Theater der Zeit

Auftritt

Leipzig: Sind Sie normal?

Theater der Jungen Welt: „Ich bin“ von Jana Zöll; „Und morgen streiken die Wale“ von Thomas Arzt. Regie Johanna Zielinski, Ausstattung Thurid Goertz

von Lara Wenzel

Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)

Assoziationen: Theater der Jungen Welt

Anzeige

Anzeige

„Leben Sie in einer Familie? Haben Sie gerne Sex in Gruppen? Sind Sie normal?“ Die Zuschauerinnen werden gebeten, sich zu offenbaren und die Laptopkamera einzuschalten, wenn sie eine der Fragen bejahen. Zögerlich weichen die schwarzen Kacheln des ­Online-Meetingraums ein paar Gesichtern. Die ­wenigsten bekennen sich zu den abgefragten Sexualpraktiken; der eigenen Normalität möchte niemand zustimmen.

Was es bedeutet, der Norm zu entsprechen oder mit ihr zu brechen, erforscht die Performerin Jana Zöll in der Online-Produk­tion „Ich bin“. Dabei bleibt die Autorin, Schauspielerin und Inklusionsberaterin meist unsichtbar. Lieber lässt sie die Identitäts­zuschreibungen für sich sprechen, die an den Einordnungen „Mann – Frau“ oder „behindert – nichtbehindert“ hängen. Sie bom­bardiert das Publikum mit Fragen und fordert die gewaltsame Einordnung in Schubladen heraus. Fremd- und Selbstzuschreibungen sind Bausteine der Identität und reduzieren einen Menschen auf wenige Schlagworte. In ihrer künstlerischen Laufbahn wurde die ausgebildete Schauspielerin im Rollstuhl häufig auf ihre Körperlichkeit festgelegt. Bei Engagements an Stadttheatern stand selten ihr Können im Vordergrund, ihr Dasein wurde zum Marker für vermeintliche Diversität.

Jetzt konzentriert sich Zöll auf freie Theaterarbeit und gibt Workshops für Inklu­sion. In dem von ihr mitgegründeten Leip­ziger Performance-Kollektiv Polymora Inc. steht eine „mixed-abled“ Produktionsweise, bei der alle ihre Fähigkeiten und Erfahrungen ­gleichberechtigt einbringen können, im Zentrum des künstlerischen Schaffens. Mit einem ebenso inklusiven Ansatz leitet sie seit der neuen Spielzeit gemeinsam mit Paul Lederer den Kidsclub vom Theater der Jungen Welt. Die im letzten Jahr angetretene Intendantin Winnie Karnofka und ihr Team gestalten das Programm des Leipziger Kinder- und Jugendtheaters mit einer Vielzahl digitaler Angebote, die Wert auf Gleichberechtigung und breite Teilhabe legen. Die Künstlerinnenresidenz Challenge Accepted ist eines der neuen Formate, die mit Zölls Performance-Lecture „Ich bin“ eröffnet wurden.

Weil die Performerin Teil der Covid-19-Risikogruppe ist, wandelt sie ihre Wohnung zur digitalen Bühne. Mit einer Hand­kamera filmt sie einen kopflosen Gipsabdruck ihres Körpers. Erst wird das Publikum aufgefordert, diesen mit verschiedenen Labels zu versehen, dann pinnt sie selbst einige Attribute daran. Auf Klebezetteln stehen da Identitätszuschreibungen wie weiß, weiblich, hetero. Anhand ihrer Biografie erzählt Zöll, wie ihr Körper früh als „defizitär“ gelabelt wurde und ihr gesagt wurde, dass sie sich lieber auf ­ihren klugen Kopf verlassen solle. Dabei ist niemand behindert, sondern wird es durch Barrieren, Vorurteile und Diskriminierung.

Die intersektionale Verschränkung von Ableismus – der strukturellen Abwertung von Menschen mit Behinderung – und Sexismus wird deutlich, wenn Zöll die zugeschriebenen Attribute mit denen von Männern und Menschen ohne Behinderung vergleicht. Da kommen eher Adjektive wie stark, unabhängig oder mutig in den Sinn. Öffnet man die Schublade Frau beziehungsweise Mensch mit Behinderung, assoziieren viele eher: schwach, hilfsbedürftig oder kindlich, sagt Zöll. Zufall? Keineswegs. Der Frage, wie genau patriarchale und kapitalistische Abwertung von Leben zusammenwirken, wird jedoch nicht weiter nachgegangen. Die belehrende Performance von Zöll endet sehr optimistisch: Sie erklärt die eingeprägten Kategorien in unseren Köpfen für ungültig. Ein engagierter Appell an das Individuum, der in den Angeboten des Theaters der Jungen Welt ein kleines strukturelles Echo findet.

