Abschied
Du sollst nicht schweigen
In Gedenken an den Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth
von Kerstin Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Die Spieler – Das Schauspielhaus Bochum (06/2020)
Assoziationen: Akteure
Am letzten Abend seines Lebens wollte Rolf Hochhuth Taxi fahren. „Sie müssen eine Maske aufsetzen!“, sagte der Taxifahrer. „Niemals!“, antwortete der Dramatiker. Er, Rolf Hochhuth, Entdecker des elften Gebots „Du sollst nicht schweigen!“ soll sich einen Maulkorb anlegen, freiwillig? Er hätte den Taxifahrer davon unterrichten können, dass er gerade ein Gedicht geschrieben hat über den neuen corona-getarnten Disziplinierungs- und Verbotswahn. „Regeln sind Regeln!“, erklärte sinngemäß der Taxifahrer. Der Dramatiker hätte nun antworten können: „Das haben die Nazis auch gesagt!“ Vielleicht hat er es sogar getan. Das Taxi ließ den Dramatiker stehen, am letzten Abend seines Lebens, 89 Jahre alt. Aber er hat es geschafft: Niemals hat er einen Maulkorb getragen.
Eschwege im April 1945. Am 1. des Monats war der Sohn des Schuhfabrikanten Friedrich Ernst Walter Hochhuth 14 Jahre alt geworden, eine Woche später kam die US Army. 14 ist ein Alter höchster Wachheit. Die Amerikaner machten seinen widerstrebenden Onkel kurzerhand zum Bürgermeister, und der engagierte den Schuhfabrikantensohn als „Laufjungen des Magistrats“. Der Laufjunge sah den nie abreißenden Strom der Bittsteller im Vorzimmer des Bürgermeisters, er sah die vielen fremden Menschen in den Straßen. Vertriebene, KZ-Häftlinge. Lauter menschliches Strandgut. Jede kleine Stadt ist eine verlässliche Welt, ein Mikrokosmos. Diese Welt...