Essay
Ein Wald in Flammen
Verstreute Notizen über Dichtung und Theater
Alberto Conejero stellt in seinem poetologischen Text die Dichtung in den Mittelpunkt, weil sie für ihn eine „Verschwörung der Sprache gegen die erdrückende Kraft der Gewohnheit“ ist. In einer gedanklichen Bewegung zwischen Samuel Beckett und Alejandra Pizarnik, Antonin Artaud und Federico García Lorca zeichnet er die Spuren seines Theaterverständnisses und -schaffens mit geschärftem Blick auf die spanische Erinnerungskultur nach.
von Alberto Conejero
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Spanien (10/2022)
Assoziationen: Dramatik Dossier: Spanien

Um meine Theaterstücke zu untersuchen, müssen wir über Dichtung sprechen, die meine Art und Weise zu schreiben geprägt hat. Dichtung ist eine Form des Staunens. Sie unterbricht den alltäglichen Ablauf unseres Lebens und verwandelt ihn in Erleben. Sie verbindet uns, auch zu unserem Leidwesen, mit dem, was nicht mehr ist und dem, was noch nicht ist. Dichtung ist Brücke und Kluft, Rätsel und Vorstellung. Dichtung bedeutet, noch nicht zu wissen oder noch nicht wissen zu wollen. Sie ist der Rand der Wunde, auch wenn es nie dieselbe Wunde ist. Sie erinnert uns daran, wie vergänglich, zerbrechlich und ungeschickt wir uns durch diese Welt bewegen. Pasolini plädierte dafür, den Wert der Niederlage in Erziehung und Bildung einzubeziehen. Dichtung ist vor allem die Verschwörung der Sprache gegen die erdrückende Kraft der Gewohnheit, gegen Worte, die nichts als Worte sind. Indem sie in unserem Körper widerhallt, erinnert sie uns an die Immanenz des Heiligen. Nur durch die Sprache kann ich versuchen, der Sprache zu entkommen. Nur wenn wir Worte verbrennen, können Bilder entstehen.
Dichtung ist auch eine Form des Begehrens und Begehren ist immer in Bewegung. Verletzlichkeit, Entblößung und Ungewissheit beflügeln die Dichtung. Dichtung – auch die grausamste, schmutzigste, schutzloseste, selbstmörderischste – ist eine Form von Humanismus. Als die Figur des Sklaven Lucky in „Warten auf Godot“ zu Wort kommt – vor und nach den Peitschenhieben, vor und nach der Demütigung, in seiner Lage als Pozzos Tier – sprudelt ein verbaler Blutsturz, Todeskampf der Sprache aus ihm hervor, Wort an Wort ein Archipel, eine zugrunde gehende Menschheit:
„(...) daß auf dem Lande im Gebirge und am Rande der Meere der Ströme von Wasser und Feuer die Luft dieselbe ist und die Erde nämlich die Luft und die Erde bei der großen Kälte die Luft und die Erde gut für die Steine (...) in den großen Tiefen bei der großen Kälte zu Wasser zu Lande und in der Luft leider leider ich wiederhole man weiß nicht warum trotz Tennis die Dinge sind so man weiß nicht warum ich wiederhole weiter kurzum also leider leider weiter gut für die Steine wer kann daran zweifeln ich wiederhole aber greifen wir nicht vor ich wiederhole der Kopf zugleich parallel dazu man weiß nicht warum trotz Tennis weiter der Bart die Flammen die Tränen die Steine so blau so ruhig leider leider der Kopf der Kopf der Kopf der Kopf in Oldenburg (...).“1
Alejandra Pizarnik formulierte es so: „Ich schreibe, damit nicht eintrifft, was ich befürchte, damit nicht das geschieht, was mich verletzt, ich schreibe, um das Böse fernzuhalten. Jemand hat mal gesagt, der Dichter sei ein großer Therapeut. In diesem Sinne liegt die Aufgabe der Dichtung darin, zu exorzieren, zu beschwören, und zudem, zu heilen. Ein Gedicht schreiben heißt, die grundlegende Wunde, die Zerrissenheit zu heilen. Denn wir alle sind verwundet.“2 Wenn ich, mal jenseits der Wissenschaft, in meinem Geiste definieren müsste, was Katharsis ist, dann würde ich die gleichen Verben wie Pizarnik für das Gedicht verwenden: „exorzieren, beschwören, und zudem, heilen“.
