lausitz
Sumpfige Wiesen
von Armin Petras
Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)
Assoziationen: Sachsen Brandenburg

Ich stehe im Sommer 2020 am Ufer eines Cottbuser Badesees / es sind 38 Grad / Mittagspause bei der Produktion „Umkämpfte Zone“ nach einer Zwitterliteratur aus Roman und Sachbuch der Poetik-Professorin Ines Geipel zum Thema „Wem gehört der Osten?“.
Mein Dresdner Freund, der einzige Kinderpsychiater von Berlin-Lichtenberg, hatte mir das Buch ein Jahr früher, bei einem unserer üblichen 15-Minuten-Treffen kurz vor der „Courage“-Premiere zugesteckt ... mit leicht sächsischem Dialekt, immer lachend, „musst du läsen“ geraunt, und war zu einem Fachtreffen nach Tirol oder Paris abgerauscht. Ich las erst und versuchte jetzt, ein Jahr danach, zu inszenieren, was in diesem schmerzhaften Text stand, in dieser für Berliner Verhältnisse absolut leeren Stadt. Nun aber Pause, zwei Stunden Zeit am Madlower See, diesem Spree-Altarm-Tümpel, den ich heute mit einem tätowierten, ziemlich nackten Rentner und zwei etwa dreizehnjährigen Mädchen teilte. Ich dachte: „scheiß Hitze“ – und „zu heiß zum Baden“ und „wo sind jetzt all die anderen Cottbuser?“, immerhin 100 000. Auf Mallorca oder an der Ostsee oder einfach zu Hause?
Lausitz heißt soviel wie „nasse Wiese“ oder „matschiges Land.“
Naja, vielleicht war das ja mal so. Grönland heißt bekanntlich ja auch Grünland. Die Zeiten der nassen Wiese scheinen schon eine ziemliche Weile her zu sein.
Dennoch, sich vorzustellen, dass dieses ganze Gebiet, vom polnischen Ende Schlesiens hinter Kattowitz bis zum Müggelsee, mal Sumpfgebiet mit einer Waldpopulation aus Eichen und mehrheitlich Hainbuchen war, ist nicht gerade leicht.
Mit wem ich auch spreche und sprach, jeder hat eine etwas andere Theorie: „Köhler und Pechbrenner verbrauchten riesige Mengen an Holz, genau wie die dann einsetzende Glasindustrie“.
Ein anderer sagt: „Nee ... das liegt alles am großen Fritz, der die amerikanische Kartoffel und die Maulbeerbäume herbrachte und mit ihr die Siedler, die den Wald für die Kartoffeläcker rodeten, hier wächst ja nischt andres.“ Und dann natürlich: „Berlin, die ganze Gründerzeit, janz Charlottenburg ist aus unsren Eichen jebaut
– und noch viel später: „Schwarze Pumpe, die großen Kraftwerke, alle brauchten Holz“.
Im berühmtesten Roman der DDR-Industrialisierung (aus dem später Film und Drama gemacht wurden) geht es nicht nur um eine Liebes- und eine Planerfüllungsgeschichte, nicht nur um die Integration von „alten Nazis“ und „Halbstarken“, sondern auch darum, wie man das nicht mehr vorhandene Bauholz durch Plastik ersetzen kann, noch heute zeugen Millionen kaum zerstörbarer DDR-Beton-Zaunpfähle vom Eichen-Mangel in der Region und ihren Ersatz-Objekten. Jetzt: alleinige Kiefern-Monokultur auf über 90 Prozent der bewaldeten Fläche.
Lausitz, was ist das?
Zwei Bundesländer, die ja eigentlich zwei völlig verschiedene sind, eine Region: Oberlausitz, Niederlausitz, die früher auch schon deswegen „Lausitzen“ hießen. Lausitz, eine Region, die ins heutige Polen hineinreicht … in die ehemalige Neumark. Lausitz, ein Gebiet, von dem man nicht wirklich weiß, ob die Germanen oder die Slawen die Ersten waren, die es besiedelten. Später dann die Sorben, die aufs Land zogen, die Deutschen, die mehr in die Städte gingen, und immer wieder neue Menschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal Millionen, die aus dem Osten kamen, Hunderttausende, die hier blieben … dann die Industrialisierungspolitik durch den sozialistischen Staat.
In Moabit habe ich letzten Monat eine ziemlich umfängliche Straßenwerbung für ein Klinikum mit der Überschrift: „Wer traut sich nach Cottbus?“ gesehen, darunter eine Gruppe verschmitzt lächelnder verwegener Menschen in weißen Kitteln, die anscheinend den abenteuerlichen Schritt in die Ferne schon ohne schwerere Verletzungen überstanden hatten, und noch etwas weiter ins Bild montiert: ein richtiger Wolf.
