Protagonisten
Jean-Luc Godard 1930–2022
Kein Nachruf – Splitter für ein Nein/Aber
von Mark Lammert
Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)
Assoziationen: Akteure

1.
Die Denklinie Brecht – Müller/Godard ist ab jetzt, ab sofort, ab dem 13. September 2022, die Beschreibung einer Vergangenheit.
2.
Als Heiner Müller 1995 starb, erschien ein Nachruf in der größten Tageszeitung Berlins: „Deshalb ist es eine Frechheit, dass Heiner Müller jetzt tot ist … Und seit über elf Jahren ist Truffaut tot, und Godard lebt immer noch. Das ist doch scheußlich, das kann doch nicht sein, das gibt es doch nicht.“
3.
Aus dem Nachruf vom Januar 1996 auf den Godard gleichaltrigen Heiner Müller ergibt sich folgerichtig die Frage, was das Denken und die Produktion von Jean-Luc Godard zwischen 1995 und 2022 darstellt.
Davor steht jedoch auch eine andere, eine GROSSE FRAGE: Wie, das bedeutet dieser Tod auch, setzt sich jetzt die Denkschule fort, in Wirklichkeit keine Schule, eher eine Art und Weise des Denkens, die über die einzelnen Künste hinausgreift und die annähernd so beschrieben werden kann: nicht These + Antithese = Synthese, sondern These + Antithese ohne Kompromiss.
4.
Das zwischen 1995 und 2022 Entstandene ist (unter anderem!): „JLG/JLG“, 1995, „Histoire(s) du cinéma“, abgeschlossen 1998, „Notre musique“, 2004, „Film Socialisme“, 2010, „Adieu au Langage“, 2014, und „Le Livre d‘Image“, 2018.
Dieses Spätwerk Jean-Luc Godards lässt sich als massenuntauglich und stark radioaktiv beschreiben. Kurz: Es wird lange strahlen.
In den Worten Godards: „Nur das, was im Verschwinden begriffen ist, wird Kunst.“
5.
„Titel sind Gnade“, sagt Heiner Müller; manchmal charakterisieren sie einen Epochenbruch.
Oder mehrere Brüche.
6.
Wenn Heiner Müller bei seinem letzten öffentlichen Auftritt im Herbst 1995 recht gehabt haben sollte: „Die Bilder wechseln, und die Fremdheit bleibt. Diese Generation“ – damit ist die Generation bezeichnet, die nach „Außer Atem“, nach 1960, geboren ist – „hat kein Vaterland und keine Muttersprache. Für sie gilt der Brechtsatz: ‚Die Situationen sind die Mütter der Menschen’ …, die Aura der Preis der Erfahrung“, dann muss die Frage nach dieser Differenz der Generation(en), die Frage nach dem Bruch, den Brüchen, ebenso folgerichtig jetzt auch gestellt werden.
Für beide (und mehr) Generationen gilt wohl, was Godard in einem Interview mit Alexander Kluge so beschrieben hat: „Ich glaube, dass die Jugend schon mit 25 Jahren zu Ende ist. Das heißt, die Jugend hat sehr wenig Zeit, um das Alter ihrer eigenen Jugend kennenzulernen. So ist es auch, wenn man Großeltern geworden ist. Oder wenn man alt geworden ist, von 70 bis 95 Jahre, wenn alles gut geht. Und auch da sind diese 25 Jahre wieder ein sehr kurzer Zeitraum – nicht genug, um die Jugend seines Alters kennenzulernen. Über das erwachsene Alter kann man so etwas nicht sagen. Als Erwachsener existiert man nur auf der sozialen Ebene ...“
7.
„Das gelingt wirklich nur Godard – sie mussten das Fernsehprogramm ändern.“ Sagt ein Freund.
