Theater der Zeit

Vorwort

von Krassimira Kruschkova und Sigrid Gareis

Erschienen in: Recherchen 68: Ungerufen – Tanz und Performance der Zukunft (06/2009)

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Die Optik, mit der wir die achtjährige Vergangenheit des Tanzquartier Wien zu sehen versuchen, ist eine des Kommenden. Eine Optik, die das Oszillieren zwischen nicht mehr und noch nicht markiert, ein Oszillieren, das uns in der Saison 2008/09 eine Art ›Neugründung‹ des Tanzquartier Wien ausprobieren ließ: Die ganze Saison 2008/09 tastete und spürte das Team des Hauses nach Noch-Unsichtbarem im Bereich Tanz und Performance und versuchte Unabsehbares zu testen, zu proben, zu prüfen. Inzwischen - wie es kein Zufall will - verwandelte sich das geplante Zukunftsjahr in ein lustvolles Abschlussjahr der Gründungsära des Tanzquartier Wien und die von Beginn an angedachte Publikation zur mitschwingenden Reflexion, zur zukunftsoffenen Resonanz einer achtjährigen Intendanzperiode - als könnte sie nur als ein Echo die Vielstimmigkeit dessen, was gewesen sein wird, widerhallen lassen. Und als wüssten wir bereits, als wir an der Publikation IT TAKES PLACE WHEN IT DOESN'T. ON DANCE AND PERFORMANCE SINCE 1989 gearbeitet haben, an einer »inventory in the mode of its impossibility«, dass diesem ambivalentem taking-place-Modus des ästhetischen Ereignisses und seiner ortlosen Ankunft das vorliegende Buch folgen wird.

Als würde es in der Luft liegen - wie Zukunft in der Luft liegt, in jedem Wortsinn. Nicht hervorgerufen oder angerufen, aufgerufen, berufen, herbeigerufen. Vielmehr ungerufen.3 Ungerufen kommt Künftiges. Als Geschenk. Als eine Gabe, die die reziproke Logik von ökonomischen Tauschprozessen unterminiert, eine Gabe ohne Gegengabe, ohne Symmetrie, Kalkül, Intention, Berechnung. Damit können wir nicht rechnen. Und wie ausgerechnet daraufhin arbeiten, darauf vorbereitet sein? Wie dafür proben, es vorbereiten, wenn Kommendes - auch im Geglückten - uns als luftiges Verfehlen vorkommt, das zwischen noch nicht und nicht mehr schwebt; wenn es - als ein immer neu Fehlendes, Ausbleibendes, Abwesendes - uns stets weiter vermissen und vermessen und planen und programmieren lässt? Natürlich wussten wir es nicht. Und gerade im Modus des Ungewussten und Ungewissen wagt unser Buch über die Zukunft zu brüten, zu grübeln, nachzusinnen: in der Nachträglichkeit dieses nach, in dessen Modus jedes kommende Ereignis überhaupt eines gewesen sein wird. Ein Ereignis, das nur so stattgefunden haben wird - in unserer Unsicherheit, ob es überhaupt eines war. Aber wie viel Verspätung verträgt die Sehnsucht nach dem Kommenden, wie viel Vertagung sein Wagnis, wie viel Verzögerung die Angst davor, wie viel Verschiebung die Verantwortung dafür? Wie Verantwortung für das übernehmen, »was bereits da ist, auch wenn wir es noch nicht sehen können« (so Rabih Mroué in seinem Buchbeitrag)? Sehnsucht, Angst, Wagnis, Verantwortung - als wären es geflüsterte Wörter in einem so ernsten Stille-Post-Spiel. Ein (broken) telephone als Figur für die unabsehbare, unerhörte, nur als Atem zu vernehmende, gebrochene ›Telephonie‹ statt Teleologie des Kommenden. Es wird ein kommendes Ungerufenes gewesen sein, ein ungerufenes Kommen: So wie unser editorischer Ruf nach Texten über Tanz und Performance der Zukunft von dem in ihm Ungerufenen herkam, von der (noch) unmöglichen Benennung dieses Rufs, der nicht wissen kann, wonach er potenziell ruft - ist doch Potenzialität auch von ihrer Depotenzialisierung her zu denken, nicht als ein Mehr, sondern als ein Weniger, als das, was nie im Horizont einer Intention gelegen hat.