Vom letzten Zipfel Berlin-Mittes in die Niederlausitz handelt es sich also um eine Mutprobe? Eine Stunde 20 mit dem Regionalexpress 2? Oder handelt es sich doch eher um die Verheißung günstigerer Wohnungen oder eine versteckte Karriere-Umweg-Aufstiegs-Chance?
Warum dann nicht gleich die Wahrheit sagen?
Wie an einer Metropolen-Bühne an dem Tag, als meine Verpflichtung als Co-Direktor des Cottbuser Schauspiels bekannt wurde: Kein Kommentar der anwesenden Künstler, außer: „Sibirien?“ „Na, da bist du ja schon.“ und gedämpftes Lachen.
Lausitz und das Wasser ...
Der Elektro-Mobile Betrieb eines amerikanischen Milliardärs wird bei Fertigstellung so viel Wasser verbrauchen, wie eine Stadt mit 30 000 Einwohnern.
Die Spree hat seit Jahrzehnten Niedrigwasser. Vor zwei Jahren bin ich durch die Elbe bei Wittenberge von Sachsen-Anhalt nach Brandenburg gegangen, ja gegangen. Wasserhöhe 1,10 Meter.
Aber die Spree, nicht die Elbe, ist der wichtigste Trinkwasserfluss Berlins. Die Landschaft der Braunkohlelöcher ist offen, wie die Zukunft dieser Region.
Offen und unentschieden, wie die Abende in Cottbus zwischen dem Stadion der „Energetiker“ und dem Kanuverein „Lok“, in dem auch im Januar für die Paralympics und das Drachenbootrennen in Venedig trainiert wird. Die Nutrias, aus der Spree auftauchend, aussehend wie kranke übergewichtige Biber mit Rattenschwänzen, sitzen später vor den Altersheimen und warten auf Anerkennung und den Wochenendkuchen. Die Senioren und die aus den Pelzfarmen geflohenen Säugetiere aus der Fremde: gemeinsam gegen das Alleinsein, die Corona-Depression, eine typische Lausitz-Aktion.
Im Sommer ist der Spreewald unerträglich voll, zumindest für meinen Geschmack, aber Kahnfahren geht auch im Winter. Ja wirklich, man muss nur anrufen, Kähne, Kanus, Touren mit und ohne Kräuterschnaps von hier.
Ein befreundeter Bühnenbildner beteuert mir, dass „die ,Bleiche‘ das wirklich schönste und teuerste Bio-Wellness Hotel in Deutschland ist“ und dass es nur ein Problem gäbe: dass man „garantiert einen Berliner Promi-Kollegen in einer der 17 Saunen treffen würde“.
30 Kilometer weiter auf der anderen Seite: Döbern. Eine ehemalige gutbürgerliche Glasstadt, jetzt quasi tot. Leere Häuser, Fabrikantenvillen, alles zu verkaufen, 80 Prozent billiger als in der Hauptstadt.
Ältere Menschen. Kranke.
Nachlassverwaltung, Vergangenheitsbewältigung, geschlossene Gaststätten. Die letzten aufgebend, nach zwei Jahren Corona. In einer ehemaligen Bäckerei, über den zugewachsenen Bauzaun kletternd, beim Location-scouting für einen Theaterdreh, finde ich Fotos vom selben Raum, 80 Jahre früher. Ein Tanzcafé, ein richtiger Ballsaal, junge und alte Menschen, mindestens hundert, lachend in immer anderen Posen sich drehend. Eine pralle, prosperierende Welt, Jahre vor dem großen Krieg. Draußen am Dach die stolze Inschrift: „1. Likörfabrik“.
Das Gebäude, jetzt wie der ganze Ort, wartend auf Neues.
Lange ist er her, mein erster Besuch in der Lausitz, 2003. Ein Projekt mit oder von Theater der Zeit. SUPERUMBAU. Zehn Buchstaben, riesengroß aufgestellt zwischen den schon sehr ausgedünnten Plattenbauten. So eine Art Ermutigungsveranstaltung.
Kunstschaffende aus bedeutenderen Orten begleiteten das Zurückbauen der sogenannten Neubauten aus den 70ern in Hoyerswerda. Ein zentraler Ort der „Shrinking Cities” weltweit. Ein weites Gelände, noch nicht zu Ende saniert wie heute. Überall Straßen, die keine Namen mehr hatten, die nirgendwohin führten, an keinen Eingängen mehr endeten ... und immer wieder: Sand, Brennesseln, Robinien …
Wir machten eine kleine Freilichtinszenierung nach einer Schleef-Erzählung. Während der Proben ist ein zehnjähriger Junge bei uns. Zwei Tage, drei Tage. Abends um 9 frage ich ihn, „Willst du nicht mal nach Hause?“. „Nein“, sagt er, „besser nicht“.