Die Nachrufe lesend, erinnert man sich anderer Texte der Nekrologschreiber: „Godard ist dabei, seinen Ruhm zu überleben. Das darf nicht passieren, und deshalb füttert er die Medien immer wieder mit Sätzen, die gerade vernünftig genug sind, um in der Zeitung zu stehen, und wahnsinnig genug, um aus der Masse des allgegenwärtigen Geredes herauszuragen. Und es funktioniert. Nur mit Erkenntnis hat es nichts mehr zu tun. Es sind Meinungskrümel eines Einsiedlers, der einmal ein König des Kinos war, jetzt aber nur noch ein König Lear des eigenen, schwindenden Mythos ist. Armer König Jean.“ (FAZ, 13. Juni 2014)
8.
Eine der großen Eigenschaften Godards in siebzig Arbeitsjahren bestand darin, niemals die Toten gegen die Lebenden auszuspielen.
9.
Wenn man die mehr oder minderextrem genau gesetzten und ebenso präzise platzierten Statements Godards in den letzten zwei, drei Jahrzehnten verfolgt hat, bemerkt man deren erste Eigenschaft: permanentes Denken und dessen öffentliche Preisgabe, inklusive Weiterdenken; ohne Entschuldigung, immer mit Ironie (und meist mit einiger Menschenfreundlichkeit) vorgetragen: „Robinson war nicht allein. Es gab immer noch die Insel zu entdecken. Und letztendlich hat er Freitag entdeckt. Die Einsamkeit ist keine Abgeschiedenheit. Denn in der Einsamkeit ist man immer mit den anderen zusammen, mit dem, der da ist, oder mit dem, der nicht da ist.“ (Der Spiegel, 22/2014)
10.
„In ‚We’re Still Here‘ ließ mich Anne-Marie Mieville einen Text von Hannah Arendt lesen, in dem sie sagte, dass Einsamkeit nicht Isolation ist. In der Einsamkeit sind wir nie allein mit uns selbst. Wir sind immer zwei in einem, und wir werden eins ... nur dank der anderen und wenn wir uns durch sie finden.“
Es war die Gefährtin und Arbeitspartnerin wie Kollegin über ein halbes Jahrhundert, die vor langer Zeit vorschlug, auf Godards Grabstein „au contraire“, im Gegenteil, zu schreiben.
11.
Im August 2022 starb Graziella Galvani.
Ich mochte sie sehr. Sie leuchtete heraus aus allen Gruppen, ganz optisch. Selbst wenn die Gruppe umzingelt war von roten Fahnen. So scheint es auch vor fast sechzig Jahren in „Pierrot le Fou“, 1965, gewesen zu sein, in dem formal zentralen Moment der Party mit Samuel Fuller, wo sie die Ehefrau von Belmondo gibt.
Der legendäre Farbwechsel während der Partyszene ist ein medienkünstlerisches Icon geworden.
Es muss schwer sein, das Scharnier einer Handlung spielen zu müssen.
Die Schauspielerin Giorgio Strehlers – bekanntermaßen der Lieblingsregisseur Bertolt Brechts, des Autors, den Godard in dem Jahrzehnt nach „Außer Atem“ hauptsächlich zur Auseinandersetzung benutzt – meistert genau das.
Man möchte sagen: weil sie eine Theaterschauspielerin ist.
Wie nebenbei zeigt Godard hier: Eine Hauptrolle hat nichts mit der Dauer eines Auftritts zu tun.
Einmal habe ich sie, Graziella, sehr vorsichtig gefragt, wie es war, damals. Und sie hat es in der entwaffnenden Bescheidenheit einer Ensemble-Schauspielerin beschrieben: dass das Drehen genauso lang dauerte wie das gemeinsame Einkaufen des Kleides für sie.
Beides, Drehen wie Einkaufen des Kostüms, war gleich wichtig, weil gleich bedeutend.
In und aus dieser nicht arbeitsteiligen Haltung zur Fashion, zur Mode, wie zur Musik, der Malerei, der Literatur ist Godard Kind seiner Zeit und seiner Zeit voraus.
