Theater der Zeit

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Auftritt

Thalia Theater Hamburg: Reichlich viele Männer

„Noch wach?“ nach dem Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre in einer Fassung von Christopher Rüping (UA) – Regie Christopher Rüping, Bühne Peter Baur, Kostüme Lene Schwind, Video Emma Lou Herrmann

von Peter Sampel

Assoziationen: Theaterkritiken Hamburg Christopher Rüping Thalia Theater

Die Uraufführung von „Noch wach?“ am Hamburger Thalia Theater in der Regie von Christopher Rüping. Foto Krafft Angerer
Die Uraufführung von „Noch wach?“ am Hamburger Thalia Theater in der Regie von Christopher RüpingFoto: Krafft Angerer

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Es herrscht eine etwas unentschiedene Stimmung am Ende dieses Premierenabends im Hamburger Thalia Theater. Jubelnder Applaus für das Ensemble und das künstlerische Team, der aber sofort verhaltener und sogar mit einigen Buhrufen angereichert wird, sobald Benjamin von Stuckrad-Barre, Autor des hier inszenierten Romans „Noch wach?“, auf die Bühne kommt und den Applaus sichtlich für sich beanspruchen will. Zu viele Fragen schweben über seiner Person, seinem Werk und dessen Hintergründen, letztlich aber auch über der Entscheidung des Theaters, „Noch wach?“ als Spielzeiteröffnung auf die Bühne zu bringen. Die vielleicht größte Frage am Ende dieses Theaterabends, in dem Christopher Rüping und sein Team über weite Strecken begeistert, lautet jedoch: Wenn es hier um einen kritischen Umgang mit Machtmissbrauch gegenüber Frauen und um das Aufbäumen der #MeToo-Bewegung gehen soll: Warum sind hier dann so viele Männer?

Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ erschien im April dieses Jahres und damit fast zeitgleich mit den Veröffentlichungen von Privatnachrichten Mathias Döpfners – Vorstandsvorsitzender des Axel-Springer-Verlags – durch die Zeit. In den Nachrichten, die größtenteils an den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt adressiert waren, hetzte Döpfner unter anderem gegen Ostdeutsche oder sprach sich als Fan der Klimakrise aus. Stuckrad-Barres Roman versetzte Döpfner insofern einen weiteren Schlag, da in dessen Zentrum Döpfners Rolle im Skandal um Julian Reichelt (2021) verhandelt wird – auch wenn Stuckrad-Barre stets betont, dass die Figuren in seinem Werk fiktional seien …

Und so sind sie genannt, die drei Figuren, um die sich auch die Verstrickungen in Christopher Rüpings Bühnenadaption ranken: im Zentrum der von Stuckrad-Barre selbst inspirierte Protagonist, der lange Zeit selbst für den Verlag arbeitet und in Zuge dessen einen Roman über Liebe in Los Angeles schreiben soll, der mit Verlagschef (Döpfner) eng befreundet ist, den Chefredakteur (Reichelt) verabscheut und sich, als Mitarbeiterinnen gegen den Machtmissbrauch durch Letzteren vorgehen, dieser Bewegung mehr oder weniger anschließt, wodurch wiederum seine Freundschaft zum Verlagschef zerbricht. All das steht im Kontext der aufflammenden #MeToo-Bewegung in den USA, eine der ersten Frauen, die im Skandal um sexuellen Übergriffe Harvey Weinsteins die Stimme erhoben, – Rose McGowan – gibt dem Protagonisten sogar den für ihn später entscheidenden Handlungsimpuls. Der Titel „Noch wach?“ bezieht sich auf Handynachrichten, mit denen der Chefredakteur nachts junge Verlagsmitarbeiterinnen bedrängt.

Erstaunlich nah bleibt Christopher Rüping, der nach „Panikherz“ bereits den zweiten Stuckrad-Barre-Roman am Thalia Theater inszeniert, an der Vorlage. Den sprachlichen Witz konservierend schickt er sein sechsköpfiges Ensemble spielerisch durch die Szenen, in seinem für ihn symptomatischen Stil, der stets zwischen Ernsthaftigkeit und Albernheit changiert, starke Dynamiken – oft durch Livemusik untermalt – aufzieht, um sie schließlich abrupt zu brechen sowie Momente des geordneten Chaos mit denen unbehaglicher Zäsuren anzureichern. Besonders interessant und effektiv ist die Aufteilung des Protagonisten auf gleich vier Schauspieler:innen, die sich wie in einem inneren Monolog die Gedanken und Repliken zuwerfen. Durch diesen Kniff entsteht ein spannender Perspektivwechsel, der das Potenzial der egozentrischen Selbstdarstellung vieler Figuren – vor allem auch des Protagonisten – nicht nur entlarvt, sondern humoristisch ausstellt.

