Theater der Zeit

Thema: Theater und Religion

Keine Paradiese

Der Regisseur Ulrich Seidl über die Besessenheit im christlichen Glauben im Gespräch mit Gunnar Decker

von Gunnar Decker und Ulrich Seidl

Erschienen in: Theater der Zeit: Nüchterner Rausch – Der Schauspieler Steven Scharf (04/2013)

Assoziationen: Akteure

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Herr Seidl, wenn ich Ihre Volksbühnen-Inszenierung „Vater unser“ bedenke sowie Ihre Filme, von „Tierische Liebe“ über „ Jesus, du weißt“, „Import Export“ bis zur aktuellen „Paradies“-Trilogie, dann habe ich das Gefühl, die Welt ist ein Tal der verlorenen Seelen. Alle schreien nach Erlösung, aber es gibt keinen Erlöser?

Da ist doch etwas anderes gewollt in meinen Filmen. Nicht die Hoffnungslosigkeit an sich ist das Thema. Es hat ja Gründe, dass man auch das Schreckliche zeigt. Man soll durchaus auch abgestoßen oder irritiert sein, doch mir geht es darum, den Blick zu öffnen für die Problematik unserer Existenz mit all ihren banalen, tragischen und komischen Momenten.

 

Aber mir scheint es der Typus des Gottsuchers zu sein, der durch diese moderne Gesellschaft wie durch einen kalten Transitraum hindurchgeht. Da ist eine übermächtige Negativität in unserer alltäglichen Existenz – und aus dieser bricht dann gelegentlich so etwas wie Dämonie hervor. Die Welt ist gottverlassen, so scheint der Befund. Ist jede Hoffnung also schon eine Lüge?

Ich bin keinesfalls ein Nihilist!

 

Man könnte auf diesen Gedanken kommen, wenn man Ihre Arbeiten sieht.

Nein, sonst würden die Filme auch nicht so wirken, wie sie das tun. Gewiss, vieles kommt zunächst vielleicht pessimistisch daher, scheint wie aussichtslos beschaffen zu sein. Aber darunter liegt doch etwas anderes: die Forderung nach der Würde des Einzelnen zum Beispiel. Es geht also nicht um eine gottverlorene Welt, sondern um die Menschen, die sich an ihr reiben und wundstoßen und dabei wichtige Erfahrungen machen. Natürlich ist die Hoffnung nicht sehr groß.

 

Mögen Sie eigentlich die oft kleinbürgerlich-verschrobenen Charaktere in Ihren Arbeiten?

Selbstverständlich, sonst würde ich mich gar nicht damit beschäftigen. Ich erkenne mich ja auch selber darin wieder.

 

Von Gottfried Benn gibt es den Satz, dass die Kunst die letzte Form von Metaphysik in der Moderne sei, also der unaufgebliche Versuch, schöpferisch zu sein, etwas hervorzubringen und zu gestalten. Das zeugt ja schon von Hoffnung: Es muss mehr geben als nur Alltäglichkeit, Endlichkeit und Sinnlosigkeit. Sind Ihre Arbeiten der Versuch eines Trotzdem, das unaufhörliche Suchen nach dem Sinn inmitten des Sinnlosen?

Ja, unbedingt.

 

Aber es sind nicht die großen Fragen, die einen in die Knie zwingen?

Es ist dieser Alltag, an dem man scheitert.

 

Die Trennung von Heiligem und Profanem wurde im Protestantismus bewusst aufgehoben, dort ist alles, was heilig ist, zugleich profan. Sind die bis heute vom katholischen Dogma verteidigten Reservate für das Heilige nicht eine Quelle der Lüge und der Unmoral?

Ich habe ja seit meiner Jugend einen Kampf geführt gegen die Verlogenheit des Kirchlichen, gegen deren Machtstrukturen und falsche Autoritäten. In „Paradies: Glaube“ habe ich versucht zu zeigen, wie sich eine spezielle Art von Besessenheit im christlichen Glauben festsetzt und dabei jede Menschlichkeit verliert. Es wäre leicht, sich darüber zu erheben, aber es gehört zur Frage nach dem Menschen und seinem Glauben.

 

Es erregt ja auch Mitleid zu sehen, wie jemand versucht, sich und andere – aber da beginnt schon das verhängnisvolle Missionieren – aus dem Gefängnis eines falschen Lebens zu befreien. Die Energie, die ihn vorantreibt, verwandelt sich in Fanatismus. Und so wird der gute Wille wieder selbstzerstörerisch, zuletzt gegen andere und sich selbst kalt und gefühllos. Geht es darum in „Paradies: Glaube“?

