Theater der Zeit

Protagonisten

Mit Richard Wagner in den Abgrund springen

Regisseur Hansgünther Heyme und Wagner-Experte Dieter Borchmeyer trafen sich zu einem Gespräch mit Frank Raddatz

von Frank M. Raddatz, Dieter Borchmeyer und Hansgünther Heyme

Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)

Assoziationen: Akteure

Unter dem Titel „RING Halle Ludwigshafen“ wird seit November 2010 Richard Wagners Operntetralogie „Der Ring des Nibelungen“ auf die Bühnen des Ludwigshafener Theaters im Pfalzbau und der Oper in Halle gebracht. Anlässlich des Wagner-Jahres wird der gesamte Zyklus in diesem und im nächsten Monat jeweils innerhalb einer Woche in Halle und in Ludwigshafen aufgeführt.

 

Herr Heyme, stand Ihnen, einem ausgesprochen politischen Regisseur, Ihre Biografie bei der Inszenierung des „Rings“ im Weg?

Hansgünther Heyme: Ich habe in den siebziger Jahren in Nürnberg „Rheingold“ inszeniert, dann aber abgebrochen. Im selben Jahr hat auch Peter Stein in Paris nach „Rheingold“ aufgehört, ebenso Ronconi in Mailand. Diese ganze Generation hat irgendwie das Handtuch geworfen, weil der Nazi-Dreck noch meterdick auf dem Material lag. Wir vermochten nicht, zu der eigentlichen Auseinandersetzung mit den Stücken vorzudringen. Als Karl-Heinz Steffens, Opernchef und Generalmusikdirektor in Halle und Chefdirigent der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, mich fragte, ob wir den „Ring“ zusammen machen wollten, sagte ich sofort Ja. Es war ein Geschenk. Die Arbeit konfrontierte mich mit meiner Vergangenheit, besonders mit meiner frühen Jugend, meinem Aufwachsen im Krieg: der Vater ohne jede Feindberührung in Russland an Typhus verreckt, ich mit meiner Mutter in Berlin verschüttet, natürlich total ausgebombt, vor der Roten Armee auf der Flucht, in Dresden bei dem Angriff dabei gewesen, der zweite Vater durch das Geschehen am 20. Juli 1944 zum Tode verurteilt, von den Russen und Amerikanern aus dem Zuchthaus in Torgau knapp vor seiner Hinrichtung befreit … Meine ganze deutsche Vergangenheit floss in den „Ring“ ein. Glück und Schrecken. Da kommt alles vor, was mich ausmacht. Ich wurde von dem ganzen Deutschen in mir oder von dem, was ich verdrängt hatte, was ich falsch gesehen, nur scheinbar verarbeitet hatte, rabiat angesprungen. Für mich ist auch heute noch der Grüne Hügel in Bayreuth, wo die Wagner-Bauten stehen, sehr mit Braun durchsetzt.

 

Sie haben sich früh mit Aufführungen der griechischen Tragödien einen Namen gemacht. Sie waren eigentlich der Griechen-Heyme. Herr Borchmeyer, genauso wie für Herrn Heyme war auch für Wagner das griechische Moment ganz wesentlich.

Dieter Borchmeyer: Wagner hat die griechische Mythologie ganz besonders geliebt, Aischylos und das griechische Drama. Das war für ihn das Modell seines eigenen Theaters. Nicht nur für den „Ring“. Den „Fliegenden Holländer“ hat Wagner am Vorbild des Odysseus konzipiert. Zeus und Semele, die Mutter des Dionysos, bilden den Hintergrund des „Lohengrin“. Im Venusberg-Akt von „Tannhäuser“ kommt griechische Mythologie unmittelbar auf die Bühne. Diese Grundierung des ganzen Wagner’schen Kosmos ist unbestreitbar. Für Wagner war im Grunde die germanische Mythologie nur so etwas wie ein Steinbruch, er wollte durch sie immer die griechische Mythologie durchscheinen lassen. Das macht das Kühne an Wagner aus, dass er erkannt hat: In allen großen Mythenkreisen herrschen gemeinsame Strukturen.

Heyme: Ich habe in Köln an zwei Abenden „Faust II“ inszeniert. Goethes Werk hat in mir wieder stark an Präsenz gewonnen, jetzt, bei der Arbeit am „Ring“. Neben der Antike und allem Nordischen war eben auch Goethe ein Vater der vier Opern.

