Affektrepertoires der Selbsteuphorisierung
Kleine Anthropologie des gestreamten Konzerts
von Holger Schulze
Erschienen in: Recherchen 165: #CoronaTheater – Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie (08/2022)
Assoziationen: Dossier: Corona
Ein Konzert braucht einen Konzertsaal. Es braucht ein Publikum. Es braucht Backstageräume und Probebühnen, einen steten Wechsel der Instrumente, Kostüme, der Szenerien und Tänzer*innen, eine Lichtregie und Knopfkopfhörer, die das soeben gespielte in bestmöglicher Klangqualität den Musiker*innen jeweils direkt ins Ohr zurücksenden. Es braucht vielleicht eine direkte Beteiligung des Publikums, es braucht Fanchöre und ausrastende, besessene Megafans, es braucht diverse Bars und Hallen voller Toiletten, ein Mischpult am akustisch besten Platz im Raum, es braucht Einlasskontrollen und Garderoben, es braucht VIP-Lounges und die jüngsten Fans, die die Absperrgitter ganz vorne, unmittelbar vor der Bühne drohen zum Einsturz zu bringen. Es braucht auch große Monitore, um das Bühnengeschehen auch den fernsten Zuschauer*innen hinreichend sichtbar darbieten zu können.
Seit den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie im März 2020 sind so einige dieser ewigen Wahrheiten des Livekonzerts, des Openairfestivals und des Sommerraves zum Einsturz gebracht worden. Denn die musikalische Konzertpraxis hat bis in das Jahr 2021 hinein etliche neue, teils nicht ganz so neue, doch insgesamt sehr unterschiedliche Formate hervorgebracht. Formate, die den Mangel an Liveauftritten und Liveshows offenbar machtvoll wieder ausgleichen sollten. Welche neuen Konzertformate konnten wir erleben? Wir erlebten etwa Tanz- und Gesangsperformances, die direkt aus dem Wohnzimmer der Starsänger*in gestreamt wurden,...