Niemand hat dem Theater verboten, eine entscheidende Rolle zu spielen
von Philipp Ruch
Erschienen in: Zeitgenoss*in Gorki – Zwischenrufe (03/2023)
Die Szenerie erinnert an Aufstandsbekämpfung: Helikopter rattern zu dicht über das Theaterhaus, als solle es sich bücken. Hunderte Polizisten stürzen aus Kastenwägen und umstellen das Gebäude in Berlins Mitte. Der Staatsschutz schickt eine Sonderabteilung, die auf Drohungen spezialisiert ist und schon morgens Hausdurchsuchungen ankündigt. Der Staat fährt alles auf, was er aufbieten kann. Sehr zur Freude einer interessierten Öffentlichkeit, die sich die Augen reibt, weil sie gar nicht mehr daran zu glauben hoffte, dass Kunst noch eine Rolle spielen könnte. „Die Grenzen der Europäischen Union werden am Gorki verteidigt“, bringt ein Journalist den Kriegseinsatz auf den Punkt.
Die Kunst ist im Herbst 2014 für einen Augenblick, als die Republik den 25. Jahrestag des Mauerfalls begehen möchte, relevant und verteidigt, wie wir sein könnten. Die Staatsmacht möchte ungestört an die Mauertoten des DDR-Regimes erinnern. Die Kunst stört mit den neuen Mauertoten im Meer vor Europa. Was der DDR in 28 Jahren gelang und wofür sie in den Geschichtsbüchern verurteilt wird, duldet die Europäische Union im Mittelmeer in einer guten Stunde: 1800 tote Flüchtende. Für einen Moment ist die Kunst bedrohlich und fordert die politische Macht zum Duell heraus. Noch bedrohlicher macht das Ganze, dass mit einem Faktor gearbeitet wird, den die...