Und unsere Autorinnen und Autoren wussten sich diesem Call des Ungerufenen, diesem aporetischen Evokativ hellhörig und zugleich im Modus eines produktiven Überhörens zu stellen. Dafür können wir ihnen nicht genug danken. Denn Texte über die Zukunft können mit keiner Bestätigung, Beglaubigung, Legitimation, Zuversicht, ja mit keinem Zuspruch rechnen, und gerade diesem hohen Anspruch des Unberechenbaren haben sich die hier vorliegenden Texte gestellt. Mit der einzigen Übereinkunft: die allzu glatte Ankunft des Verstehens zu überlisten, sei es auch im Schreiben von Zukunftslisten, um Mitsein statt Verstehen zu evozieren: als eine gemeinsame Sprache, die vielmehr auf gemeinsames Versehen, auf gemeinsame Kontingenz, auf das Vermögen des Scheiterns zählt, kann doch Kommendes nur im Modus des Schweigens Anspruch erheben und nur seine Unprüfbarkeit prüfen, proben, testen, durchspielen.

Wir stellen uns Tanz und Performance der Zukunft nicht als ein von Kausalität und Kalkül zusammengehaltenes Bild vor, das Gegebenheiten weiterdenkt, sondern vielmehr als eine vakante, ungegebene Imagination - wie sich die Gabe des Szenischen jeder Metaphysik des Gegebenen und der Präsenz entzieht. Ungerufen kommt eine Gabe, die keine Gegengabe ist und auch keine erwartet, die das Ereignis des Unabsehbaren gespannt willkommen heißt. Eine »Gespanntheit ohne Intention« (so Jean-Luc Nancy in seinem Buchbeitrag). Nicht einfach zufällig, vielmehr ungerufen möchten wir uns das ästhetische Ereignis des Kommenden in Tanz und Performance vorstellen, im doppeldeutigen Modus des Versprechens, des Sich-Versprechens, in all seiner Kontingenz. Und verspricht die Kontingenz als Ereignis (lat. contingere: sich ereignen / spätlat.: Möglichkeit) den Chiasmus des ›mehr als Beliebigen und weniger als Notwendigen‹, so verspricht sie sich dabei - mehr als notwendig und weniger als beliebig, weder unwillkürlich noch arbiträr. Unabsehbar, seh(e)nsüchtig.

Ein Schriftzug und -bild zugleich von Tim Etchells - The future will be confusing - schien uns als Ausgangstopos für die Arbeit an der vorliegenden Publikation geeignet. Auch die zehntägige Programmierung (PRECISE) WOODSTOCK OF THINKING (15. - 25. September 2008) am Beginn unserer Saison 2008/09 war explizit Zukunftsfragestellungen gewidmet. So sind einige der Texte aus dieser September-Programmierung hervorgegangen bzw. beziehen sich direkt darauf. Vor allem aber soll das Buch - auch mit den vielen auf Einladung der Herausgeberinnen ganz unabhängig von (PRECISE) WOODSTOCK OF THINKING von Oktober 2008 bis Januar 2009 entstandenen Texten - einen Blick auf Tanz und Performance der Zukunft wagen: Einen Blick, der die achtjährige Geschichte des Tanzquartier Wien reflektiert (dazu explizit im Buchanhang ein Interview von Gerald Siegmund mit Sigrid Gareis, sowie eine gestraffte Programmübersicht) und die Gegenwart unserer Sparte potenziert, ins Mögliche wendet.

Die Texte, die gemeinsam unter diesem Buchdeckel liegen und oft auch ohne Fußnoten miteinander füßeln, bewegen sich in unterschiedlichsten Denkfiguren und -gesten - als Essay, theoretischer Entwurf, Gespräch, epistolare Anrede, Grafik, Comic, Dichtung, Wunschzettel, Glossar- oder Rezitativartiges etc. So markiert auch die Buchstruktur eine ›parataktische‹ Sehnsucht, die im Aneinanderreihen, Aufzählen die Hierarchie der Begrifflichkeit meidet und eine (noch) namenlose Differenz zu benennen sucht. Als könnte dieses Auflisten, in Sprache gefasst, seine Fortsetzung, eine kommende, gerade im Ungerufenen evozieren. Daher unser akkumulatives Inhaltsverzeichnis, das zugleich - wie könnte es anders sein - auch an Themenkreise anknüpft, geprägt von den Theorieschwerpunkten am Tanzquartier Wien. So schließt das erste Kapitel an Forschungsfelder wie GEGENWART - Kontingenz - Mitsein an, das zweite webt an Mitsein - PUBLIKUM - Singularität weiter, das dritte greift Singularität - Prozess - POTENZIALITÄT auf: All dies grundsätzliche Denkfiguren und zugleich Maschen im Buchgewebe, die wir als Risse, Öffnungen für Kommendes fallen lassen möchten: Entstehen doch Performances selbst als eine konfuse Prozedur des Abtastens von dem, was noch kommen mag, in all dem Improvisatorischen, Fragilen, Latenten einer Probesituation.

