Theater der Zeit

Schutz vor der Zukunft

Über eine Inszenierung in den Räumen des Wiener Otto-Wagner-Spitals und die unerwartete Begegnung mit einem Monument für die toten Kinder

von Malte Ubenauf, Stefanie Carp und Christoph Marthaler

Erschienen in: Arbeitsbuch 2014: Christoph Marthaler – Haushalts Ritual der Selbstvergessenheit (07/2014)

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Malte Ubenauf: Zwischen den Produktionen „Ankunft Badischer Bahnhof“ und „Schutz vor der Zukunft“ gibt es aus meiner Sicht eine deutliche Verwandtschaft. Beide Produktionen thematisierten in zum Teil installativen Formen verdrängte beziehungsweise zurückgedrängte historische Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus an Originalschauplätzen. stefanie carp: Das ist eine sehr bewusst gewählte Verwandtschaft, die dennoch auch auf einem Zufall beruhte. Als damalige Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen habe ich mir mit Christoph zusammen Gedanken darüber gemacht, für welchen besonderen Ort der Stadt wir eine Produktion erfinden könnten. Verstärkt wurde der Wunsch nach einem Ort, der kein Theaterraum ist, durch den Umstand, dass Anna Viebrock keine Zeit hatte, bei diesem Projekt dabei zu sein. Tatsächlich dachten wir immer wieder an „Ankunft Badischer Bahnhof“, als wir uns in Wien auf die Suche machten. Zusammen haben wir viele verschiedene Orte besichtigt, unter anderem den Versammlungssaal im Otto-Wagner-Spital, in dem manchmal Musiktheater der freien Wiener Szene stattfand, der meist aber vom Spital intern genutzt wurde. Zunächst dachten wir, dass man sich in diesen Örtlichkeiten mit Tschechow beschäftigen könnte, oder mit Thomas Bernhard. Wir wussten ja nichts über dieses Spital, außer dass es hier eine berühmte Psychiatrie gab. Von dem katastrophalen Kapitel in der Geschichte der Institution, von dem „Schutz vor der Zukunft“ später handeln sollte, ahnten wir zu diesem Zeitpunkt nichts.

Christoph Marthaler: Wir trafen dann vor Ort den Hausmeister beziehungsweise Verwalter des Theatersaals des Otto-Wagner-Spitals. Der war ein ehemaliger Patient des Krankenhauses und wohnte dort auf dem Gelände. Er zeigte uns die Räumlichkeiten. Beim Hinausgehen fragte ich ihn, was das kleine Monument vor dem Haus bedeute. Dort waren auf einer quadratischen Fläche Stelen aufgestellt wie Kerzen. Er sagte: Für die Kinder, die hier ermordet wurden. Er erzählte uns, dass diese einstige von Otto Wagner erbaute Reformklinik, die unter anderem einer fortschrittlichen Psychiatrie dienen sollte, in das Euthanasie-Programm der Nazis einbezogen worden war: Die NS-Euthanasie- Gesetze legalisierten die Tötung von Menschen mit Behinderungen. Die kleinen Kinder wurden ihren Eltern von den Jugendämtern weggenommen und im Spital umgebracht. Die Gehirne der Kinder wurden zu Forschungszwecken benutzt. Er, der ehemalige Patient und Verwalter des Ortes, den wir noch viele Male aufsuchten und der später die Proben begleitete, erzählte von grausamen Experimenten, die nationalsozialistische Ärzte an den Kindern vornahmen. Das war schockierend. Und auf einmal erschien uns der ganze Ort vollkommen verändert.

Carp: Anschließend haben wir dann weiterrecherchiert, und es stellte sich heraus, dass genau zu diesem Zeitpunkt damit begonnen worden war, dieses dunkle Kapitel des österreichischen Nationalsozialismus wissenschaftlich aufzuarbeiten. Zufällig entdeckten wir dann auch ein Buch von einem Überlebenden der Experimente. Es waren seine Memoiren, unglaublich bewegende Erinnerungen. Ich habe in Wien viele Wochen im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes recherchiert, über die Euthanasie-Politik der Nazis im Allgemeinen, die Kinder-Euthanasie in der Otto-Wagner-Klinik und die rassistische Ideologie, die die Verbrechen als „Bevölkerungspolitik“ legitimierte. Ein Mitarbeiter des Archivs, der sich auf das Thema spezialisiert hatte, Wolfgang Lamser, hat mir dabei sehr geholfen, indem er mir viele Dokumente zugänglich und mich auf großartige Quellen aufmerksam machte. Er hatte zu dieser Zeit begonnen, Vorträge für Schüler über die Euthanasie-Politik und die Geschichte dieses Spitals in der NS-Zeit zu halten. Einen solchen Vortrag hat er auch vor unserem Ensemble gehalten und uns dann auf fast jeder Probe besucht.

