Theater der Zeit

Landvermessung: der Norden

Ich habe Stimmen gehört

„Die Physiker“ in Lüneburg – wie das Theater helfen könnte, dem Irrsinn in der Welt beizukommen

von Mirka Döring

Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)

Assoziationen: Niedersachsen Theaterkritiken Theater Lüneburg

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Die allermeisten Menschen verspüren nicht selten spontane Impulse, von der gesellschaftlichen Norm abzuweichen, ohne diesen aber wirklich nachzugeben. Wenn mich im Supermarkt touretteartig das Bedürfnis befällt, unnütze Dinge heimlich in meine Tasche zu stopfen, um das Geschäft dann ohne zu bezahlen zu verlassen, dann tue ich das (leider) eher nicht. Zu viel habe ich in die Aufrechterhaltung meines Normalseins investiert, als dass ich mir erlauben würde, mich von solch einem dummen Affekt fortreißen zu lassen. Das Bewusstsein über etwaige nachfolgende Konsequenzen hilft mir dabei. So aufregungsarm, möchte man meinen, gehen Menschen mit mehr oder minder stark ausgeprägter Sozialbindung einkaufen.

Bei einer absichtlichen Nonkonformität stellt sich notwendigerweise die Frage nach der Motivation dazu. Die von Johann Wilhelm Möbius aus Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ könnte hehrer nicht sein: die Rettung der Menschheit. Er will die Welt vor seinen möglicherweise gefahrbringenden physikalischen Erkenntnissen schützen und tut alles dafür, im privaten Sanatorium weggesperrt zu bleiben, um ohne weitere Beachtung seinem Forscherdrang nachkommen zu können. Wo die Verletzung informeller sozialer Verabredungen – etwa, dass man sein familiäres Umfeld nicht im Selbstverständnis eines Königs Salomo mit wirren Planetenpsalmen vollzukübeln hat – nicht zum Bleiberecht in der Anstalt ausreicht, muss mit qua Gesetz festgeschriebenen Grundsätzen gebrochen werden: Ein scheinbar unmotivierter Mord ist da eine hervorragend extreme Maßnahme.

Während die Motivation von Möbius in ihrem grenzenlosen Altruismus zwar fraglich, aber nachvollziehbar als Berechnung offenliegt, scheint die Leiterin der Anstalt, Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd, jegliches Gespür für konventionelle Verhaltenskodizes verloren zu haben. Geht man davon aus, dass die Frage, ob ein Verhalten von einer Norm abweicht oder nicht, unter anderem davon abhängt, wie andere Menschen auf dieses Verhalten reagieren, lässt sich das Dilemma von Möbius konkretisieren: Fräulein von Zahnd hält – in ihrer eigenen Entrückung – Möbius’ gespielte Verrücktheit für wahr, nimmt folglich dessen Forschungsergebnisse ernst, eignet sie sich an und setzt sie zu nichts Geringerem als zur Erlangung der Weltherrschaft ein. Der ganze selbstlose Plan: für die Katz. Dürrenmatt selbst bezeichnete das in Analogie zum Ödipusmotiv als einen blöden Zufall: „Er stellt sich verrückt. Dieses entspricht der Flucht des Oedipus vor dem Schicksal, das ihm das Orakel ankündigt, nach Theben. Hier greift der Zufall ein. Oedipus flüchtet in die falsche Stadt. Möbius in das falsche Irrenhaus.“

In Lüneburg hat Regisseur Stefan Behrendt Dürrenmatts Dramentheorie, laut der ein Stück eine (durch besagten Zufall ausgelöste) schlimmstmögliche Wendung nehmen müsse, konsequent zu Ende gedacht: Die beiden Geheimdienstler alias Newton und Einstein bringen sich, überzeugt von ihrer moralischen Schuld, jeweils um. Sphärische E-Gitarrenmusik setzt ein. Möbius bleibt verzweifelt zurück. Allein. Unverschuldet schuldig geworden. – Die großen Gesten sind möglich im Theater. Und dass wir im Theater sind, daran lässt Behrendts Inszenierung keinen Zweifel.

