Ausland
Gelebte Aporien
Das Theaterfestival in Havanna zeigt neben internationalen Produktionen vor allem reich wuchernde Besonderheiten kubanischen Theaters
von Harald Müller
Erschienen in: Theater der Zeit: Am Nullpunkt – Alain Badiou, Philippe Quesne, Joël Pommerat, Du Zieu (01/2016)
Assoziationen: Südamerika Akteure
Kuba 2015. Das 16. internationale Festival de Teatro de La Habana findet Ende Oktober an einem Ort nicht nur scheinbarer, sondern inzwischen auch gelebter Aporien statt. 43 Theatergruppen aus 23 Staaten, vornehmlich aus Lateinamerika, aber auch aus Frankreich, Norwegen, Kanada, Spanien und aus Russland sowie 16 kubanische Theaterproduktionen, flankiert von einem umfangreichen Lektionen- und Theorieprogramm, verleihen dem kulturellen Havanna einen Hauch von Offenheit, der vom vornehmlich jungen kubanischen Publikum gierig aufgesogen wurde. Kuba ist für den europäischen Besucher neuerlich hochinteressant, obwohl noch immer/schon wieder vielfach von Mythen gespeist und mit Imaginationen durchsetzt. Raúl Castro trifft Barack Obama, jahrzehntelange Handelsembargos werden aufgehoben, Papst Franziskus predigt in Havanna vor 100 000 Kubanern.
Noch immer/schon wieder ist die Insel eine Projektionsfläche für vom Kapitalismus enttäuschte Europäer. Eine Sichtweise, die seit der Hypothekenkrise 2008 und den neoliberalen Entwicklungen für Markt und Politik neu befeuert wird. Das liegt nicht zuletzt auch am speziellen Charme kubanisch-karibischen Lebensgefühls, das jenseits von Revolutionsssympathien emotionale Anziehung und vielfältige Projektionen hervorruft. Andererseits – das macht der Blick in den Alltag der Kubaner überdeutlich – werden auch auf Kuba ökonomische Reformen weit über das bisher praktizierte Maß privater Anreize unausweichlich. Der wirtschaftliche Druck erzeugt schon seit Jahren unübersehbare Risse im bis dato erstaunlich egalitären Gefüge der kubanischen Gesellschaft. Wie viel soziale Ungleichheit wird der Staat in Kauf nehmen (müssen), um wichtige Eckpfeiler sozialer und kultureller Errungenschaften in ihrer Substanz zu erhalten? Und wird Kuba dem Schicksal der Transformationsprozesse im europäischen Osten, der simplen Rückkehr zum Kapitalismus, entgehen können?
Die Investoren stehen ante portas, seitdem vor Kuba riesige Erdgas- und Erdölvorkommen entdeckt wurden, leider in 8000 Metern Tiefe gelegen – über das technische Know-how verfügen nur wenige, die Russen, Brasilianer, Chinesen. Amerikaner werden nicht zugelassen.
Deutschland setzt in dieser Phase vor allem auch auf eine kulturelle Offensive. Bisher war vonnöten, das Große im Kleinen zu behaupten. Es steht an, das erste Goethe-Institut auf Kuba möglichst zeitnah zu eröffnen. Das hört sich einfach an, ist aber angesichts der Baubedingungen vor Ort mit dem Wort „schwierig“ nicht zu umschreiben. Bislang gibt es ein an die deutsche Botschaft angeschlossenes Verbindungsbüro, welches auf niedrigem finanziellen Niveau außergewöhnliche Ergebnisse erzielen konnte. Hier sei die persona permanente Petra Röhler gepriesen, die erstaunliche Entwicklungsarbeit geleistet hat. Bereits seit Jahren wird eine deutsch-kubanische Theaterwoche veranstaltet und die Theaterfestivals mit hochkarätigen Theaterproduktionen beschickt. Frank Castorf, Thomas Ostermeier und Armin Petras waren hier, zuletzt Dimiter Gotscheffs „Hamletmaschine“. Erika Fischer-Lichte, Hans-Thies Lehmann, Joachim Fiebach unterrichteten hier, die erste Garde der deutschen Theaterwissenschaft. Junge kubanische Theaterleute werden, ausgestattet mit Visen, Stipendien und Kooperationsverträgen mit Theatern (in der Vergangenheit und Gegenwart vor allem das Berliner Maxim Gorki Theater, das Theaterhaus Jena und das Theater Konstanz), nach Deutschland geschickt, um Erfahrungen mit dem tatsächlichen deutschen Theater zu sammeln.
