Auftritt
Bern: Im Kargen das Reiche
Konzert Theater Bern: „Katzelmacher“ von Rainer Werner Fassbinder. Regie Claudia Meyer, Ausstattung Aurel Lenfert
von Harald Müller
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
Assoziationen: Bühnen Bern
Draußen am Stadtrand Berns, in einem ehemaligen Industriequartier, Vidmar genannt, spielt das Konzert Theater Bern Fassbinders Sozialparabel „Katzelmacher“, und der Besucher aus Berlin denkt sofort, dass dieses Stück hierher gehört. Erster Trugschluss. Der Abend beginnt: Im gleißenden Licht sehen wir die neun Spielerinnen und Spieler wie in Cinemascope aufgereiht in einem rosa Guckkasten à la James Tyrrell (Bühne und Kostüme Aurel Lenfert), der auf zwei Ebenen ein unten und ein oben assoziiert, welches sich jedoch erst in unterschiedlichen Spielstilen herauskristallisiert. Der zweite Trugschluss. Der dritte folgt sogleich, als man sich fragt, wie dieses, einem gewissen „Flachmarktrealismus“ folgende Stück der endsechziger Jahre über den Gastarbeiter Jorgos, der auf eine deutsche Dorfgemeinschaft trifft, heutzutage gegeben werden kann, ohne die rasch nacherzählbare Story ins Reich der Märchen des 19. Jahrhunderts zu verweisen. Hier aber beginnt es spannend zu werden, weil meine Antwort auf einen hochartifiziellen, Betroffenheit konsequent verweigernden Abend hinweist, der die Schwere des Stückes spielend zurücknimmt, ohne den Ernst der Szene zu verraten.
In Bern besteht tatsächlich nicht einmal die Gefahr, Opfer jenes verqueren Fotografismus zu werden, der den Blick des Zuschauers verkrampft und demütigt, meist nur, um ihm zu sagen, was man anscheinend schon lange weiß, nämlich wie blöd und elend er sich selbst zu sehen hat. Wir erleben einen intellektuell und sinnlich überzeugenden Abend, der die falschen Harmonien des gepflegten Dialogs sprengt und diesen durch einen nach musikalischen Prinzipien neu geordneten, ungeheuer assoziationsreichen Wort- und Klangteppich ersetzt (Musik Michael Wilhelmi). Hier wird, gerade weil man an der Konstruiertheit der Bilder nicht einen Moment zweifeln muss, alles erreicht, was durch Verfremdung erreicht werden kann. Alle Spielerinnen und Spieler im allerdings nicht durchgängig gut besetzten Ensemble, das seine Zentren in der außergewöhnlichen Irina Wrona und ihrem Gegenspieler Nico Delpy als Jorgos hat, wissen, dass sie spielen. Ihr Spiel aber kennt die Würde der Darstellung, eben weil es sich um deren Aussichtslosigkeit nicht mittels Mätzchen betrügen muss.
Ziel war – und das wurde eingelöst –, ein Pakt mit dem Wissen um die größtmögliche Zuspitzung der Unmöglichkeit einer Darstellung dessen, was man so leichthin den allgemeinen Irrsinn der Verhältnisse nennt – und dies auf eine expressiv-fantastische Weise. Mit einer Ausnahme: Nico Delpy stand als Fremder vor der schwierigen Herausforderung, auch szenisch den Anderen zu entwickeln. Im Stück eingeführt als Projektionsfläche der Dorffiguren, erleben wir, wie es ihm durch körperliche Reduktion und naturalistischen Ausdruck zunehmend gelingt, emotional und authentisch zu erscheinen. Im Kleinen das Große, im Kargen das Reiche. Wir sehen klare, ihrer Kunst vollkommen bewusste Schauspieler, traumwandlerisch sicher von der Spielleitung geführte Menschen, die sich für die Fallen ihrer Kunst an diesem Abend und für die Fehler der Inszenierung (die es durchaus gab) nicht mehr im geringsten zu interessieren brauchen. Die Komplexität ihres Gestenkatalogs überschritt die unendlichen Weiten des gesagten Wortes – wobei wir bei Blaise Pascal wären: „Der Sinn empfängt seine Würde von Worten, anstatt sie ihnen zu erteilen.“ Der Abend in der Regie von Claudia Meyer gibt souveränen Anschauungsunterricht in längst verloren Geglaubtem: Verfremdung ist möglich, Widerstand wahre Freundschaft, das Leben ein denkwürdiger Traum. Ein animiertes Publikum quer durch alle Generationen spendete überaus reichen Beifall. //