Protagonisten
Übermaß und Aberwitz
Der Schauspieler Bernd Grawert. Ein Porträt
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Übermaß und Aberwitz – Der Schauspieler Bernd Grawert (02/2013)
Assoziationen: Akteure
Vom Bühnenhimmel hängt eine Strickleiter herab. Wer kommt herabgestiegen? Gott? Oder ist dies im Gegenteil der letzte Fluchtweg hinauf in den Himmel, weg von jener Erde, die für Georg Büchner bloß ein „umgestürzter Pisspott" ist? Jette Steckels „Woyzeck"-Inszenierung am Hamburger Thalia Theater findet bestürzend archetypische Bilder für jene verdammte Unschuld, die den Namen Woyzeck trägt. Der gute Mensch, Mörder wider Willen, erscheint hier wie eine Gedankenlosigkeit Gottes. Der Himmel in Gestalt eines großen, quadratisch aufgespannten Netzes, in dem das irdische Folterpersonal herumklettert, erinnert an ein Spinnengewebe: Alle sind sie darin Gefangene.
Bernd Grawert spielt heute zum ersten Mal den Tambourmajor. Er hat die Rolle von Josef Ostendorf übernommen. Die Inszenierung läuft bereits seit drei Jahren - fast immer ausverkauft. Das liegt wohl am glücklichen Zusammentreffen von Büchners Text mit der Musik von Tom Waits und der fast schon filmischen Dramaturgie Robert Wilsons. Dass dies jedoch nicht - wie in manch anderer Inszenierung dieser Spielfassung - wie ein greller Musikclip vorbeirauscht, ist das Verdienst der Regisseurin, die den Schauspielern immer wieder Räume baut, in denen die Worte gegen eine schreckliche Stille ankämpfen. Grawerts Tambourmajor kommt mit Bierdose in der Hand, Mantel und Hut. Ein leicht verkommener Dandy, der da wie Mutter Courage einen Wagen hinter sich her zieht, nur ist es hier eine große Trommel auf Rädern. Ein überdimensionierter Fetisch, auf den man schlagen kann, will man die Welt treffen.
Ein Zirkus, in dem die menschliche Komödie gespielt wird. Ein „bunter Abend" mit tiefschwarzen Abgründen, Manege für Raubtierdressur und Clownerie - und niemand weiß genau, wann die eine Nummer endet und die andere beginnt. Für Grawert ist es ein Spielen nach dem Sturz, jenem schlimmen Unfall bei der Premiere von Grabbes „Herzog Theodor von Gothland" am Schauspiel Hannover im April 2011. Das Gedächtnis der Medien ist kurz: Die „Sensation" eines sieben Meter in die Tiefe Gestürzten, der daraufhin zwei Wochen im künstlichen Koma lag, ist längst anderen Schlagzeilen gewichen.
Aber für Bernd Grawert ist es nicht vorbei, er trägt die Erfahrung mit sich, sie kreist in ihm. Er spielt längst wieder. Aber etwas ist anders geworden; er denkt jetzt häufig darüber nach, was denn eigentlich einen Schauspieler ausmacht. Doch wohl mehr zu sein als ein bloßes Funktionselement des Theaterbetriebs, das durch den Unfall beschädigt worden ist und zu ärgerlichen Störungen des Ablaufs geführt hat?
Wenn Grawert die Bühne betritt, erblickt man einen kräftigen, fast vierschrötig wirkenden Mann. Wenn der Tambourmajor lacht, dann klingt es dreckig, und er haut dazu auf die Trommel: „Der Mann muss saufen!" Als Kreon in Dimiter Gotscheffs „Antigone" saß er bevorzugt mit einem lächerlichen Lorbeerkranz auf dem Kopf am Klavier. Cheftyp, der alles im Griff hat nach außen, aber jeder weiß, dass ihm das Geschehen längst über dem Kopf zusammenschlägt. Grawert kann diese Erosion spielen, bewahrt seine Figuren vor der Karikatur, lässt Verletzlichkeiten aufblitzen. Da kommt plötzlich jemand nicht mehr mit - und wird in den Augen der Welt zur komischen Figur. Das, so weiß er - und weiß es nicht erst seit seinem Sturz -, muss man ernst nehmen. Das Absurde wird zum Normalfall. Grawert ist ein Schauspieler, der das Lustprinzip auf intelligente Weise kultiviert, wohl wissend, dass hier auch immer die Unlust droht. Er lässt skeptische Brüche zu, spielt Distanzen nicht weg.
Sein Witz ist scharf, aber nie zynisch, er bringt vielmehr allzu selbstverständliche Rollen durcheinander: Es klingt dann wie Pfeifen im Walde. Ist da noch jemand? Auf YouTube kann man ein kurzes Video von einem Fototermin im Thalia Theater sehen, da soll er zusammen mit Patrycia Ziołkowska fotografiert werden. Der Fotograf ruft anfeuernd: „Die Schöne und das Biest!" Grawert: „Aber Patrycia ist doch kein Biest!" So ist er, immer einen Tick schneller im Kopf.
