Theater der Zeit

Pubertätsnöte, Doping und der unsichtbare Dritte

SCÈNE 17 präsentiert erstmals zeitgenössische Stücke aus drei europäischen Ländern

von Frank Weigand

Erschienen in: Scène 17: Neue französische Theaterstücke (05/2014)

Assoziationen: Dramatik

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Seit 1999 werden in der Anthologie SCÈNE Jahr für Jahr neue Stücktexte aus der französischen und französischsprachigen Theaterszene in deutschen Übersetzungen veröffentlicht, mit dem Ziel, den Autorinnen und Autoren Brücken in den deutschsprachigen Raum, zu Theatern, Theaterschaffenden und ihrem Publikum zu eröffnen.

In der Geschichte von SCÈNE bildet dieser Band eine Ausnahme, Nummer 17 ist eine Premiere. Die Ausgabe ist in Zusammenarbeit mit dem europäischen Autorenprojekt Fabulamundi. Playwriting Europe entstanden, einer Kooperations- und Austauschplattform für zeitgenössische europäische Dramatik und europäische Theaterschaffende. Sie steht unter dem Motto „The Dangerous Opportunity/Zukunft als Chance“. Organisiert und produziert wird sie von PAV (Italien), Off Limits (Spanien), Teatrul National Targu Mures (Rumänien) und einem Netzwerk von verschiedenen Theatern und Festivals in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Rumänien. Das Projekt wird gefördert vom Kulturprogramm der EU. Im Mittelpunkt stehen die Auswahl und Übersetzung von Theaterstücken, szenische Lesungen und Aufführungen, sowie Masterclasses für Studenten mit den ausgewählten Autoren.

Eine Verbindung mit SCÈNE lag also nahe und ist erfreulicherweise zustande gekommen. Fünf Fabulamundi-Autoren und -Autorinnen werden vorgestellt. Neben drei französischen Dramentexten enthält SCÈNE 17 auch zwei Stücke aus Italien und Rumänien und bietet damit die Chance, eine Vielfalt an Themen, Formen und Theatersprachen zu entdecken. Denn natürlich unterscheiden sich die Produktionszusammenhänge und Theaterkonventionen der europäischen Länder ganz erheblich. Keiner der präsentierten Texte erhebt den Anspruch, die gesamte Theaterrealität seines Landes abzubilden. Dennoch lässt sich eines feststellen: Alle arbeiten mit einer kleinen Besetzung (zwei bis fünf Personen) und erzählen anhand präzise abgesteckter Geschichten etwas über den „großen“ Zustand unserer Welt. Von der „großen Narration“ scheint man sich indes verabschiedet zu haben.

Am konkretesten in einem historischen Kontext verankert ist Lilli/HEINER intra muros der jungen französischen Autorin Lucie Depauw. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das keine Zeit bekommt, Frau zu werden. Gezeugt wird Lilli 1961 in Berlin, in der Nacht, als die Mauer gebaut wird. Ihren Vater lernt sie nicht kennen, er bleibt im Westen, die Mutter im Osten der Stadt. Als sportliches Nachwuchstalent ist Lilli in der DDR massiven Hormonbehandlungen ausgesetzt. Die Erfolge lassen nicht auf sich warten, doch gleichzeitig entfernt sich Lilli mehr und mehr von sich selbst. Ein langer schmerzlicher Weg beginnt, an dessen Ende Lilli zu HEINER geworden ist, eine Person, für immer gespalten, für immer zusammengefügt aus zwei Geschlechtern. In einer Art Wechselgesang, einer Collage verschiedener Stimmen (Lilli, HEINER, die Mutter, der Staatsanwalt), die in ihren besten Momenten an das sperrige Erbe eines Heiner Müller erinnert, wird die Geschichte von Lilli/HEINER aus verschiedenen Blickwinkeln evoziert, rekonstruiert, untereinander verhandelt. Lilli/HEINER erzählt von den Frauen, die in ihrem/seinem Leben eine Rolle spielen. Neben der Mutter ist das vor allem Elfi, ihre/seine erste große Liebe, die in der Sportakademie das Zimmer mit Lilli teilt und die an den chirurgischen Eingriffen, die man im Namen des Sports an ihr vornimmt, zugrunde geht. Und schließlich Magda, HEINERs Frau, die Mutter seiner Töchter, die ihn unterstützt hat auf seinem Weg, und die die Verwandlung von Lilli in HEINER endgültig beglaubigt. Interessant an Depauws Text ist nicht zuletzt ihre Außenperspektive: Die Französin leistet sich einen Blick auf die deutsche Vergangenheit, den vermutlich kein deutscher Dramatiker so gewagt hätte.