Nebenan im anderen Zimmer unserer Unterkunft, einem ehemaligen Kindergarten, Julia, eine US-amerikanische Land-Art-Künstlerin, die unentwegt, erst wütend, dann verzweifelt weinend, mit dem veganen Bringdienst aus dem P-Berg telefoniert, der es auch bis zum späten Abend nicht schaffen wird, das Bestellte zu liefern.
Ich gehe zum örtlichen Speisenanbieter, einem türkischen Schnellrestaurant: der Döner-Kebab kostet einen Euro.
Am nächsten Morgen, die amerikanische Künstlerin ist bereits abgereist, die kleine Vorstellung, von etwa 30 Leuten besucht (20 davon andere Kulturschaffende), vorbei.
Ich sehe den Jungen gegenüber, hinter einer Fensterscheibe. Ich winke ihm zum Abschied, der Junge schaut und winkt nicht. Die zehn riesigen Buchstaben hat jemand heute Nacht umgestellt. Aus dem Wort SUPERUMBAU wurde REUMAPUBS.
„Kunst ist Waffe“, denke ich „und Volkskunst Geheimwaffe.“
Der OST-SEE, den es noch nicht gibt, das zu flutende riesige Gelände, Ruine einer Landschaft nach extensivem beendetem Tagebau, sieht wirklich großartig aus.
Eine sogenannte Mondlandschaft, eingezäunt bis zum Horizont, schützend die Neugierigen vor absackenden Sanden, und ganz im Norden der erste Spatenstich für einen Hafen, wirklich feierlich geschehen in der vergangenen Woche. Ein Hafen für einen künftigen riesigen See und seine stolzen Schiffe, den größten künstlichen See, den Menschen in Deutschland jemals erschaffen wollten ...
Ich überlege, welche Pflanzen und welche Tiere wie lange hier in Ruhe gelassen werden?
Keine Ahnung, ob die das wissen, die Pflanzen und die Tiere, dass sie jetzt Jahre, Jahrzehnte unbeaufsichtigt sind, nicht gejagt werden können, nicht abgeschossen oder überfahren, weil die Menschen sich selber ausgesperrt haben, einen riesigen Zaun gebaut haben, und es aus Klimagründen sowieso, wahrscheinlich sowieso, nicht klappt mit dem Badeparadies ...? Wahrscheinlich ziemlich bald wissen die das, sind ja auch nicht blöd, die Füchse und die Nutrias und die Wölfe und die Robinien ...
Ich frage einen Wasserbau-Ingenieur, wann denn dieses riesige, 70 Meter in die Tiefe reichende Gelände, geflutet sein wird? Ich bekomme keine Antwort, sein Arbeitgeber ist wichtig in der Region.
Im Sommer ’19 sitzen wir in einem Düsseldorfer Freilichtkino. Fast alle Plätze sind besetzt. Es läuft ein Film von Andreas Dresen über einen Gitarre spielenden Baggerfahrer aus der Lausitz. Ich fand den Film großartig. Keine Ahnung, einfach spannend, und eines der Lieder war so gut, wie von Rio Reiser. Ich war total berührt. War das Ostalgie oder die Seghers’sche Idee von „der Kraft der Schwachen“, keine Ahnung.
Am besten aber war Peter Sodann als alter harter Parteisekretär. Natürlich kann Robert de Niro ein Kotelett spielen, aber manchmal ist es halt doch besser, etwas davon zu wissen, von dem Material, welches man bearbeitet, welches man sich versucht anzuverwandeln, zu begreifen und zu bearbeiten.
In dieser Sommernacht dachte ich, wenn ich noch mal wohin gehe, so richtig, dann da, wo ich ein bisschen was von den Leuten kapiere.
Ich frage meinen ältesten Schauspielerfreund H. am Telefon nach dem singenden Baggerfahrer, und er antwortet: „Kenn ich, warn Arsch, war bei der Stasi“. Naja, irgendwer versaut einem immer die Laune.
Vor drei Wochen. Die junge österreichische Regieassistentin, die in Schottland studiert hat, bekommt einen Schock, als sie die Station „Tropical Island“ inmitten der Heide entdeckt. Was bedeutet das? Truman Show oder Club Med?
In der mir zugewiesenen Unterkunft, im Studentenwohnheim, fragt mich ein marokkanischer Student, ob ich Tee für ihn und seine Freundin hätte ..., ich verneine.
Am nächsten Tag klopft es wieder, derselbe Student, dieselbe Frage. Ich bin Kaffeetrinker.
Ich erzähle dem jungen Cottbuser Regisseur und Videokünstler von den Besuchen, und er sagt: „Es wird wohl Zeit, dass du Tee einkaufen gehst.“ //