Um die sich voraustastenden Gedanken einem möglichst breiten Leserkreis zugänglich zu machen, haben wir uns für eine deutschenglische Fassung entschieden. Drei der Beiträge (von Kelly Copper & Pavol Liska, von Amanda Piña & Daniel Zimmermann und von Kattrin Deufert & Thomas Plischke) erscheinen aus übersetzungstechnischen Gründen nur in der Originalfassung im englischsprachigen Teil des Buches. Die Publikation beinhaltet auch eine DVD mit fünf der insgesamt fünfzig Beiträge von (PRECISE) WOODSTOCK OF THINKING: von Milli Bitterli, Philipp Gehmacher, Martin Nachbar und Simone Aughterlony sowie einem Gespräch zwischen Sigrid Gareis und Veronica Kaup-Hasler. Die vielen künstlerischen Texte (einige davon von Theoretikern oder Veranstaltern verfasst) wie die DVD sollen auch abseits des streng Akademischen hin zu einer theoretischen Auseinandersetzung führen, die oft essayistisch den richtigen Ton trifft. Die Texte zum Kommenden sind selbst oft Texte am Kommen, am Verfertigen. Als käme das Unvorhersehbare gerade im Rhythmus dieser Texte vor, vielleicht in einer anderen Vorstellung von Rhythmus, als käme es erst so an: in der Anapher-Struktur von Jennifer Lacey oder im dezenten Refrain- und Korrespondenzgestus von Tim Etchells, in der »bad poetry« von Kelly Copper & Pavol Liska (»We start with a topic like rhythm or meter/Then next thing you know, I should whip out my peter!«), oder im »pneumatischen« Rhythmus von Peter Stamers Text oder der Agenda von Christine Peters etc., um nur einige Beispiele zu nennen.

Sofern Entwürfe über die Zukunft diese auch verändern, manipulieren können, möchten wir dieses Potenzial des Visionären ins Visier nehmen und kritisch hinterfragen. Mit allen Texten formulieren wir zugleich - in all der prognostischen Unentscheidbarkeit - unsere Gewissheit, dass die Bewegungen von Tanz und Performance gerade in ihrer Gegenläufigkeit und Widerspenstigkeit an der gesellschaftlichen Bewegung teilhaben. So verstehen wir die hier versammelten Texte als Beiträge zum Denken des Potenziellen - jenseits des vorhersehbaren Gesellschaftsspiels von Optimierung und Kalkül, jenseits der effizienten Aktualisierung aller Möglichkeiten.

Das erste Kapitel GEGENWART - Kontingenz - Mitsein geht vom Präsens der Tanz- und Performancepraxis aus, um Kommendes - in seiner Kontingenz - als Ko-Präsenz, als Mitsein weiterzudenken. Und um Zukunft auch in der sprachlichen Verfasstheit der Texte zu suchen. So schreibt Tim Etchells über Worte, über das, was sie - in der fragilen szenischen Gegenwart, in der Gegenwart des Atmens, das einzig da ist, beginnend vom Nichts im Proberaum - geschehen lassen. Diese Fragilität des Präsenten, die das Problem jeder Zukunft sein wird, lässt uns im Theater Separation und Zusammensein gleichzeitig erfahren. Im Kontext der Zukunftsversuche in dieser Figuralität des Beginnens, des ersten Atems steht auch Jean-Luc Nancys poetisch-parataktische Suche nach der Geburt des Tanzes, nach seiner Separation, Auflösung, »Trennung von einem einzigartigen Ort«. Dabei wird die Gegenwart des Tanzes immer »der Zwischenraum einer Gegenwart« sein: »eine Gegenwart, die sich im Abstand zu sich selbst vergegenwärtigt. Raum und Zuckung«. »Die Performance ist ein anderer Ort, eine Vakanz [...] die Präsenz des Abwesenden«, schreibt wiederum Rabih Mroué und berührt jene wunde Präsenzstelle, und damit auch eine Schnittstelle zur ersten Theorie-Reihe im Tanzquartier Wien (Saison 2003/04). Und natürlich können wir hier - einleitend - all die Buchbeiträge nur streifen, berühren, um sie in ihrer Alterität zusammen zu halten, statt den unmöglichen Anspruch der Zusammenfassung zu erheben. Ein Vorwort, das nicht anders kann und will, als Echos des Ungerufenen, des Kommenden statt Resümees der Ankunft widerhallen zu lassen. So zieht sich der »rote« Faden des Buches (der hier vielmehr dem »grünen« der Imagefarbe des Tanzquartier Wien entspricht) entlang des Werdens, entlang von Latenz und Vakanz. Perspektiven, Aussichten, Annahmen, Ahnungen, Prognosen, Wünsche, Warnungen, Vermutungen geben einem gemeinsamen Denken Raum. Und Zeit. Zeit geben, eine entschleunigte Zeit, in all ihren Rissen und Sprüngen, »eine gesprungene Zeit« (Hans-Thies Lehmann), und nur so Zeit des Mitseins, mit »Aufmerksamkeit für das Kleinste«, vielleicht weil die größten Differenzen die kleinsten sind: Um dem Fluss der Zeit beim Überqueren frontal zu begegnen, statt entlang seiner Strömungen mit zu schwimmen (Helene Varopoulou).