Auch aus diesem Zusammenhang stammt Heiner Müllers Feststellung von 1995, dass die Qualität seiner Zitate den Rang eines Autors bestimmt.
12.
Dichte – die Verfestigung, die Erhöhung des Drucks auf das Pigment bei gleichzeitiger Leichtigkeit des Vortrags: So könnte man die Palettenduelle beschreiben, die in den mehr als sechzig Jahren in Godards Filmen „in Farbe“ – das schließt schwarz/weiß, wie er auch sagen würde: „weiß/schwarz“ ein – mit Farben stattgefunden haben. Diese Entwicklung verlief bruchloser, organischer, als man annehmen könnte. Sie überbrückt eine Zeitspanne von siebzig Jahren, exemplifiziert ein filmend verbrachtes „Malerleben“. Und es ist eine parallele Entwicklung zur technischen, in Kombination mit der medialen Fantasie zum Einsatz dieser Mittel.
In der Beschreibung eines Kameramanns: „Wir haben mal Muster angeschaut mit Jean-Luc … Jean-Luc: ‚Nicht schlecht, aber es ist zu wenig dicht (dense)‘ … ‚Es ist doch schon fast zu dicht.‘ … Es wurde dann noch dunkler kopiert und war dann auch dichter. Jean-Luc: ‚Ja, es ist dunkler.‘ ‚Aber du wolltest es doch dichter.‘ Man hat dann eine dritte Arbeitskopie ziehen lassen, und dann hat sich herausgestellt, dass Godard gar nicht die fotografische Dichte gemeint hatte.“
13.
„Ab jetzt“, sagt Godard 2018, „gehe ich dahin, wo ich geblieben bin.“
Das meint wohl mehr Geschichte als Provinz. „Wer ins Leere springt, ist denen, die dastehen und zusehen, keine Erklärung schuldig.“ In den letzten Befragungen der Filmschule Lausanne, des Kerala-Filmfestivals in Indien 2021, eines Pariser Stream-Senders scheint das Finale eines glasklaren Greises Bild und Ton zu werden „Ich beende meine Karriere im Filmgeschäft, ja mein Filmemacherleben, mit zwei letzten Drehbüchern. Danach werde ich dem Kino Lebewohl sagen.“ Da war das Credo des sehr späten Bildbauers schon – als Zitat von Peter Weiss – im Film und den Interviews manifest, „das ist sehr optimistisch und nebenbei das, was ich wirklich denke.“ „Selbst wenn nichts so gelaufen ist, wie wir es uns erhofft hatten, hätte es nichts an dem geändert, was wir uns erhofft hatten.“
14.
Im Mai 2022 meldet sich Godard ein letztes Mal.
„Es war, als ob es notwendig wäre, einen weiteren Weltkrieg und die Gefahr einer weiteren Katastrophe zu inszenieren, damit wir wissen, dass Cannes eine Propagandawaffe wie jede andere ist. Sie propagieren westliche Ästhetik, was auch immer ...“
„Wir sagen oft ‚Interessenkonflikt‘, was eine Tautologie ist. Es gibt keinen Konflikt, ob groß oder klein, es sei denn, es besteht Interesse. Brutus, Nero, Biden oder Putin, Konstantinopel, Irak oder Ukraine, außer dem Massenmord hat sich nicht viel geändert.“
Diese Sätze waren keiner deutschen Zeitung mehr eine Meldung wert.
15.
Jetzt heißt es, er habe die Zeit angehalten.
Aber das musste er überhaupt nicht tun und hat es auch nicht getan.
Wer weiß, ob diese Zeit schon begonnen hat.
Oder wie Godard das ausdrückt hat: „Die Leute sehen sich gerne als Bahnhöfe oder Terminals, nicht als Züge oder Flugzeuge zwischen Flughäfen. Ich sehe mich gerne als Flugzeug, nicht als Flughafen.“
Jetzt ist es soweit. Es stehen scheinbar keine Flugzeuge mehr auf den Rollfeldern. Eine leere Fläche.
16.
Anfangen. Ende.