Der Katholizismus verklärt das Leiden als gottgegeben. Das Leben sei ohnehin nur ein Zwischenstadium, Erlösung finden wir erst im Himmel, so heißt es. Insofern wird dann das Diesseitige mit all den Ungerechtigkeiten und Schmerzen, unter denen man leidet, selbst dort einfach hingenommen, wo man sich empören müsste. Das finde ich unmenschlich.

 

Was mir auffiel, gerade in der „Paradies“-Trilogie, ist die Nähe zu Pasolinis „Teorema“. Verwandelt sich dort das Unverhältnis von Sexualität und Christentum nicht in eine Art Passionsweg?

Pasolini geht es immer auch um seine eigene Homosexualität. Aber das Thema Sexualität in der Kirche ist ja ein grundsätzliches. Was für ein Wertesystem existiert? Das schlechte Gewissen, was entsteht, wenn man sich früh im Widerspruch zu diesem Wertesystem befindet, wird man sein Leben lang nicht mehr los. Als ich jung war, mussten wir noch jeden schlechten Gedanken beichten. Auf der einen Seite war das natürlich furchtbar. Auf der anderen Seite hat der Katholizismus dann etwas Tolles erfunden: Die Sünden wurden vergeben – und man konnte wieder von Neuem anfangen.

 

Da lernt man dann früh den Handel mit Gott, dieses „Alles lässt sich irgendwie regeln“?

Genau. Man kann sich dann bald von Neuem den irdischen Gelüsten hingeben.

 

Auf Kinderseelen müssen einerseits dieser seelische Exhibitionismus vor Gott und andererseits die schnöde Geschäftemacherei mit ihm doch besonders verstörend wirken?

Man wird damit groß, nimmt es einfach hin: Der Katholizismus ist eine mythische Welt, bestimmend in der Familie, der Schule, im Leben überhaupt. Zu hinterfragen begonnen habe ich das erst in der Pubertät. Es hat eine Weile gedauert, bis ich den klaren Blick bekommen habe und wusste, was da alles nicht stimmt. Aber man bleibt geprägt davon, auch im Widerspruch.

 

Bei Filmen wie zum Beispiel „Import Export“, der ja eine sehr kalte Welt des modernen Kapitalismus zeigt …

… eine Sinnleere …

 

… fragt man sich: Kann da nur noch ein Gott helfen, oder muss der Mensch sich selber helfen? Das ist ja doch das ewige alte und neue Thema?

Wenn ich daran glauben würde, dass mir nur ein Gott helfen kann, dann müsste ich keine Filme machen. Also meine Filme sind dafür da, dass man etwas damit anfängt. Jeder Mensch ist für sich verantwortlich und muss auch seine Wahrheiten selber finden.

 

Aber die Filme, die Sie drehen, sind ja nicht als sozialkritisch im engeren Sinne zu verstehen, da ist immer eine Intensität der Selbstbefragung spürbar, dieser genaue Blick, der Menschen bis an Punkte folgt, wo etwas mit ihnen passiert und die völlige Hilflosigkeit oder die Verzweiflung sie plötzlich verändert. Es passiert also etwas mit ihnen, was nicht aus den Umständen heraus erklärbar ist. Dieses credo quia absurdum von Pascal, der Glaube gegen alle Vernunft, verweist auf das, was in der Rechnung des menschlichen Lebens nicht aufgeht. Also auf Einsamkeit, Qualen, enttäuschte Liebe, Traurigkeit …

… schlechte Erfahrungen sind auch Erfahrungen, an denen man wachsen kann.

 

Aber da ist die Frage, was diese schlechten Erfahrungen mit uns machen: Machen sie uns noch härter und kälter?

Nein, das glaube ich nicht. Das hätte keinen Sinn. Meine Figuren sind ja auch oft von einer großen Einsamkeit geprägt und versuchen, aus dieser herauszukommen. Aber jeder Mensch hat nur seine eigenen Möglichkeiten. Das ist mit der Frage nach einem Wertesystem gleichzusetzen. Es lässt sich nicht so einfach aufteilen: Das sind die Opfer, das die Täter.

 

Kann es sein, dass die Dämonien, die wir in uns tragen, ein Weg sind zur Läuterung und zur Aufklärung, also auch zur Rettung?

Das kann schon sein.

 

Wenn ich jetzt zum Beispiel an „Jesus, du weißt“ denke, also daran, was für negative Energien und gar Beschimpfungen und Mordphantasien in den Gebeten der Menschen stecken, könnte man meinen, dass dies eine nicht zu unterschätzende Kulturtechnik ist zur Erhaltung unserer seelischen Gesundheit.