Zurück zum Proberaum, zu dem, was bereits begonnen und doch noch nicht da ist, führt Mårten Spångberg, zurück zur Theaterprobe als »dem Konzept, das Agamben vergaß, ein Ort oder Moment der ›Vakanz‹, ein affirmatives, opportunistisches, performatives, offenes Intervall, in dem die Möglichkeit besteht, anders und frei von Ambitionen zu denken«. Und zurück zum Problem der Zukunft des Tanzes, das »aufs engste verknüpft ist mit den Erwartungen, die die Gegenwart des Tanzes prägen«, navigiert Franz Anton Cramer auf der Suche nach dem bindenden »Ereignis der Kohäsion«, die »niemals einfach da ist«. So artikuliert sich das plurale Denken der einzelnen Beiträge in ihren heterogenen Stimmen und Terminologien, sofern das Mitsein, die Berührung nur über Separation möglich ist.8 Oder, wie Ric Allsopp - dessen Respond auf das Ungerufene Begriffe wie »response/ability, offenes Werk, Aufmerksamkeitsverlagerung, Gegenwart, das Noch-Kommende, die Dissemination« thematisiert - Rita Roberto zitiert: »berühren heißt zugleich, an der Grenze sein, die mich von den Dingen trennt, die ich nicht bin.« Und Kelly Coppers & Pavol Liskas Stimmen berühren die Grenze untereinander (auch wenn sie am Rande reimen) als eine andere allmähliche Verfertigung der Gedanken9 - wieder im Gestus des Werdens und mit der Zukunftsvorstellung »to be more precise in our failures«.

Dem singulär-pluralen Modus des kommenden Zuschauers gelten die Texte des zweiten Kapitels Mitsein - PUBLIKUM - Singularität, apostrophiert von einem Comic-Abriss von Amanda Piña & Daniel Zimmermann zu ihrer Performance WE. Indem er die »Ideologie von Performance « dekonstruiert und über eine undarstellbare Gemeinschaft des Publikums im kommenden Theater schreibt, warnt Nikolaus Müller-Schöll vor einer »negativen Theologie«, die sich deshalb fortwährend auf den Zuschauer beziehen kann, »weil er ja seiner Bestimmung nach nicht positivierbar ist und also auch nicht erscheinen kann, um dem zu widersprechen, was ihm in den Mund gelegt wird«. Das Interesse von Jan Ritsema gilt den »Differenzen und Differenzierungen «, die die Zukunft des »intelligenten Zuschauers« bestimmen werden. Die gute Nachricht dabei sei: »Die Künstler-Community der Zukunft wird so groß und mobil sein, dass zwischen den Künstlern selbst genug Geld zirkulieren wird«, so der Gründer des Performing - ArtsForum (PAF) im französischen St. Erme. Sprechen Rudi Laermans und Carine Meulders von der Option des Tanzes »als taktische Unterwanderung oder fröhliches Spiel mit der omnipräsenten Welt kommerzieller Kultur oder mit der ›Gesellschaft des Spektakels‹«, sowie von der permanenten Notwendigkeit eines neuen tanzästhetischen Vokabulars, so korrespondiert dies mit Helmut Ploebsts neologistischen Kontaminationsversuchen, sofern, so Ploebst: »Zwei Systeme tanzen, untrennbar miteinander verbunden, auf den Ebenen der Politik, Wirtschaft, Technologie und Ideologie: einerseits das Spektakel, das sich in den transkulturellen Räumen des Risikos und des Suspense bewegt, und andererseits die sozialen Sphären, die vom Spektakel beschrieben und von Schwärmen konsumistischer ›Spektaklatoren‹ bestärkt oder von Schwärmen kreativer Zuschauer opponiert werden.« Die Bewegungen dieses Textes weg von einem »kontrollierten Körper der Effizienz« optionieren für ein Denken des Unberechenbaren, Unkalkulierbaren. Dieser Option folgend, betrachtet Martina Ruhsam »das Publikum nicht als eine rezeptive Einheit, sondern als eine rezeptive Vielheit, die nicht mehr gemeinsam hat, als das Interesse an zeitgenössischen Tanzperformances, sowie die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Dargebotenen und der eigenen Wahrnehmung.« So wünscht sich die Autorin, »dass Choreografen, Performer und Zuschauer sowie Theoretiker in Zukunft vor allem damit beschäftigt sein werden, (temporär) ›ungeheuerliche Familien‹10 zu gründen, unheimliche Verbindungen herzustellen und ungewöhnliche Kollaborationen zu wagen.« Gesa Ziemer geht von der sozialen Choreografie einer anderen ›Familie‹, jener der argentinischen Grasschneiderameisen aus, um der Narration »des einzelnen Tiers, das in der Gruppe mehr als alleine kann« nachzugehen, um unheimliche Bündnisse zu fordern, sei es zwischen »Artisten und Ameisen«.