Borchmeyer: Wagner hat den „Faust II“ außerordentlich bewundert und von ihm in seinem Essay „Über Schauspieler und Sänger“ gesagt, „daß kein Theaterstück der Welt eine solche szenische Kraft und Anschaulichkeit aufweist“. Die Klassische Walpurgisnacht war aber Wagner der wichtigste Teil des „Faust“. Davon war er vollkommen entzückt und wollte sogar ein Faust-Theater bauen, das die Voraussetzungen der Guckkastenbühne vollkommen sprengen sollte. Ein Alternativtheater zu Bayreuth – und das in einer Zeit, in der „Faust II“ selbst von Genies wie Heinrich Heine missachtet wurde.

 

Nun war Wagner auch bekennender Antisemit.

Borchmeyer: Ich bevorzuge das Wort Judenhass, weil es viele antisemitische Ideologien gibt, zwischen denen große Unterschiede bestehen, aber die Abneigung gegen das Judentum war bei Wagner wirklich notorisch. Das ist auch damit zu erklären, dass das Judentum, wie Christian Thielemann gerade in seinem Wagner- Buch geschrieben hat, eine Projektionsfläche war. Er hat darauf all das abgeladen, was er an sich selbst nicht mochte. Schon Otto Weininger hat einleuchtend dargestellt, dass es sich beim Antisemitismus vielfach um die Projektion von Selbsthass handelt.

Heyme: In meiner Inszenierung versuche ich zum Beispiel, den Mime autobiografisch auf Wagner selbst zu beziehen, andererseits versuche ich, zumindest in „Rheingold“ das Umfeld des Mime einer KZ-Situation anzunähern. Zu solch brutalen Realbezügen, wie sie auch durch die Häftlingskleidung des Mime entstehen, wäre ich in den siebziger Jahren nicht in der Lage gewesen. Der figürlich doch sehr kleine Wagner mit dem riesigen Schädel, seinem sächsischen Genuschel – vieles mutet dezidiert jüdisch an. Zumindest sah man das so. All das, was Wagner bei eitler Selbstbespiegelung missfiel, ist mit Mime auf der Szene. Nur er wird im „Ring“ als Künstler tituliert. Eine riesige dialektische Spannung umgibt diesen Zwerg. Als Siegfried – zumindest äußerlich – sah sich Wagner wohl nicht.

Borchmeyer: Oft wird unterschlagen, dass der strahlende Held Siegfried auch ganz dunkle Seiten besitzt. Die werden ausgeblendet, als hätte man es mit dem Siegfried des Nibelungenlieds zu tun und nicht mit dem des „Rings“. Die Nazis haben immer nur selektive Mythenwahrnehmung betrieben, wie sie auch die Antike ausgeblendet haben. Es ist natürlich entsetzlich, dass die Nazis sich derart mit Wagner identifiziert haben. Der Wagner-Kult war freilich vor allem Hitlers Privatkult. Als Hitler tot war, hat man im Rundfunk den Trauermarsch aus Beethovens „Eroica“ gesendet. Als aber Lenin starb, wurde landauf, landab der Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“ gespielt. Zudem sollte man nicht vergessen, dass Wagner bis zum Ausbruch des Dritten Reichs ein Lieblingskomponist der emanzipierten Juden war.

Heyme: Manche Werke sind widerstandsfähig gegen Missbrauch. Goethe ist widerstandsfähiger als Schiller. In dem widerlichen, wenn auch guten Film „Kolberg“ von Veit Harlan findet man Texte von Max Piccolomini, die Horst Caspar in der Schnauze hat. Man muss sich bei Wagner durch Schichten von falschen Bildern arbeiten. Der „Siegfried“ aber – und dies zu meinem großen Erstaunen – ist oft von Heiterkeit geprägt. Thomas Mann hat in diesem Zusammenhang auf Siegfried als Harlekinfigur hingewiesen. So etwas hätte ich 1970 nicht zu sehen vermocht.

