Tradition und Fortschritt im Musikleben der Gegenwart
Erschienen in: Theater der Zeit: Über den Surrealismus (01/1947)
Unser Musikleben wird in stärkstem Ausmaß durch ältere Musik beherrscht. Die Konzertprogramme der Gegenwart bestehen zum größten Teil aus Werken, deren Autoren nicht mehr am Leben sind. Diese Erscheinung ist heute in der ganzen Welt anzutreffen; am auffälligsten ist sie vielleicht auf dem Gebiet der Oper. Die gleichen Standardwerke aus älterer Zeit bilden den Grundstock aller Spielpläne und Konzertprogramme. Die Musik lebender Komponisten taucht nur selten auf; sie bildet eine „Ausnahme“. Dies war keineswegs immer so. In den gesamten früheren Jahrhunderten war es gerade umgekehrt: es wurden zur Zeit der Troubadours und Minnesänger ebenso wie in den Zeiten der großen Niederländer Meister des 15. und 16. Jahrhunderts ausschließlich Werke von Genossen aufgeführt; die Kantoren und Organisten hatten für die Aufführungen in den Kirchen dauernd Neues zu schreiben (das war noch zur Zeit J. S. Bachs der Fall); die Kapellmeister an den Fürstenhöfen waren zu ebensolcher Tätigkeit verpflichtet – es sei an das Wirken Haydns beim Fürsten Esterhazy erinnert; aber auch die ersten öffentlichen Konzerte im 18. Jahrhundert wie die unter Hiller im Leipziger Gewandhaus brachten in erster Linie zeitgenössische Kompositionen zur Aufführung. Erst unserem Zeitalter, das sich so fortschrittlich zu sein dünkt, blieb es vorbehalten, sich vorwiegend vom Erbe der...