohen Wiedererkennungswert besitzt.

Zum letzten Mal lebend sieht man das Paar in Froschkostümen, wie man sie von den No-Kings-Demonstrationen gegen die Trump-Regierung kennt. Ein schön absurdes Bild für den gegenwärtigen Zustand der Welt. Doch hier gilt, was für den ganzen Abend gilt: treffend dargestellt, doch was fängt man damit an? Der Trick an der Sache könnte sein, dass je nachdem, wer zuschaut, die Antwort auf diese Frage meilenweit auseinanderliegt.

Erschienen am 1.12.2025

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Lektionen 8 - Neue Dramatik

Anzeige