Das würde ich auch so sehen, weil auch die Beschimpfung eine Möglichkeit ist, sich mit seinem eigenen Gewissen zu beschäftigen. Gut, wenn da jemand ist, dem man alles hinwerfen kann. Ich bin sehr dafür, dass man Gott auch anklagen kann. Wenn ich an meine katholische Kindheit zurückdenke, war es damals unvorstellbar, dass man auch seine negativen Gefühle mit einem Gott austrägt. Damals ging es immer nur um Huldigung. Es gibt ja so viele Kirchentexte, die immer wieder sagen, man sei eigentlich ein Niemand, sei Gott ganz und gar ausgeliefert und ohne ihn nichts. Das spiegelt sich auch in der Marienverehrung.

 

Darin zeigt sich die entfremdete Form von Sexualität in der Kirche. Da wird die Sexualität einerseits mit einem Tabu belegt und andererseits verklärt zur höchsten Form der Reinheit. Da kann man schon irre werde, vor allem sich selbst und seine eigene triebhafte Natur hassen lernen. Angesichts der „Paradies“-Trilogie frage ich mich dann auch: Warum sind alle Paradiese eigentlich Höllen?

Man muss sich eben mit diesem Widerspruch auseinandersetzen, unabhängig davon, ob man dafür nun Sympathien oder Antipathien hat, es kann beides sein, bleibt ambivalent. Wenn jemand immer weiter sucht, muss das in der Figur drin liegen und auch für den Zuschauer jederzeit spürbar sein.

 

Ist es nicht der Grundgestus eines Requiems, den Sie da beschreiben?

Gottsuche ist immer auch Sinnsuche. Dieser Drang, der einen antreibt, das Verborgene entdecken zu wollen. Wenn man nicht mehr sucht, dann versinkt man im Nihilismus oder im Suizid.

 

Das betrifft nicht nur die Religion, sondern ist auch eine Frage der Ideologie, ob man sich die Not des Fragens und das Nicht-zur- Antwort-Kommen abnehmen lässt von anderen, die Antworten haben oder vorgeben, sie zu haben! Die Menschen, die Sie in „Paradies“ zeigen, lassen sich nicht enteignen, selbst dann nicht, wenn sie keine Antwort mehr haben oder wenn sogar die Fragen bloß noch negativ ausfallen. Es sind recht unglückliche Menschen.

Insofern haben es gläubige Menschen immer leichter. Sie sind davon überzeugt, dass es das Leben nach dem Tod gibt, und insofern brauchen sie das nicht anzuzweifeln. Sie glauben daran und das reicht ihnen.

 

In Ihren Filmen scheint immer auch die Frage nach der Religio auf, der Rückbindung unserer Existenz. Solch ursprüngliche Fragen wie „Woher kommen wir?“ und „Wohin wird uns das führen?“. Sehen Sie sich als einen religiösen Filmemacher?

Nein!

 

Der Blasphemievorwurf einer ultrakonservativen katholischen Gruppierung wegen der Onanieszene mit einem Kruzifix in „ Paradies: Glaube“ hat die Frontverläufe deutlich gemacht, dennoch bleibt da etwas, das man künstlerisch nicht ganz verbannen kann – und wohl auch nicht soll: die Frage nach dem Sinnhaften und dem Ursprünglichen.

Ja, das ist ja etwas, was mich sehr beschäftigt.

 

Bei Ihren Arbeiten geht es mir meist so, dass ich mich hinterher auf anregende Weise unwohl fühle!

Das haben Sie sehr schön gesagt.

 

Wenn ich in einen Film von Ihnen gehe, weiß ich, das wird jetzt kein reines Konsumieren, sondern eher eine Form von Arbeit, obwohl das vielleicht auch nicht das richtige Wort ist. Aber es erfordert schon eine Anstrengung.

Es gibt auch schon genug konsumierbare Waren. Aber sicher ist man nicht jeden Tag in der Stimmung, sich der „Paradies“-Trilogie auszusetzen.

 

Ich sehe es als eine große Kunst an, die Leere unseres Alltags so zu zeigen wie Sie. Eine Leere, die wir sonst mit Beschäftigung betäuben, so dass wir nicht spüren, dass es auch eine Frist ist, die uns bleibt. „Kairos“, also sinnhaft erfüllte Zeit, wäre das nicht eine echte Utopie?

Gewiss.

 

Dass man Glücksversprechungen hinterherläuft, lässt sich natürlich nicht abschaffen, so etwas geschieht ständig, aber diesen Kreislauf zu unterbrechen, etwa für die „Paradies“-Trilogie, ist für mich jedenfalls ein beglückendes Exerzitium!

(lacht) Aha, na ja. //

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