Jugendtheater mit Haltung liefert ebenfalls die Produktion „Und morgen streiken die Wale“. Die Ausgangssituation zeigt eine erschütternde Folge des menschlichen Eingriffs in die Meere: Neun Pottwale wurden an die Nordseeküste gespült, weil sie im signalüberlasteten Wasser die Orientierung verloren haben. Nur der letzte schwimmt noch unentdeckt in der Bucht. Als die 16-jährige Mel davon erfährt, kann sie nicht weiter für die kommende Prüfung lernen. „Bin nur kurz die Welt retten!“, erklärt sie in einer Notiz für ihre Mutter, dann schwingt sie sich auf ihr Fahrrad und bricht zum Ort des Geschehens auf. Im digitalen Mitmachformat liegt die Entscheidung, was die Protagonistin als Nächstes tun soll, bei den Zuschauerinnen. An Absperrband, gemeinen Wachleuten und Wal­kadavern vorbei geht es darum, den verirrten Überlebenden ins offene Meer zu lotsen und so zu retten. Energetisch spielt Julia Sonntag auf der Theaterbühne vor den Publikums­kacheln. Begleitet wird das Abenteuer der jungen Aktivistin von vorab aufgezeichneten Videos ihrer Mitspielerinnen und einem Live-Schlagzeuger, der mit Wind und Meeres­rauschen die raue Atmosphäre des inter­aktiven Spiels schafft.

In der Inszenierung von Johanna Zielinski löst das Publikum in Umfragen Rätsel – ­Matheaufgaben und Pottwal-Fakten werden abgefragt – und bekommt neue Gegenstände wie eine Ausgabe von „Moby Dick“, die in Eriks Survivalrucksack landen. Der ist selbst Umweltaktivist und ein Vorbild für Mels Tatendrang, während die anderen Jugendlichen in der Inszenierung Selfies mit den gestrandeten Walen machen und der Umweltkatastrophe mit einem abwiegelnden „C’est la vie“ ­begegnen. Ist das Klischee einer „Alles-egal“-Jugend mit Blick auf Fridays for Future noch haltbar? Die Protagonistin kämpft sich jedenfalls allein durch. Sie wirkt dafür umso furchtloser gegenüber den Wachmännern, die schon begonnen haben, die toten Wale zu zerkleinern, um aus den Überresten Profit zu schlagen. Sie handeln nach einem Ausbeutungsdrang, gemäß dem der Mensch nur das Leblose endgültig besitzen kann und so der Selbstvernichtung entgegenstrebt. Dabei wirkt ihr Handeln nur auf der Oberfläche vernünftiger als Kapitän Ahabs Zerstörungswut gegenüber dem weißen Wal, der beinahe seine gesamte Crew in den Tod riss.

Der Wal, dem Mel in einem geklauten Boot begegnet, gleitet friedlich durchs Wasser. Sie berichtet dem Publikum von seiner Schönheit, während sie sein majestätisch im Mondlicht glitzerndes Auge filmt. Allein auf dem Meer, auf die Rettung des Wals durch Umweltschützerinnen hoffend, denkt sie über ihre Konsumentscheidungen nach. „Für meinen Luxus müssen andere bezahlen“, stellt sie mit Blick auf ihr Handy fest. Darin steckt das Konflikterz Coltan, dessen Abbau in ­Kongo Ausbeutung und Bürgerkrieg fördert. Am Ende werden sie und der Wal durch das problematische Kommunikationsgerät gerettet, Erik sei Dank. Individueller Verzicht wäre auch eine unzureichende Strategie gegenüber dem menschgemachten Klimawandel. Für Mel steht fest, dass etwas getan werden muss, um sich der Ausbeutung der Natur entgegenzustellen. Das gemeinsam mit dem Publikum durchlebte Abenteuer endet mit aktivistischem Impetus.

Die Inszenierung nach einem Text des österreichischen Dramatikers Thomas Arzt schafft einen kurzweiligen Abend, der an persönliches Engagement appelliert. Etwas konstruiert wirkt die Geschichte schon, die inhaltlich an der von jungen Menschen getragenen Klimabewegung vorbeierzählt wird. Dafür funktioniert die Interaktion mit dem Publikum ungezwungen und erschafft einen unterhaltsamen Sog, der über die Länge der Inszenierung trägt. Gegen die Einhegung und Vernichtung des Lebens, das über alle Identitätskategorien und Verwertungsinteressen hinaussprudelt, wenden sich beide Inszenierungen. Dazu wurden die engagierten Themen souverän auf eine Meeting-Plattform verlagert, ohne als pein­licher Kompromiss daherzukommen. Digital Natives gefällt das. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"

Anzeige