Der Kosmos schießt durch ihn hindurch
Nach der Vorstellung im Theaterrestaurant, der „Weltbühne" gleich nebenan. Wie ist es, wenn man in eine eingespielte Inszenierung hineinkommt? „Natürlich", sagt Grawert, „habe ich die Rolle sportlicher angelegt. Ostendorf ist ja von ganz anderer Statur, ich muss da mehr machen." Worum geht es eigentlich in dem Stück? Grawert isst seinen Tafelspitz und überlegt: „Um das große Entgleiten dessen, was man festhalten will. Alles kreist dabei um den Satz: ‚Der Mensch ist ein Abgrund.‘" Er selbst spielte den Franz Woyzeck bereits vor zwanzig Jahren in der Regie von Dimiter Gotscheff. Da sei er ein „abwesender Typ" gewesen, der weder bei sich noch bei Marie war. Und auch der Mord an ihr geschah wie abwesend. „Der blickt in den Mond und redet, und plötzlich ist es geschehen." Woyzeck als Inbegriff des von sich entfremdeten Menschen? Grawert breitet die Arme aus: „Das ist eben der Stillstand, als wenn eine ‚bleierne Zeit‘ über allem liegt." Ist Woyzeck jemand, den man erlösen müsste? Grawert lässt die Gabel geräuschvoll auf den Teller fallen: „Genau, den müsste man erlösen!"
Diesen Wahnsinn in aller Normalität fasst Büchner in dem Satz: „Der Kosmos schießt durch ihn hindurch." Diesen Zuständen der Übermacht ist Grawert immer auf der Spur. Auch in „Blind date", nach dem Film von Theo van Gogh, ebenfalls am Thalia Theater. Da spielen ein Mann und eine Frau ein aberwitziges Spiel aus purer Not, der Wahrheit ausweichen zu müssen. Ihr Kind ist tot, das erfährt man aber erst später, und beide können nur noch miteinander umgehen, indem sie Rollen spielen, so, als würden sie sich nicht kennen. Am Ende begehen sie gemeinsam Selbstmord - aber vielleicht ist auch das nur eine Fiktion innerhalb des Spiels.
Grawert ist jemand, in dem Kraft und Zartheit dicht beieinanderliegen, ebenso wie der Mut zum Pathos im schnellen Wechsel mit der Ironie, die Lust am Selberreden wie am Zuhören, die flammende Emphase und die kühle Skepsis. Das begleitet den Schauspieler von Anfang an. Als er die Aufnahmeprüfung an der Folkwangschule in Essen soeben bestanden hatte, fragte ihn der Schuldirektor, ob er denn nun wirklich Schauspieler werden wolle? Vielleicht war da etwas zu Salbungsvolles im Tonfall des Fragenden, das ihn stutzig machte. Die Fraglosigkeit in der Frage ließ ihm ein einfaches Ja unmöglich sein. Stattdessen sagte er - wohlwissend, dass dies nicht die geforderte Antwort war: „Ich weiß es nicht." Das entsprach seinem Gefühl in diesem Moment, das war ehrlich. Antworten geben, die man hören will, war schon damals nicht seine Sache. Die Konsequenz war: Er flog raus, und vor der Tür bestürmten ihn seine Freunde: „Geh sofort wieder rein und sag, unbedingt willst du es!" Zu spät.
Die Skepsis gegenüber den allzu Selbstgewissen, den hundertfünfzigprozentigen Ja-Sagern, ist ihm geblieben. Sie gibt ihm noch in der größten Ekstase eine innere Freiheit: Er könnte jetzt auch gehen. Er ist auf der Bühne in manchen Momenten ein Sklave, aber nicht von anderen, sondern sein eigener.
Und dann durfte er doch noch Schauspiel studieren - weil jemand anderes abgesprungen war. An der Folkwang war er da bereits, aber in einem pädagogischen Studiengang: Rhythmisch musikalische Erziehung. Dass er nicht Lehrer werden wollte, wurde ihm an einem bestimmten Punkt klar. Das war, als er anfing, mit anderen Studenten in gemeinsamen Programmen aufzutreten: Pantomime, Gesang, kleine Spielszenen. Kleinkunst mit großem Anspruch. In gewisser Weise das, was Theater für ihn im besten Falle immer noch ist: ein Ausnahmezustand auf Zeit und immer mit einer besonderen Atmosphäre, die etwas von Verzauberung hat.
