Theater der Zeit

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Auftritt

Welttheater Einsiedeln: Jedermann und jedefrau

„Das große Welttheater“ von Lukas Bärfuss nach dem Schauspiel von Calderón de la Barca (UA) – Regie Livio Andreina, Kostüm- und Raumgestaltung AnnaMaria Glaudemans, Choreografie Graham Smith, Musik Bruno Amstad, Dramaturgie Judith Gerstenberg, Musikalische Leitung Susanne Theiler

von Anne Fritsch

Assoziationen: Theaterkritiken Schweiz Lukas Bärfuss

Buntes Spektakel: Das Welttheater Einsiedeln. Foto Emanuel Ammon, Luzern
Buntes Spektakel: Das Welttheater EinsiedelnFoto: Emanuel Ammon, Luzern

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Einsiedeln und Welttheater. Das klingt erst einmal nach einer merkwürdigen Kombination aus Abgeschiedenheit und globalem Anspruch. Doch dieser Widerspruch hat Tradition: 1924 spielten die Bewohner:innen des Ortes im Schweizer Kanton Schwyz das erste Mal „Das große Welttheater“ von Pedro Calderón de la Barca auf ihrem gigantisch großen Klosterplatz. Ein sakrales Spiel vom Leben und Sterben des Menschen: Ein:e jede:r tritt nackt auf die Bühne, erhält die Requisiten für seine oder ihre Rolle im Leben, lebt dieses gottgefällig und geht am Ende wieder nackt in den Tod. Ein bisschen wie der „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal, der in Salzburg vor ähnlich kolossaler Kirchenkulisse zelebriert wird. Nur, dass es bei Calderón eben nicht um den einen reichen Mann geht, sondern wirklich um jedermann und -frau. Ungefähr im Fünf-Jahres-Rhythmus finden die Spiele seitdem statt. Zum hundertjährigen Jubiläum hat nun der Autor Lukas Bärfuss das Stück überschrieben.

Wer Bärfuss kennt, ahnt, dass die sakrale Erzählung eines Lebens im Einklang mit vorbestimmten Rollen – und Ungerechtigkeiten – nicht so sein Ding ist. Weil ihn mit Regisseur Livio Andreina aber eine langjährige Arbeitsbeziehung verbindet, hat er zugesagt. Schließlich lauern auch bei Calderón hinter der barocken Weltanschauung, hinter Festwagen, Pyrotechnik und Fabelwesen existenzielle Fragen. Und die interessieren Bärfuss dann doch: Welche Rolle ist deine Rolle? Wie willst du leben? Was ist ein gutes Leben? Wie willst du sterben? Was opferst du?

Bärfuss’ Fassung beginnt mit der Absage des Spiels. Der Autor, der durch das Spiel führt, sagt in der ersten Szene das Welttheater ab; die bisherigen Rollen taugen nichts mehr: Der Bauer hat keine Lust mehr auf andauernde Maloche, der König hat keine Untertanen mehr, der Arme will nicht ewig arm sein und der Reiche hat ohne Arme keinen Spaß am Reichsein. Die Vernunft hat ob des Zustands der Welt längst resigniert, die Schönheit ist relativ geworden … Auf wenigen Seiten beziehungsweise in wenigen Minuten dekonstruiert Bärfuss also den kompletten Calderón (und 99 Jahre Einsiedler Welttheater), um es dann unter neuen Vorzeichen wieder zusammenzusetzen. Schließlich sind es die Kinder, Pablo und Emanuela, die eine Fortsetzung verlangen, trotz allem spielen wollen. Sie setzen sich durch, „ich will, ich will, ich will“. Das Spiel beginnt.

Es wird bunt und voll auf dem Klosterplatz. Die Welt, die da einzieht, ist eine mit Lama, Stelzen und Musik; mit Weltwundern, Winden, Waldbränden; mit Plattentektonik, Permafrost und Pandemie. Regisseur Livio Andreina und Bühnen- und Kostümbildnerin AnnaMaria Glaudemans füllen den leeren Platz mit einem bunten Spektakel, das die karnevalesken Elemente barocker Theaterumzüge gekonnt ins Heute überführt. Einmal herbeigerufen, hört diese Welt aber nicht mehr auf, sich zu drehen, immer schneller wirbelt sie herum wie ein Tornado, wird unbeherrschbar. Schnell zeigt sich, dass diese Welt voller Plagen ist, kleine und große „Viecher“ (eine wunderschön metallisch schillernde Riesen-Heuschrecke) machen sich über die Ernte der Bauern her. Und als die Kinder älter werden, verlieren auch sie ihre Unschuld. Emanuela plustert sich auf zur Gewaltherrscherin, die selbst in ihrem Freund Pablo einen zu beseitigenden Konkurrenten sieht.

Bärfuss’ Welttheater macht keinen Halt vor dem, was unsere Gegenwart ausmacht: Populismus, Machtstreben, Krieg und Zerstörung. Aus der bunten leichten Kinderwelt wird ein düsteres Abbild unserer Welt, aus dem Spiel bitterer Ernst. „Das Leben ist nie, was wir darüber denken. Und erst, wenn sie gespielt ist, verstehen wir unsere Rolle“, erklärt der Autor der fassungslosen Emanuela, die im Laufe des Abends vom Kind zu jungen Frau, zur Erwachsenen und schließlich zur Greisin wird.

Ihre Schuld will sie nicht sehen, und schließlich alles anders und besser machen. Die Welt um sie ist eine des Elends und der Armut geworden, in der Kinder prostituiert werden (Bärfuss scheut nicht vor harschen Seitenhieben auf die katholische Kirche zurück) und alles erlaubt scheint. Mit den Elenden zettelt Emanuela eine Revolution an: „Gegen das Gesetz, das wenigen viel gibt und vielen wenig lässt“ – was hier in der Schweiz, dieser Oase der Nummernkonten und Bankgeheimnisse, nochmal anders nachhallt. Es folgt eine Selbstermächtigung mit Fackeln der Revolution und jeder Menge Pathos. Der Autor wird vertrieben als Fremdbestimmer, die Klosterkirche geplündert. Und? – Die Geschichte der Ungleichverteilung beginnt von neuem. Die Gesichter der Macht wechseln, die Strukturen bleiben. Emanuela verwandelt sich in ihr eigenes Götzenbild, wird zur schwarzen Madonna, die in der Einsiedler Kirche seit jeher von Pilger:innen angebetet wird. Sterben muss sie am Ende dennoch. Das Spiel aber beginnt einfach von vorn, diesmal ohne sie.

Lukas Bärfuss und Livio Andreina haben das alte Welttheater neu zusammengefügt. Über 500 Mitwirkende aus Einsiedeln überzeugen als sogenanntes Spielvolk auf der Bühne, im Chor und Orchester, schaffen auf dem weiten leeren Platz ein Gesamtkunstwerk, das unterhält und nachdenklich macht. Der Mensch ist sein eigenes Übel, seinem Gegenüber ein Wolf. Im Grunde sind wir nicht viel weiter als die barocken Menschen in ihrer Gottgläubigkeit. Das Spiel um Macht und Ohnmacht kommt in neuem Gewand daher, das Prinzip aber bleibt das gleiche. Auf dem Weg zum Hotel taucht von irgendwoher der alte Brecht und seine „Ballade von der Unzulänglichkeit“ in den Gedanken auf. „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht gut genug.“

Erschienen am 14.6.2024

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