Borchmeyer: Sie sind ein Schatz, dass Sie das sagen. Der Humor Wagners wird immer noch unterschätzt. Thomas Mann hat Siegfried als den Kasperl mit der Pritsche identifiziert. Wagner selbst war vom Kasperletheater unglaublich fasziniert. Aus dieser Perspektive des Kindlichen auf den „Ring“ zu sehen, ist ganz wichtig. Siegfried ist ganz und gar naiv und hat etwas von einer natürlichen Grausamkeit. Kinder können ja recht grausam sein, ohne dass man es ihnen übel nimmt, weil sie gar nicht merken, was sie tun. Parsifal muss erst lernen, dass man so nicht sein kann. Er sieht einen Schwan und schießt ihn einfach tot. Doch dann kommt Gurnemanz und bringt ihm zu Bewusstsein, was er angerichtet hat.

Heyme: Dass wir den Siegfried mit Andreas Schager besetzen konnten, ist schlicht eine Sensation. Der tritt auf und ist pure Unschuld, ungebrochene Reinheit. Sehr dünnhäutig oder überhaupt hautlos und dadurch unendlich angreifbar. All das ist da, das muss man nicht erarbeiten – doch darf man es als Regisseur auch nicht zerstören, nicht missbrauchen.

Borchmeyer: Auch die Rheintöchter sind „unschuldige“ Naturwesen. Sie sind Elementarwesen, denen die Seele fehlt. So sind sie ungeheuer grausam gegenüber Alberich, ohne es zu merken. Die Grausamkeit ist ein Teil ihrer Unschuld.

Heyme: Grausamkeit kommt in Unschuld gekleidet besser zur Wirkung.

Borchmeyer: Hagen ist, anders als die Rheintöchter und Siegfried, bewusst grausam.

Heyme: Hagen ist die einzige Figur, die keine Liebessehnsucht besitzt. Keine Spannung zu Frauen, die sonst bei Wagner immer vorhanden ist. Hagen ist eine arme, gänzlich dezimierte Figur. Er hat nur eine Chance zum Tod. Auch er ist eine Kasperlefigur: Das Krokodil.

Borchmeyer: Genau! Alberich wird erst böse aus versagter Liebe. Hagen dagegen ist böse von Anfang an. Er ist einfach nur das Krokodil. Wagner selbst hatte anfänglich ja sogar Mitleid mit Alberich, und in der ursprünglichen Konzeption von Siegfrieds Tod sollte auch er erlöst werden.

 

Es gibt vielleicht zwei Begriffe der Unschuld. Der eine antizipiert wie bei den deutschen Klassikern, wie bei Rousseau eine Sittsamkeit. Während Unschuld bei Kleist das Wilde meint, also etwas Unberechenbares.

Borchmeyer: Den Naturzustand darf man nicht moralisieren. Er ist ein Zustand ohne Moralität. Die Rheintöchter sind Natur – moralische Maßstäbe fehlen.

Heyme: Alberich wird durch die sehr aufreizend natürlichen Rheintöchter – durch die Verführung zur Schuld durch die Unschuld – zum armen, brutalen Monstrum. Mit diesem entsteht das bestial kapitalistische London, Manchester. Daraus entsteht Nibelheim, ein von Kinderarbeitern betriebenes unterirdisches System mit Gängen, durch die man sich nur kriechend bewegen kann.

Borchmeyer: Dass er die moderne Industriewelt schafft, macht die Aktualität Alberichs aus. Eine Ersatzwelt, die aus dem Verlust der Liebe entsteht.

Heyme: Wenn die Rheintöchter nach der Schändung des Alberich’schen Liebesverlangens vor dem verfluchten Rheingold stehen, zieht der Zwerg einen Porno aus der Jacke, und die natürlich unschuldigen Rheintöchter erleben, wie sich Erotik in schiere Sexualität verwandelt. Dieser Hochglanzdreck schwimmt jetzt im Rhein. Liebe ist zur Ware verkommen. Der Kapitalismus regiert. Wotans Verlangen ist nur mehr Ackermann’scher Art. Der oberste Gott steht diesem Kosmos der unendlichen Ausbeutung vor. Hilflos sind wir dem ausgesetzt. Alberich ist eine der unteren Chargen, die eine der Minen betreibt. Fasolt und Fafner werden zu Rädchen in dem System.