Ich bin der Diskurs der anderen
Es ist längst nach ein Uhr, wir sind die letzten Gäste und haben noch nicht über den Unfall bei der „Gothland"-Premiere gesprochen. Ob wir wirklich jetzt noch darüber reden wollen? Grawert ist sich nicht sicher, ob und wie er diesen Bühnensturz im Gespräch vermitteln soll, auch nicht, welche Form es dann auf dem Papier annehmen könnte. Probieren wir es, hatte er schließlich gesagt. Und dann spricht er mit wahrer Lust am aberwitzigen Detail, immer irgendwie zwischen Lachen und Weinen.
Es geht nicht um Schuldzuweisungen. Unfall ist Unfall, und die Versicherung hat längst gezahlt. Aber ist damit der Fall erledigt? Für Grawert nicht. Nach dem Unfall lag er im künstlichen Koma, ohne Erinnerung an den Sturz. Doch an das Koma erinnert er sich als einen merkwürdigen Schwebezustand. Er habe sich seltsamerweise voller Energie gefühlt, zugleich hellwach und im Traum gefangen, hörte alles, was um ihn herum gesprochen wurde. An vieles kann er sich jetzt noch erinnern. So führte er einen somnambulen Disput mit einer Ärztin, der er erklärte, es gehe nicht um Virtuosität, sondern um Authentizität. Solche halbbewussten Äußerungen sind nicht unnormal in einem Zustand, in dem sich die Lebenskräfte neu formieren. Nach dem Sturz wurde ihm in einer Notoperation eine Niere entfernt, das Becken und einige Rippen waren gebrochen, ein Lungenflügel war eingefallen ... Und schließlich stand er vor der Aufgabe, etwas aufzuarbeiten, an das er keinerlei Erinnerung hatte. Verletzt haben ihn da vor allem die Äußerungen des Intendanten
Lars-Ole Walburg unmittelbar nach dem Unfall, von denen er in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung las. Solche Absenkungen auf der Bühne seien keine Seltenheit, und man müsse doch davon ausgehen, dass „alle Erwachsenen Herr ihrer Sinne sind und Warnungen nicht in den Wind schlagen". Wäre Grawert nicht auf ein fast sieben Meter tief abgesenktes Kulissenteil gestürzt, hätte er leicht auch zwölf Meter tief fallen können und das wohl kaum überlebt. Die Unterstellung, er sei besonders gefährdet, weil er schon „während der Proben immer so aufgeladen" gewesen sei, ging ihm gegen die Ehre. Über zwanzig Jahre steht er auf der Bühne, spielte bei Gosch, Gotscheff und Perceval, und dann wird unterstellt, er sei nicht professionell? Er fing an, den Ablauf zu rekonstruieren.
Die Inszenierungsarbeit erwies sich als schwierig. Der Termindruck war groß, die Generalprobe zugleich der erste Durchlauf. Auf dem Generalprobenvideo sei zu sehen, dass er zur Pause die Regisseurin fragte, wie er denn überhaupt von der Bühne abgehen solle. Auch die Aufzeichnung der Premiere hat er sich angesehen. Die Wahnsinnszene zur Pause, Gothlands großer Monolog, sollte mit einer Improvisation enden, Grawert zur Inspizientenseite abgehen - während sich der Vorhang senkt. Aber etwas stimmte am Timing nicht, der Vorhang kam zu spät, so improvisierte er weiter, sah immer wieder hinauf - und ist dabei in einen Bereich der Bühne geraten, den er nicht hätte betreten dürfen. Grawert setzt dieses Puzzle immer wieder neu zusammen.
Wie gewinnt man nach einem solchen Unfall die Leichtigkeit des Spiels zurück? Grawert sagt, er wähle immer sorgsamer aus, worauf er seine Zeit verwende. Leben ist kostbar, und Zeit ist Frist. Und ich denke dabei an eine Inszenierung von Dimiter Gotscheff, die um dasselbe Thema kreiste. Im Spätherbst 2010 spielte Grawert an der Volksbühne in „Die Chinesin". In dieser Adaption von Jean- Luc Godards Film geht es um das ideologische Weltveränderungspathos der Intellektuellen kurz vor der Studentenrevolte von 1968. Man trinkt teure Rotweine, ist Bürger durch und durch - und debattiert dabei die revolutionäre Rolle des Proletariats. Eine absurde Szenerie, die bei der Kritik mehrheitlich auf Unverständnis stieß.
In diesem Tanz der Paradoxe sah man Bernd Grawert als eine Art Großstadtindianer mit der Lizenz zum Nerven. „Ich bin der Diskurs der anderen", heißt es bei Godard. Alle wollen die Welt retten, aber wer rettet uns vor der Welt? In dieser Inszenierung zeigte sich Grawert als bitterböser Komiker. Solche Übertritte ins Surreale kann er spielen, dieses Zugleich von ganz und gar entfesselt und schon wieder neu in Fesseln gelegt, von Wortflut und betretenem Schweigen, von Empfindsamkeit und Rücksichtslosigkeit. Jede Parodie der Tragödie muss diese schließlich noch an Ernst übertreffen. Erst aus dem Übermaß entspringt der Aberwitz. //