Das Theater – in seinem ursprünglichen Wortsinn als Schauplatz – erlaubt uns, das Gedicht körperlich zu entfalten (im Körper der Schauspieler und Zuschauer) und in der Aufführung die Distanz zwischen Wort und Fleisch aufzuheben. Im Theater können wir eigensinnige, monströse, wunderschöne und furchtbare Worte an die Polis richten, die uns an das Unglaubliche, das Wunder(volle) der Sprache erinnern. Wie Artaud es in „Das Theater und sein Double“ fordert: „Die Metaphysik der artikulierten Sprache verwirklichen, heißt, daß man die Sprache dasjenige ausdrücken läßt, was sie für gewöhnlich nicht zum Ausdruck bringt: heißt, sich ihrer auf neue, ungewohnte, außerordentliche Weise bedienen, heißt, ihr die eigenen Möglichkeiten körperlicher Erregung zurückgeben (...), heißt, die Intonationen auf eine unbedingt konkrete Art und Weise aufzufassen und ihnen ihre Fähigkeit wiederzugeben, etwas wirklich zu zerreißen und kundzutun, heißt, sich gegen die Sprache und ihre gemeinen utilitaristischen, (...) der Ernährung dienenden Quellen wenden, gegen diese ihre Ursprünge eines gehetzten Tiers, heißt mit einem Wort, die Sprache als Beschwörung sehen.“3
Worte, die uns unendlich viele Möglichkeiten des Seins in uns aufzeigen; Worte, die wir wie einen Stab aufsetzen können, um uns zu anderen Ufern zu schwingen, oder um weiter in die Tiefe vorzudringen, oder um uns wieder mit dem Abwesenden zu verbinden; Worte, die unsere Menschlichkeit einfordern, die uns anschreien, dass jeder Körper zählt, dass jeder Körper singulär und heilig ist; Worte, die uns anschreien, dass das Leben, das wir führen, dem wir uns gefügt haben, unglaubwürdig ist.
Im Jahr 1933 erzählte Lorca folgende Begebenheit: „Ein Bürgerlicher hat einmal beklagt, mein Werk sei fernab der Realität. Ich konnte ihm bloß sagen: ‚Sehen Sie, mein Herr, Sie werden sterben und mit gekreuzten Armen auf der Brust in einem Sarg hinausgetragen werden. Dann werden auch Sie fernab der Realität sein. So sieht die Realität aus.‘“4 Lorca hat uns auch diese treffende Definition für die Beziehung zwischen Dichtung und Theater hinterlassen: „Theater ist Poesie, die aus dem Buch steigt und menschlich wird, wobei sie spricht und schreit, weint und verzweifelt. Das Theater braucht Gestalten auf der Bühne, die ein poetisches Gewand tragen und zugleich ihre Knochen, ihr Blut erkennen lassen.“5 So oft wurde Lorcas Zitat zu unzähligen Anlässen wiedergegeben, doch es klingt nicht abgedroschen, weil es so wahr und schön ist. Und auf unergründliche Weise knüpft die Auffassung des Andalusiers an diesen Gedanken Heideggers an: „Dichtung ist Stiftung durch das Wort und im Wort.“6
Der Gegenstand des Theaters wie des Gedichts ist immer die Gegenwart. Ich schreibe für diese absolute Gegenwart des Theaters; ich schreibe Worte, ja, aber wie jemand, der Holz aufstapelt, das in Flammen aufgehen und niemals zu einem Möbelstück wird. Ich fühle mich anderen Theaterdichtern sehr nah, auch wenn unsere Poetiken und Ansätze sehr unterschiedlich sein mögen: Angélica Liddell, Wajdi Mouawad, Bernard-Marie Koltès, Sarah Kane, Euripides, Valle-Inclán, Tschechow... Ich denke, sie alle gehören zu jener Dichterzunft im Theater.