Borchmeyer: Wotan sagt ausdrücklich zu Brünnhilde: „Als junger Liebe Lust mir verblich, verlangte nach Macht mein Mut.“ Die Liebe verblasst, stattdessen kommt die Macht. Wotan zielt ganz bewusst auf diese Machtwelt, während Alberich Liebe erstrebt, die ihm grausam versagt wird. Dieses Schicksal hat Wotan nicht erlitten.

 

Die Liebe als das Unabgegoltene ist eine bewegende Option, von der Potenzialität her gesehen.

Borchmeyer: Diese Option wird aber auch eingelöst. Siegmund und Sieglinde sind ein großes Liebespaar wie natürlich auch Brünnhilde und Siegfried, bis diese Liebe durch feindliche Mächte zerstört wird.

Heyme: Im Falle Siegmunds und Sieglindes ist es eine unerlaubte, alle Tabus sprengende Liebe. Diese unendlich ersehnte und in Sekunden verwirklichte Liebe ist das Einzige, was zumindest in der „Walküre“ all dem Dreck entgegensteht.

Borchmeyer: Die Liebesutopie bleibt, auch wenn sie nicht mehr so vordergründig wie in dem ursprünglich geplanten Schluss des „Rings“ zur Sprache kommt. Doch auch der Schopenhauer’sche Pessimismus wird verworfen: Der Welt täte es am besten, wenn sie zugrunde ginge. Sowohl der feuerbachianisch-optimistische als auch der schopenhauerianisch-pessimistische Schluss, der in sein Künstlerherz nie wirklich eingedrungen ist, wurde von Wagner schließlich verworfen.

Heyme: Diese Liebesutopie ist abgründig. Aber in diesen Abgrund muss man mit Wagner – auch als Publikum – schon springen, um etwas Wesentliches zu bergen. Mit dem „Ring“ wird nichts Einfaches serviert. Neben aller Liebeshandlung führt Wagner in der „Götterdämmerung“ das Volk ein. Das sind all diejenigen, die millionenfach vorhanden sein müssen, damit Herrschaft für die Oberen funktioniert. Das Volk wird auf die Bühne beordert, tritt auf, säuft, hurt, schreit „ Heil!“ und „Kreuzigt ihn!“. Dieses Volk steht am Ende auf einer von Göttern leeren Bühne und fragt: „Was nun? Wie geht es weiter? Geht es weiter?“ Da scheint jede Hoffnung eliminiert.

Borchmeyer: In „Oper und Drama“ vertrat Wagner – der wusste, dass der Chor die Grundlage der griechischen Tragödie war – die These, dass das Orchester ihn geschichtlich abgelöst habe. In der „Götterdämmerung“ kassiert er diese These jedoch wieder. Man darf Wagners Theorie also nie restlos vertrauen. Über den Trauermarsch, den er nie so bezeichnet hat, sagte er zu Cosima, er habe hier einen griechischen Chor gedichtet und komponiert. Also einen nichtverbalen Kommentar zum Drama! Der sogenannte Trauermarsch ist quasi ein antikes Chorlied.

Heyme: Aber der singende und agierende Chor ist ein Chor der Mitmacher, die brüllen, was man ihnen einredet. Wir kennen das.

Borchmeyer: Aber der Chor singt eben nicht mehr im Trauermarsch: Er bleibt orchestral. Sobald der Chor anfängt zu singen, wird er dubios. Sobald die Worte weg sind, als Orchester, ist der Chor gut.

Heyme: Dem Chor fehlen am Ende die Noten. Die muss er sich nun selber schreiben. Da wird ein Chor in der Erwartung gezeigt, in Musik gesetzt zu werden.

Borchmeyer: Schiller hat in seiner grandiosen Vorrede zur „Braut von Messina“ die reale und die ideale Funktion des Chors unterschieden. Der reale Chor ist immer in die unheilvollen Handlungskonstellationen verstrickt, wogegen die ideale Funktion des Chores davon frei ist. Bei Wagner wird diese ideale Funktion an das Orchester abgegeben. Dieser reine, weil sprachlose Kommentar im Trauermarsch, mit dieser Verdichtung der Leitmotive, ist eigentlich der ideale Chor. Auch der ganze instrumentale Schluss der „Götterdämmerung“ ist Chor. Dieser Chor ist stumm und muss erst in Zukunft das Reden lernen.

 

Eine utopische Chiffre?

Beide: Ja. //

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