Unbehagen an der bürgerlichen Ordnung
Naturalismus
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Einfordernd, dass Kunst Reproduktion der Natur sein müsse und behauptend, sie habe immer die Tendenz, wieder Natur zu sein, erschien die Bewegung, die unter dem Namen Naturalismus das europäische Drama und Theater in den 1880er und 1890er Jahren wesentlich veränderte, als der radikale Höhe- oder auch Endpunkt des seit dem 16. Jahrhundert modernen Strebens der Künste nach möglichst lebensgetreuer Darstellung von Raum-Zeitverhältnissen.89 Neu waren zwei wesentliche Momente: Die Bewegung lehnte sich demonstrativ an neueste wissenschaftliche Entdeckungen und Diskurse wie die der deterministischen biologischen Vererbungslehre und der soziologischen Milieutheorie an und die zu ihr gezählten künstlerischen Praktiken beschäftigten sich erstmals in erheblichem Maße kritisch mit entscheidenden soziokulturellen Widersprüchen ihrer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung.
Ein wichtiger Ausgangspunkt waren Umbrüche in der europäischen Literatur, vor allem Ibsens gesellschaftskritische „gutgemachte“ Dramatik und Emile Zolas Epik. Die Aufführung einer Dramatisierung von Zolas Roman L’ASSOMMOIR (Der Todtschläger) im Pariser Boulevardtheater Ambigu schockierte 1879 die kulturelle Öffentlichkeit durch die Darstellung der katastrophalen Lebensgeschichte einer Arbeiterfamilie mit dem Akzent auf dem Sich-zu-Tode-Saufen des Mannes in Räumen, die den legitimen Bühnen bis dahin völlig unbekannt waren. Der erste Akt spielte 1851, das erste Bild im Hotel Garni, das zweite Bild im Waschhaus. Der dritte Akt spielte 1858, das...