Marthaler: Die Proben haben ja direkt vor Ort im Otto- Wagner-Spital stattgefunden. Nicht auf einer Probebühne. Das ist eine große Bereicherung bei einem solchen Projekt: Man kann am Originalschauplatz arbeiten, von Anfang an. Wir haben „Schutz vor der Zukunft“ direkt im Jugendstilsaal der psychiatrischen Klinik entwickelt, umgeben von den verschiedenen Häusern und Pavillons des Spitals, in denen es auch leerstehende Räume gab, mit uraltem Klinikmaterial darin. Auf dem Gelänge gab es auch einen Kiosk, bei dem wir uns immer Sandwiches kauften. An diesem Kiosk sind wir den Patienten des Otto-Wagner-Spitals begegnet. Die kamen dann auch zu uns auf die Proben. Jeden Tag erschien eine Frau und schaute auf den Flügel. Dann hat sie gefragt: „Ist dieser Flügel zu verkaufen?“ „Ja“, haben wir gesagt, „diesen Flügel kann man kaufen. Aber erst nach der Premiere.“ „Sehr schön, ich komme dann wieder“, antwortete sie. Sie kam aber gleich am nächsten Tag wieder und stellte dieselbe Frage.

Carp: Diese Begegnungen machten uns immer wieder klar, dass die Klinik ein Ort im Betriebszustand war. Und dass die psychiatrische Klinik, in der die Gräueltaten an den Kindern damals verübt worden waren, immer noch existierte. In einem der leerstehenden Räume baute der Künstler und Bühnenbildner Duri Bischoff dann eine Installation, durch die man vor der Vorstellung hindurchging. Dort konnte man auch die offiziellen Krankenberichte der Kinder von Kindern gelesen hören, woran sie offiziell und woran sie in Wirklichkeit gestorben waren. Duri Bischoff hatte auch den angrenzenden Park in seine Installation einbezogen, wo zum Beispiel Kinderlieder aus Gullideckeln und Kellerluken erklangen.

Marthaler: Es war eine sehr intensive Probenzeit. Nicht, weil es so übermäßig viel mehr Arbeit gewesen wäre als in anderen Zusammenhängen, sondern weil die Geschichten der Kinder, an denen diese entsetzlichen Experimente vorgenommen worden waren, uns alle immer wieder tief berührten. Das alles hatte überhaupt nichts mit Theater zu tun. Wenn man, bei einer solchen Arbeit an Theater denkt, wird es lächerlich. Man muss sagen: Das, was wir machen, hat gar nichts mit Theater zu tun, sonst kann man eine Produktion wie „Schutz vor der Zukunft“ vergessen.

Carp: Wir haben sehr lange nach der Form gesucht, geradezu verzweifelt. Es gab die Musik, die Chor- und Sologesänge aus Kompositionen von Schubert, Schumann, Mahler, Webern sowie die Fugen und Präludien von Dmitri Schostakowitsch. Das war alles sehr gut ausgesucht. Aber wie stellt man das Thema dar, wie geht man mit Dokumenten um, welchen Rahmen setzt man, wo und in welcher Zeit behaupten wir zu sein? Und vor allen Dingen: Wer sind die Darsteller? Wir wollten ja weder einfach die Opfer noch die Täter ident darstellen. Man konnte also eigentlich nur davon erzählen, fast objektiv, oder Dokumente zugänglich machen beziehungsweise vorlesen.

Marthaler: Erst als wir es überwunden hatten, immer wieder in Betroffenheit zu verfallen und dem Respekt vor dem Leiden der Kinder nachzuspüren, und uns trauten, auch mit komischen und grotesken Mitteln eine Annäherung zu versuchen, kamen wir weiter.

Carp: Die Schauspieler und Musiker, unter ihnen Markus Hinterhäuser, der in der Vorbereitungphase des Projektes ein wichtiger Gesprächspartner für mich war, haben schließlich Täter und Opfer dargestellt, aber eben nicht gespielt. Sie haben in Erinnerung gerufen. Es hat geholfen, mehrere Teile des Abends anzunehmen. Der erste war eine Art Klinik oder ein Lager in der Zukunft, in dem Menschen – weil sie weniger effektiv und weniger schön sind als die Klone – überredet werden, sich selber abzuschaffen, weil sie überflüssig geworden sind. Dieser Teil ging dann von den Texten her immer mehr in die Vergangenheit, zu den Dokumenten der Euthanasie; Briefe von Eltern, die bei der Klinikleitung nach ihren Kindern fragten.