In der aktuell kritischen Weltlage gibt es wenige Orte, die poetisches Gespür zulassen, respektieren, nach ihm verlangen. Die Sprache, auch die sogenannte künstlerische, überlebt gerade so unter dem Joch der Produktivität; von Zweckmäßigkeit geknebelt, von der schrecklichen Logikmaschinerie auseinandergenommen, mit der fürchterlichen Peitsche des glaubwürdigen Realismus oder des realistischen Glaubwürdigen im Zaum gehalten. Daher rührt auch der Abbau in den Lehrplänen der Geisteswissenschaften, eines Wissens, das sich eben nicht unmittelbar in der Produktions- und Konsumkette niederschlägt. Das Theater ist an dieser Offensive keinesfalls unbeteiligt; daher kommt die Verbreitung von Theaterstücken, deren Sprache vorgibt, glaubwürdig und realistisch zu sein, sich nicht mit der Sprache des Zuschauers zu reiben, die er im Alltag verwendet, im Fernsehen hört, in den sozialen Netzwerken liest. Eine Sprache, die sich nicht um ihr Unvermögen schert, die nicht gerade Raum für Schweigen und Gehör lässt.
Eine Sprache, die nur der Geschichte und der Handlung dient. Die Sprache ist Sklavin der Narrative, die Narrative sind Sklaven der Aufmerksamkeit und die Aufmerksamkeit ist Sklavin der Reize und die Reize das Opium aller. In einer Kritik stand einmal, der Protagonist Sebastián von „La piedra oscura“ („Der dunkle Stein“) sei unglaubwürdig, da „kein Bauer so sprechen könne.“ Ich stelle mir vor, wie sich Calderóns Bauern ihrer Reime7 entledigen, um den Kritiker nicht zu verärgern, wie Mascha aus der „Möwe“ ihre Metaphern ins Feuer wirft, wie der Bote in „Medea“ seine flammenden Pentameter loszuwerden versucht. Was Zola nicht geschafft hat – den Realismus im Theater durchzusetzen –, schafft momentan die dominante Audiovisualität. Ihrer Logik folgen die Spielregeln eines gut gemachten Theaters. Der Realismus ist eine invasive Art, die Wasserhyazinthe der Wahrnehmung. Er versucht immer wieder aufs Neue, die Möglichkeiten des Menschlichen kleinzuhalten, das Staunen zu ersticken und Ausdrucksmöglichkeiten zu unterbinden. Der Realismus ist das herrschende System der Darstellung. Der Nullpunkt der Akzeptanz. Das geht so weit, dass man von der Fiktion die Ordnung und den Sinn einfordert, den die Realität nicht hat.
Manche haben mein Theater lobend als „poetisch“ beschrieben, andere hingegen – nicht selten – haben es abschätzig gemeint. Wiederholt wurde ich gefragt, warum ich nicht von der Gegenwart spreche, warum ich nicht mit einer „alltäglicheren“ Sprache schreibe, über Themen des „Hier und Jetzt“. Ich greife nicht zu poetischer Sprache und Vergangenheit, um der Gegenwart zu entfliehen, sondern um gegen den normalisierten Gebrauch der Sprache Widerstand zu leisten, der die Schrecken eben dieser Gegenwart zulässt.
Das ist der gleiche Ansatz wie bei Beckett und Ionesco: die Sprache angreifen, um sie zu retten. Ich meide die Themen der Gegenwart nicht, sondern ich benutze das Theater, um das Verschüttete, das von der Vergessensmaschinerie Begrabene, in diese Gegenwart zu holen. In den Irrenhäusern, Tempelruinen, Sterbezimmern erlangt die Sprache ihre ursprüngliche Kraft zurück. Es geht nicht ums Lyrische, sondern darum, der Sprache ihr Wesen als lebendiges Tier wiederzugeben. Vielleicht ist die Sprache in „Todas las noches de un día“ („Alle Nächte eines Tages“) politischer, als es bei einer ersten Lektüre erscheint. Vielleicht enthält „Cómo puedo no ser Montgomery Clift?“ („Wie kann ich nicht Montgomery Clift sein?“) mehr meiner Ängste und Wünsche als andere autobiografische Werke. Ich schließe Handlungsmuster und Struktur nicht aus, aber sie stehen immer in einem Spannungsverhältnis zum außergewöhnlichen Sprachgebrauch. So ist es seit meinem ersten Werk, „Los Húngaros“ („Die Ungarn“). Seitdem waren Stücke von mir auf der Bühne zu sehen, die das Publikum eine ritualisierte, ausgesetzte Zeit durchlaufen lassen haben: „Ushuaia, Los días de la nieve“ („Die Schneetage“), „La piedra oscura“. Ich habe mich viel mit Erinnerung beschäftigt und werde es wieder tun, weil die Abwesenden anwesend sind, weil die Vergangenheit uns erneut widerfährt und weil es Körper gibt, die noch als Tote weiter Leid erfahren. Ein Absatz von Quignard bringt mein Anliegen auf den Punkt:
„Manche Menschen sind vergessen, ausgeschlossen vom Gedächtnis der Welt. Man muss ihnen ein bisschen klares Wasser, also ein paar geschriebene Worte überlassen, diesen alten Namen, die nicht mehr ausgesprochen werden. Man muss sich bücken und die Gräber freilegen, die unter dem Gestrüpp und den Jahrhunderten und den Steinen verlorengegangen sind. Man muss diesen Helden der Sagenwelt oder diesen Gespenstern der historischen Welt für einen Augenblick die Tür zu einem Buch öffnen, die im Stich gelassen wurden, weil sie der Gesellschaft kein vorbildhaftes Beispiel waren, weil ihre Heldentaten mit den gängigen ästhetischen Vorstellungen kollidierten oder weil ihre Entschlossenheit den religiösen Geboten zuwiderlief, die die Nationen im mächtigen Band des Krieges einen. Man muss denen, die zu Unrecht ausgegrenzt wurden, einen Stuhl frei lassen. Man muss ihnen ein bisschen Aufenthalt gewähren – einen fortbestehenden Aufenthalt – in den ‚Stunden‘, für all die ‚Jahrhunderte‘, die seit ihrem Leben bereits vorbeigezogen sind.“
Meine Stücke „La piedra oscura“, „La extraña muerte de una cupletista contada por su perro“ („Der seltsame Tod einer Couplet-Sängerin, erzählt von ihrem Hund“), „Paloma negra“ („Schwarze Taube“), „La geometría del trigo“ („Die Geometrie des Weizens“), „Los días de la nieve“, „Esta primavera fugitiva“ („Dieser flüchtige Frühling“) und „El mar: visión de unos niños que no lo han visto nunca“ („Das Meer: Vorstellung von Kindern, die es noch nie gesehen haben“) zeugen von diesem Ansatz. Das ist ein Theater der Gespenster, der Abwesenden, der Erlösungs- und auch Rettungsversuche. In diesem Sinne ist es ein religiöses Theater. Ich wünschte, dass an den Theaterhochschulen mehr von Simone Weil und María Zambrano gelesen würde als Grundregeln des szenischen Schreibens.
In anderen Stücken habe ich auch versucht, Theater und Dichtung ganz offensichtlich, also intertextuell, miteinander zu verweben. Nicht nur in den Werken, in denen die Protagonisten Dichter sind – wie Lorca in „La piedra oscura“ oder Miguel Hernández in „Los días de la nieve“ – sondern auch z. B. in „Cómo puedo no ser Montgomery Clift?“, in dem Zitate von Hart Crane, Cole Porter und Cummings vorkommen, „Todas las noches de un día“ (mit Versen von Sylvia Plath und Idea Vilariño) und „Paloma negra“, das Gedichtzeilen von Pita Amor, María Zambrano und Concha Méndez enthält. Manche Sätze wiederholen sich in meinen Stücken wie eine glückliche Fügung, wie das Schicksal der Spuren geteilter Plazenta, der gemeinsamen Geburtsmale, wie eine Verwandtschaft in der Intertextualität.
Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, gleicht für mich einem Wald in Flammen. Ich kann nicht dorthin zurückkehren, um irgendeine Poetik, irgendeine Gewissheit zu finden, mir bleibt nur der Versuch, der Versuch, weiterhin etwas von der schönen und grausamen Poesie unserer Welt auf die Bühne zu bringen. //
1 Beckett, Samuel/Tophoven, Elmar (Übers.)/Tophoven, Erika (Übers.): Drei Stücke. Warten auf Godot. Endspiel. Glückliche Tage, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2013, S. 51. 2 Übersetzung J. C. 3 Artaud, Antonin/ Henniger, Gerd (Übers.): Das Theater und sein Double, S. Fischer, Frankfurt a. M.1969, S. 49. 4 Übersetzung J. C. 5 García Lorca, Federico/Beck, Enrique (Übers.): Über Dichtung und Theater, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1974, S. 119. 6 Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Klostermann Rote Reihe, Frankfurt a. M. 2012, S. 41. 7 Anm. d. Ü.: Im Original redondillas. Redondillas sind (meist) achtsilbige Vierzeiler und eine beliebte Strophenform in der spanischen Lyrik und Dramatik vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts.
Aus dem Spanischen von Johanna Carl