Was mag das alles für ein verstehendes Eindringen in die reichhaltig wuchernden und faszinierenden Besonderheiten kubanischen Theaters bedeuten?
Zunächst und vor allem das rasante und entschiedene Auftauchen einer neuen, jungen Generation von Theatermachern und Theaterautoren, die in der Sonderperiode der neunziger Jahre, der período especial, aufgewachsen sind, geprägt von Kargheit, ja Hunger, intellektuell und kreatürlich. Diese heute 30- bis 35-Jährigen suchen ihre neue Rolle in der Gesellschaft, um dieser zu begegnen, nicht mehr zu entsprechen. Unter intensiver Rezeption von Samuel Beckett, Heiner Müller und Sarah Kane gehen sie den vier lateinamerikanischen Waisenkindern Shakespeares nach: der labyrinthischen Einsamkeit, dem Verrat der Utopie, den Fällen der Promiskuität, dem Pessimismus. Und verweigern die Inanspruchnahme. Angeschlossen an die digitale Welt des Internets, noch immer fast eingeschlossen auf der kubanischen Insel, betreiben sie ihre Welterkundung als eine Suche nach neuen Themen, nach neuen Schreibweisen. Etwa wenn der 34-jährige Dramatiker Rogelio Orizondo Gómez, dessen Stück „Gestern habe ich aufgehört mich zu töten. Dank dir, Heiner Müller“ (siehe auch Stückabdruck 02/2014) – ein faszinierendes Konzert der Zitate – in einer begeistert aufgenommenen Inszenierung des Konstanzer Theaters zu erleben war, postuliert, dass er einerseits dem aus den sechziger Jahren stammenden teatro completo von Virgilio Piñera verpflichtet sei, andererseits ein „Laser-Leben führen (…) und ein Laser-Theater haben will“, so werden Abbruch und Wiederanknüpfung an scheinbar verloren gegangene Traditionsbezüge auf neue Art deutlich. Ein charmanter, kluger junger Mann, ein starkes Talent, vielleicht ein etwas naiver Kryptonier, der brav die graue Maus spielt und doch auf große Abenteuer brennt und sie wohl auch kennt. Inzwischen konnte er Einladungen aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich annehmen und dort hospitieren und sich anregen lassen. Im November wurde eines seiner Stücke, „Yellow Dream Road“, in Miami zur Uraufführung gebracht. Welcher deutsche Bühnenvertrieb macht das Rennen und sichert sich die Autorenrechte an Rogelio Orizondo Gómez?
Die überwiegende Mehrzahl der eingeladenen kubanischen Produktionen, naturgemäß kleine Tableaus mit geringem Personaleinsatz, führen schlagend vor, welch hoch spannendes, bezauberndes, rätselhaftes, surreales Theater entstehen könnte, könnten sich die Macher nicht nur für ihre Arbeiten interessieren, sondern sich auch auf diese konzentrieren – anstatt sich vor allem den Nöten des Alltags widmen zu müssen. Eine Arbeit ragt aus dem Gesehenen deutlich heraus, sie wird wohl demnächst auch in Europa zu sehen sein, mehrere Beobachter waren vor Ort und versuchten zu vermitteln: Die Gruppe El Ciervo Encantado präsentierte in der Regie von Nelda Castillo mit dem Einpersonenstück „Triunfadela“ ein furioses Satyrspiel, welches an Müllers „Wolokolamsker Chaussee IV: Kentauren“ erinnert, indem nicht wie dort Mensch und Schreibtisch, sondern Mensch und Rednerpult (ich vergewisserte Ceaușescus letzten Auftritt am 21. Dezember 1989) sich vereinen zum Kentauren der Bürokratie, einer Staatsmacht, die vermeintlich alles in Ordnung gebracht hat. Verschränkt mit historischen Filmausschnitten aus den heroischen kubanischen siebziger Jahren, die die offenen Enden basisdemokratischer Verhältnisse dokumentieren, spielt die famose Schauspielerin Mariela Brito den Zwiespalt zur Gegenwart frei und gibt ihn dem Gelächter eines größtenteils jungen Publikums preis. Bravo. //