Marthaler: Stefanie hat dann einige fantastische Reden geschrieben …

Carp: Es ging darum, sich alles so vorzustellen, als sei dieser Ort, an dem unser Projekt gezeigt wird, eine Klinik oder ein Lager, in dem zukünftige Gesellschaften geformt werden. Auf diesem Wege konnte man dann wieder in die Vergangenheit gehen. Am wahnsinnigsten, auch sehr komisch teilweise, waren in diesem Zusammenhang die Hitler-Tagebücher mit all diesen rassistischen Festlegungen … Christoph hat immer gesagt, die Zuschauer sollen hereinkommen und überhaupt nicht wissen, zu was genau sie gebeten wurden. Und so haben sie also zunächst an langen Tischen gesessen und wurden manchmal von einem Schauspieler angesprochen und zurechtgewiesen – auf merkwürdige, undurchschaubare Weise. Am Ende dieses ersten Teils hörte man aus den angrenzenden Räumen Vorträge zur Bevölkerungspolitik, so, als fände dort draußen eine Konferenz statt, in der die Rassenideologien des 19. und 20. Jahrhunderts miteinander diskutiert wurden. Ein imaginärer Kongress, denn man hörte auch ein Klavier spielen. Anschließend gab es eine Phase, in der die Zuschauer in diesen angrenzenden Räumen herumgingen und zuhörten. Dokumentarisches wurde gelesen oder kam aus Radios; in einem Fernseher sah man Fotografien der Kinder, deren Krankengeschichten man gehört hatte. Man kehrte dann von einer anderen Seite in den Theatersaal zurück und saß auf einer Tribüne. Vor einem Vorhang stehend hat der Schauspieler Jeroen Willems dann eine Ansprache gehalten, in der er zwei Personen darstellte: den hauptverantwortlichen Arzt Dr. Groß, der Hunderte Kinder umgebracht hatte und bis ins hohe Alter praktizieren durfte, und das Kind, das überlebt hatte und als Erwachsener seine Erinnerungen aufschrieb. Jeroen Willems’ Text war aus den Memoiren des Steinhofkindes und aus den Akten eines Prozesses aus den 1970er Jahren, in dem der Arzt sich rechtfertigt (er wurde freigesprochen), zusammengesetzt. Jeroen wechselte vollkommen unaufwendig von einer Person in die andere.

Marthaler: Wir erfuhren dann, dass dieser Dr. Groß, von dem du gesprochen hast, später ausgezeichnet wurde. Er bekam in Österreich Preise für seine Verdienste als Mediziner …

Carp: Nach seiner Rede öffnete Jeroen dann den Vorhang, und da sahen die Zuschauer in den Saal hinein, in dem sie zuvor an Tischen gesessen hatten. Dieser war jetzt fast leer. Es war jetzt der Saal der Erinnerungen der Toten. Zu Beginn zitierte Bettina Stucky noch eine Aussage einer Krankenschwester, die in dem Spital gearbeitet hatte, dann waren im Grunde alle Spieler die Geister der Kinder.

Marthaler: Im Saal saß der Pianist Markus Hinterhäuser mit einer Clownsmaske vor dem Gesicht und spielte über einen langen Zeitraum Präludien und Fugen von Schostakowitsch. Nach und nach kamen dann die anderen Schauspieler dazu, die ebenfalls Masken trugen. Auf einer Probe hatten wir ja plötzlich die Idee, mit Masken zu arbeiten. Unsere Kostümbildnerin Sarah Schittek fand dann identische, sehr neutrale Masken mit Kindergesichtern, ganz billige Plastikteile. Diese wurden zu einem entscheidenden Element des letzten Teils von „Schutz vor der Zukunft“, genauso wie die Musik von Schostakowitsch und die Blechblasinstrumente, in die die Schauspieler hineingesungen, gesprochen und gelacht haben.

Carp: Das ganze Projekt kam uns unglaublich fragil vor. Und genau so war es ja auch. Immer wirkte es so, als hinge alles an einem seidenen Faden. Ich denke, das hatte damit zu tun, dass bei uns eine Angst mitschwang, am gewählten Thema zu scheitern. Wir waren mitten im Weichsten vom Ei. Mit dieser Angst sind wir durch die Probenzeit gegangen. Und eigentlich auch durch die ersten Vorstellungen. Sie ist nie ganz verschwunden.

 

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Schutz vor der Zukunft

Mit Rosemary Hardy, Markus Hinterhäuser, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Katja Kolm, Bernhard Landau, Josef Ostendorf, Nicolas Rosat, Clemens Sienknecht, Bettina Stucky, Jeroen Willems – Regie Christoph Marthaler – Musik und künstlerische Mitarbeit Markus Hinterhäuser – Bühne Duri Bischoff – Kostüme Sarah Schittek – Dramaturgie Stefanie Carp – Produktion Wiener Festwochen in Koproduktion mit spielzeiteuropa (Berliner Festspiele), Odéon-Théâtre de l’Europe (Paris), Internationales Tschechow Theaterfestival (Moskau), Goethe- Institut und NTGent – Premiere am 9. Mai 2005 in den Räumen des Otto-Wagner-Spitals in Wien.

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