Eine Art Gegenmodell dazu findet sich in Die grüne Katze der jungen rumänischen Journalistin und Dramatikerin Elise Wilk. In einer tristen Kleinstadt, in deren Außenbezirk sich düster eine Chemiefabrik erhebt, verhandeln fünf junge Menschen ihre pubertären Nöte und Schwierigkeiten mit der Erwachsenenwelt. Die Väter sind abwesend oder alkoholkrank, die Mütter driften ziellos von einem Freund zum nächsten – und den Jugendlichen bleibt als einzige Anlaufstelle der Club „President“, in dem sich ihr soziales Leben abspielt. Obwohl der Mord, den der vereinsamte Dani beinahe unabsichtlich an der hübschen Bianca verübt, dramaturgisch äußerst spannungsvoll erzählt wird, bietet er im Grunde nur den Vorwand für das Porträt einer desillusionierten Generation, für die eine auf einem T-Shirt abgedruckte grüne Katze ausreicht, um ein Arsenal an Projektionen und Fluchtphantasien in Bewegung zu setzen. Natürlich bildet Elise Wilk die Realität in einer post-sozialistischen rumänischen Kleinstadt ab (und natürlich ist es bitter ironisch, den einzigen Anlaufspunkt der jungen Protagonisten „President“ zu nennen), doch gleichzeitig sind die Dramaturgie und die abgebildeten Nöte des coming of age universell. Auch auf formaler Ebene entspricht Wilks Text durchaus europäischen Theaterstandards. Beziehungslos stehen die Figuren nebeneinander, der musikalisch komponierte Text operiert zwar mit Realismus und Alltagssprache und ist doch auch Kunstprodukt. Wie eine Art Oratorium variiert Die grüne Katze die universellen Themen des Heranwachsens in einem vielstimmigen Chor aus Monologen, die immer wieder rhythmisch gekreuzt und zusammengeführt werden.

Eine vollkommene Abkehr vom Realismus finden wir in LIGHT von Magdalena Barile. Die italienische Autorin und Dramaturgin hat in diesem rätselhaften und doch leicht und voller Dialogwitz komponierten Stück alle konkreten Verweise auf Alltagsrealität getilgt. Protagonisten sind zwei sogenannte „Luminanten“, Menschen, die aus sich selbst heraus Licht verströmen können, die von einem dubiosen Großkünstler namens „der Grieche“ in einem Haus festgehalten werden, wo dieser eine gewaltige Installation plant – „wie die Sixtinische Kapelle – nur zynischer“, wie es Cal, der weibliche Luminant formuliert. Während draußen die Lichtpolizei, die „Light Killer“, Jagd macht auf alles, was leuchtet, entspinnt sich zwischen den beiden Figuren eine zart verquere Liebesgeschichte. Ob es sich bei dem Werk um eine Satire auf den zeitgenössischen Kunstbetrieb handelt, oder ob der „Grieche“, der die Allmachtsphantasien eines Silvio Berlusconi auszuleben scheint, als Anspielung auf die politische Realität in Italien zu verstehen ist, wird niemals aufgelöst. Trotzdem entfaltet LIGHT eine ganz eigene wehmütig-surreale Komik, für die es hierzulande nur wenige Entsprechungen gibt.

Geografisch und durch seinen Produktionszusammenhang eindeutig lokalisierbar ist Im Bau von Pauline Sales – ebenfalls ein Zwei-Personenstück. Die Autorin, die in der Kleinstadt Vire in der Normandie ein Theater leitet, das versucht, auch bildungsferne Bevölkerungsschichten zu erreichen, hat zwei von ihren Schauspielern einen Text auf den Leib geschrieben, in dem es um das Eindringen des Fremden, Migrantischen in ur-französische Lebenszusammenhänge geht. André, ein Vorarbeiter, und Svetlana, eine junge Frau aus Weißrussland, kommen sich auf einer Großbaustelle für sozialen Wohnungsbau näher. Die Weißrussin hatte sich ursprünglich in Männerkleidung in das Arbeitsteam geschmuggelt und bringt nun Andrés Weltanschauung durch ihren trockenen Humor, ihren Sinn für Kunst, ihre erotische Ausstrahlung – und nicht zuletzt durch ihre Verbindung zur weißrussischen Mafia – kräftig durcheinander. Im Wechsel zwischen pointierten Dialogen und längeren monologartigen Passagen, bei denen die Schauspieler immer wieder aus ihren Rollen heraustreten, erzählt Pauline Sales nicht nur mit großer Zärtlichkeit von einer gescheiterten Liebesgeschichte, die niemals eine Chance hatte, sondern auch von der weltweiten Realität internationaler Lohnarbeit.