Wenn Schauspieler auf der Bühne eine private Situation behaupten, ist das selten weniger unangenehm als inszenierte Pannen und Missgeschicke (siehe auch den Text von Sebastian Kirsch, S. 51). Die „Physiker“-Geisterbahn rumpelt zu Beginn des Abends auf sehr holprigem Geleise: „Hast du mal Feuer?“, raunt ein Schauspieler dem anderen zu. „Ach, dich habe ich heute ja noch gar nicht gesehen!“ Ein anderer klimpert, selbstversunken zwischen Kulissenteilen sitzend, auf seiner Gitarre. Schwerer Molton verhängt die Hinterbühne. Eine typische Probensituation. Das spätere Fräulein von Zahnd klatscht beherzt in die Hände: „Lasst uns anfangen!“ – An der Rampe stehend legt das siebenköpfige Ensemble dann eine flotte (Als-ob-) Improtheatershow hin, die Dürrenmatts seitenlange Regieanweisungen zum Gegenstand nimmt: Während der Nebentext rezitiert wird, verknoten sich die Schauspieler zu „blauen Gebirgszügen, human bewaldeten Hügeln und einem beträchtlichen See“, Kulissen und Requisiten werden laut Anweisung geordnet, dann ist alles bereit: „Wir können beginnen!“

Die Geschichte der „Physiker“, Pflichtlektüre in der gymnasialen Oberstufe, kann als mehr oder weniger bekannt vorausgesetzt werden. Man kann daher das Setting für einen mit dem Inhalt korrespondierenden Regieeinfall halten: Eine Gruppe eines Sanatoriums versammelt sich, um als theaterpädagogische Therapiemaßnahme gemeinsam ein Stück einzustudieren. Sozusagen als Stimulation auf dem Weg zur kollektiven Katharsis. Den doppelten Boden verliert die Inszenierung in den nächsten zwei Stunden erst einmal aus den Augen, so dass der Eindruck entsteht, es handele sich vielmehr um eine Behelfsmäßigkeit, einen Einstieg ins Stück zu finden. Das wird dann nämlich weitestgehend texttreu durchexerziert. Ulrike Gronow hat als Frau Rose und als Marta Boll genug Feuer, um mit ordentlich Slapstick durch den Abend zu galoppieren. In Philip Richerts Möbius hat sie dafür einen dankbaren Gegenspieler gefunden. Doch das Ungleichgewicht des Stücks bekommt auch das spielfreudige Ensemble nicht in den Griff: Inmitten platter Gags kehrt Dürrenmatt immer wieder die Tragödie heraus, die sich an der Frage von Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft angesichts einer korrupten Machtpolitik abarbeitet. Und an der Schuldhaftigkeit des Einzelnen. Die Moralkeule schwingt bedrohlich. Dürrenmatts Antwort: Es gibt nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit.

Stefan Behrendts Angebot: Das Theater könnte helfen, um dem Irrsinn in der Welt beizukommen. Theater als Ort, wo das Sichverstellen, das Spiel mit Identitäten, vorurteilslos ausgelebt werden darf. Grenzgänger sind erwünscht: Theater als die andere Seite. Die Alternative jenseits gesellschaftlicher Normen. Eine Einladung zur Nonkonformität. Bis hin zum dionysischen Rausch. Zum Abschluss des Abends – die Metaebene doch noch einmal aufgegriffen – schrammelt sich zumindest Tocotronic heilsversprechend dahinein: „Ich habe Stimmen gehört / Ich habe Dinge gesehn / Die waren so schööön / Nur wer die Stimme verstellt / Wird endlich frei sein und gehn / Ich hab ins Dunkel gesehn“. Titel des Albums: „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Beim nächsten Impuls werde ich daran denken. //

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