Theater der Zeit

Auftritt

Theater Pforzheim: Schneewittchen in der Hölle der Justiz

„Die Turing Maschine“ von Benoît Solès – Regie Sascha Mey, Bühne Steven Koop

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Baden-Württemberg Theaterkritiken Sascha Mey Theater Pforzheim

„Haben Sie schon einmal etwas von Enigma gehört?“: Die Geschichte von Alan Turing in einer Inszenierung von Sascha Mey am Theater Pforzheim.
„Haben Sie schon einmal etwas von Enigma gehört?“: Die Geschichte von Alan Turing in einer Inszenierung von Sascha Mey am Theater Pforzheim. Foto: Jochen Klenk

Anzeige

Als Wissenschaftler hat Alan Turing die Mathematik revolutioniert. Er entwickelte im Zweiten Weltkrieg ein Verfahren, das den Code der deutschen Chiffriermaschine Enigma entschlüsseln konnte. Damit rettete der eigenwillige Entdecker nicht nur ungezählten Menschen das Leben, weil die Angriffe der Nationalsozialisten ins Leere liefen. Er bahnte der Computerwissenschaft den Weg. Der französische Schauspieler Benoît Solès hat seine Geschichte in dem Stück „Die Turing Maschine“ auf die Bühne gebracht. Sascha Mey verortet den Text im Podium des Theaters Pforzheim in einem geometrischen Raum, der für den Protagonisten zum Gefängnis wird.

Turings Geschichte ist tragisch. Für seine Homosexualität wurde der Wissenschaftler im prüden England der 1950er-Jahre bestraft. Die Regierung zwang ihn, sich mit weiblichen Hormonen behandeln zu lassen. Das trieb den sensiblen Mathematiker und Kryptoanalyriker in den Suizid. Am 7. Juni 1954 soll er in einen vergifteten Apfel gebissen haben – so, wie einst Schneewittchen. Für dieses Märchen schwärmte der Wissenschaftler.

Seine seelische Zerrissenheit zeichnet der Schauspieler Frederik Kienle mit viel Feingefühl nach. Der kluge Kopf war nur in der Welt der Zahlen und Formeln glücklich. Im wirklichen Leben scheiterte Turing an seinem eigenwilligen Wesen. Das machte ihn im Wissenschaftsbetrieb wie auch im wirklichen Leben zum Außenseiter. In Steven Koops Bühnenraum sitzt Kienle isoliert auf der Bühne, abgeschnitten von der Außenwelt. Tief sitzen die Messerstiche, die ihm seine Mitmenschen zufügen – zumeist mit Worten. Mit zarten Blicken und Gesten lässt Kienle erahnen, was diese latente Ablehnung mit einem Menschen macht. Großartig taucht er in Solès‘ tiefenscharfes Schauspielertheater ein. So legt er Widersprüche und Verzweiflung in der komplexen Persönlichkeit des Alan Turing offen.

Die Figuren, die ihm das Leben zur Hölle machen, verkörpert Max Ranft. Sie bleiben auch in Benoît Solés‘ Text sehr schemenhaft. Dennoch gelingt es dem Schauspieler, zumindest der Figur des Kellners Arnold Murray grausames Leben einzuhauchen. Der Liebhaber des Wissenschaftlers lässt sich für Sex gerne bezahlen. Als Turing vor Gericht steht, liefert er ihn gradenlos ans Messer. Regisseur Sascha Mey setzt „Die Turing Maschine“ als ein leises, kluges und zutiefst aufrichtiges Kammerspiel in Szene. Lichteffekte und Klangfetzen spiegeln die Wucht der Gefühle, die sich auf der Bühne entlädt. Dabei konzentriert auch er sich auf das vielschichtige, auf die Schauspieler fokussierte Theater, für das der Franzose Solès steht.

2019 produzierte das Théâtre Michel in Paris die Uraufführung des Stücks, das beim Off-Festival in Avignon Erfolge feierte. Die Produktion wurde mit vier Molières ausgezeichnet – das ist der französische Theater-Oscar. Alan Turings Geschichte, die jahrzehntelang totgeschwiegen wurde, erlebt in Zeiten von Computertechnik und Künstlicher Intelligenz einen echten Hype. 2014 verfilmte er Regisseur Morten Tyldum mit „The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben“ Turings Geschichte mit Benedict Cumberbatch in der Rolle des Mathematikers und Kryptoanalytikers.

In er Pforzheimer Inszenierung legt Mey auch ein dunkles Kapitel britischer Justizgeschichte offen. Denn der Wissenschaftler, dem das Land wie auch die internationale Informatik viel zu danken haben, wurde erst am Weihnachtsabend 2013 von Königin Elisabeth II. offiziell begnadigt – zusammen mit anderen homosexuellen Männern, die allein wegen ihrer Sexualität verfolgt und grausam bestraft wurden. Dem Mann, der so viel für sein Land und für die Entwicklung der Computertechnik getan hat, widerfuhr so 60 Jahre nach seinem Tod Gerechtigkeit. Diese historischen Fakten projiziert das Regieteam am Ende in weißer Schrift auf die schwarze Bühne. Wie im Abspann eines Films läuft so die dunkle Geschichte an den Augen des Publikums vorbei. Sascha Meys unaufgeregtes Schauspielertheater zeigt die menschliche Seite von Turings Schicksal. Dber ist seine politische Botschaft ganz klar: Dass eine Zivilisation, in der Wissenschaft das gesamte Leben bestimmt, ihre besten Köpfe so rausam behandelt, ist nicht nur schäbig. Allem Fortcritt zum Trotz, ist diese Welt in den dunkelsten menschlichen Trieben stecken geblieben.

Erschienen am 20.1.2025

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York