Der komplexeste und am virtuosesten konstruierte Text dieses SCÈNEBandes stammt von dem französischen Dramatiker Frédéric Sonntag, dessen frühes Stück Wir waren damals jung bereits in SCÈNE 12 erschienen ist. In drei Akten entwirft der Autor ein lustvoll postmodernes Spiel mit Verweisen, das leichthändig aktuelle Verschwörungstheorien und Widerstandsformen aufgreift. Während zu Anfang eine militante Studentenclique an der Ausarbeitung eines revolutionären Manifests scheitert, befinden wir uns im zweiten Akt in einer mikroüberwachten Drehbuchwerkstatt in Hollywood (Achtung, Geldgeber hört mit!) – und im dritten Teil des Stücks im geheimen Besprechungsraum einer Regierungsmannschaft (NSA und CIA lassen grüßen!). Dreimal geht es um politischen Widerstand, Überwachung und die Manipulation von Informationen. Metapher und ungreifbares Zentrum all dieser unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge und Handlungen ist ein ominöser George Kaplan, der dem Hitchcock-Klassiker Der unsichtbare Dritte entlehnt ist, und der abwechselnd als fiktiver Terrorist, Machtinstrument, Leitmotiv der Kunstgeschichte oder roter Faden in der Geschichte des organisierten Widerstands zum Einsatz kommt. Mit viel Ironie lässt Sonntag ein Wechselspiel von Paralleluniversen entstehen, die lediglich durch die altmodische Sehnsucht nach der letzten „großen Erzählung“ zusammengehalten werden. Auch wenn die politischen Sympathien des Autors unverkennbar auf Seiten der Möchtegern- Terroristen liegen, hält er sein Gespinst aus Bezügen meisterhaft in der Schwebe. Der vielstimmige Text oszilliert augenzwinkernd zwischen Alltags-, Intellektuellen- und Politikerslang, für die Spiellust von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich von Akt zu Akt in immer neue Figuren verwandeln, ein wahres Theaterfest.

Gemeinsam ist den hier vorgestellten Texten trotz aller Unterschiedlichkeit eine offenkundige Konzentration auf den Schauspieler. Dies mag damit zusammenhängen, dass alle Autoren mit praktischer Theaterarbeit vertraut sind. So arbeitet die Italienerin Magdalena Barile, deren leichthändigen Dialogen man die Praxis als Drehbuchautorin anmerkt, regelmäßig als Dramaturgin mit verschiedenen Theaterkompanien zusammen, und auch ihre rumänische Kollegin Elise Wilk ist sowohl als Autorin, als auch als Kulturmanagerin und dramaturgische Beraterin tätig. Ähnlich wie Magdalena Barile kommt auch die Französin Lucie Depauw ursprünglich aus der Filmbranche. Neben ihrer Arbeit als Autorin ist sie als Regieassistentin beim französischen Fernsehen beschäftigt. Frédéric Sonntag ist der klassische Fall eines regieführenden Autors: Mit seiner Kompanie AsaNIsiMAsa inszeniert er seit nunmehr zehn Jahren zunehmend erfolgreich ausschließlich eigene Texte, die auch im Ausland immer größeren Anklang finden. Und Pauline Sales, deren Text Grönland vor zehn Jahren in SCÈNE 7 erschien, ist ausgebildete Schauspielerin. Der anerkannten Autorin gelang vor wenigen Jahren der Sprung in die Intendantenrolle: Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Schauspieler und Regisseur Vincent Garanger, leitet sie seit 2009 das Centre Dramatique National Le Préau im normannischen Vire und verbindet dort ihr Schaffen als Autorin und Programmkuratorin mit dezentraler Kulturarbeit. Bei ihrem Stück Im Bau hat sie zum ersten Mal auch Regie geführt.

Der vorliegende Band von SCÈNE erhebt nicht den Anspruch, ein differenziertes Bild europäischer Dramatik zu zeichnen, das kann er in dem auf fünf Stücke und drei Länder beschränkten Umfang auch gar nicht leisten. Formal interessante, thematisch spannende zeitgenössische Theatertexte zu präsentieren und miteinander in Beziehung zu setzen, das war das Ziel. Bei der Entdeckungsreise durch diese kleine Auswahl europäischer Dramatik wünschen wir Ihnen viel Vergnügen – diesmal dreisprachig:

Bonne lecture – lectură plăcută – bouna lettura!

 

Frank Weigand, im März 2014

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