Spielerisch-satirisch auch die Ausstattung: auf der Vorderbühne die hässliche Oberflächlichkeit von Los Angeles mit Plastikpalme und Gummi-Schwimminsel, auf der Hauptbühne die neue Axel-Springer-Zentrale als düsteres, von blutsaugenden „Vampir-Journalisten“ bewohntes Schloss, umgeben von Särgen, in der Mitte prangen auf Bannern reißerische Bild-Schlagzeilen. Verstärkt wird diese dystopisch-fantastische Vision Berlins durch den immer wieder vom Schnürboden aus einsetzenden Regen, der die Schauspieler:innen wortwörtlich durchnässt. Wieder einmal gelingt es Christopher Rüping in Zusammenarbeit mit seinem Team (Bühne Peter Baur/Kostüme Lene Schwind), nicht nur starke Metaphern auf der Bühne zu kreieren, sondern im Zusammenspiel mit dem fantastischen Ensemble und einer bisweilen bombastischen Live-Musik (Matze Pröllochs, Inéz) die Faszination des Theaters und das immersive Potenzial einer Live-Aufführung herauszukehren.

Genau in diesen Momenten besteht auch die Stärke des Abends: Wenn etwa Nils Kahnwald, Julia Riedler, Cathérine Seifert und Oda Thormeyer musikuntermalt durch den strömenden Regen waten, und sich in steigender Intensität durch rote Schnurmikrofone in einem kollektiven Gewissensmonolog immer weiter anstacheln, bis der Flow plötzlich mit den Worten „Fertig nachgedacht!“ abgebrochen wird. Und überhaupt ist es eine große Freude, diesem Ensemble bei ihrem dreistündigen Balanceakt zwischen Humor und Ernsthaftigkeit zusehen zu dürfen. Nicht zu vergessen Hans Löw, der den haltungslosen Verlagschef gibt, und Maike Knirsch, die mit ihrem DeaExMachina Auftritt als Sophia den Abend und das Aufbäumen gegen den Machtmissbrauch und die sexistische Ausbeutung durch den Chefredakteur ins Rollen bringt.

Und so könnte Rüpings handwerklich einwandfreie Inszenierung ein berauschender Abend sein, wären da nicht gewisse inhaltliche Probleme mit der Romanvorlage und größere strukturelle Fragen, die sich an das Theater stellen. Wenn doch augenscheinlich Machtmissbrauch und die #MeToo-Bewegung thematisiert werden sollen, warum geht es dann hauptsächlich um verletzte Männerwürde, eine zerbrochene Männerfreundschaft, das „Heldentum“ eines Mannes, der sich für die Belange der Frauen einsetzt, sowie seine inneren Konflikte? Warum sind es die Männer, die agieren, während die oberflächlich gezeichneten Frauenfiguren hauptsächlich ohnmächtig reagieren? Warum wird nicht selbstkritischer mit dem Autor/Protagonisten umgegangen, sondern seine Rolle als Mitarbeiter des Verlags über zehn Jahre und seine enge Freundschaft zum Verlagschef ungebrochen, beinahe ehrfürchtig, nacherzählt? Und die vielleicht wichtigste Frage: Wenn es um von Männern dominierte Machtstrukturen geht, warum werden dann alle inhaltlich maßgebenden Positionen (Autor, Regie, Dramaturgie) nur mit Männern besetzt? Wo bleibt die Perspektive der Frauen?

So kristallisiert sich letztlich der Eindruck heraus, dass „Noch wach?“ vor allem herausarbeitet, wie Männer durch bestehende Machtstrukturen selbst noch von feministischen Bewegungen profitieren, denn auch am Ende dieses Textes ist es leider beinahe ausschließlich um die Männer gegangen. Und da ist auch der wutentbrannte Abriss des Bühnenbildes am Ende, nachdem der Rauswurf des Chefredakteurs gescheitert ist, einfach zu brav. Man wartet auf einen tieferen Fall.

Erschienen am 14.9.2023

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