Den Anfang des dritten Kapitels Singularität - Prozess - POTENZIALITÄT, das die Singularitäten des Potenziellen in all seiner prozessualen Gegenläufigkeit thematisiert, markiert eine verspielte Grafik von Kattrin Deufert und Thomas Plischke: Ein Schema der vertakten Textur von Realisierungsprozessen, das - entlang einer Art Stille-Post-Spiel von Spurensuche, Wucherung, Übertragung, Reformulierung, Weitergabe, Paralaxe etc. - der paradoxen Zeitlichkeit des künstlerischen Stattfindens folgt. Eine Zeitlichkeit, die drei sehr unterschiedliche folgende Texte im Modus des Futur II, der Vorzukunft oder Futurum exactum, problematisieren: Im Zuge ihrer Prognosen-Recherche, die davon ausgeht, dass »Prognosen selbst in Bewegung sind«, verweist Gabriele Brandstetter auf jenes berührende Ereignis der choreografischen Improvisation, auf jenen sich ständig verschiebenden Fluchtpunkt einer Bewegung, der »in der Hoffnung auf (Selbst-)Überraschung, im Versprechen einer ›anderen Bewegung‹« liegen könnte, einer Bewegung, »in der sich Anfang und Futur II des Geschehens berühren.« Die Fragen, die Pichet Klunchuns »Tanz in Futur II« stellt, greifen eine für mehrere Texte im Buch wichtige Figur auf, jene des Stillstands: »Warum sollte jemand aufhören, sich zu bewegen, um andere sehen zu lassen, was andere sehen sollten? Frage: Was sehen? Antwort: Sehen, was sich bewegt; nicht Menschen, die sich bewegen [...], wenn es sich auf den Punkt des Stillstands zu bewegt«. Und wiederum ein anderer Stillstand, eine Stille im Text von Peter Stamer, die Ungerufenes - wieder als Atem, als einen anderen (denken wir an den Beitrag von Tim Etchells) - »den Sinn küssen« lässt. Denn, so der Autor, der »pneumatische Tanz« der Zukunft »wird nicht das wortlose Medium gewesen sein«, »sein Schweigen wird beredt sein, weil in seiner atmenden Stille die Potenzialität des Sinns liegt.«

Das - wieder andere - »Stille-Post-Prinzip« (Milli Bitterli11) des E-Mail-Gesprächs zwischen den sechs in Wien lebenden Artists in Residence des Tanzquartier Wien, moderiert von Helmut Ploebst, wird in all seiner programmatischen Vielstimmigkeit mehrfach von Prozessualität und Zeitlichkeit de-finiert: Als ein »Zusammenspiel von Be- und Entschleunigung (Christine Gaigg, denken wir auch an Lehmanns »gesprungene Zeit«), das »Sichtbarkeitsregeln entgegenwirkt« (Philipp Gehmacher), und in dem wir uns »jenseits eines Virtuositätsdiskurses positionieren« (Daniel Aschwanden) und »uns viel bewegen müssen, eng zusammenrücken, damit wir nicht erfrieren« (Barbara Kraus), auch im Rahmen einer »Vernetzung von Publikum, Akteuren, Technikern, Kritikern und künstlerischer Leitung« (Anne Juren). Ein weiterer Wiener Künstler Julius Deutschbauer treibt anschließend, im Konjunktiv, einen Ausdruck wie »nicht die Möglichkeit haben« in die Aporie und plädiert für die Möglichkeit, »das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist«.

Ob das, was sie »spekulativen Pragmatismus« nennt, das Scheitern des utopischen Denkens zu korrigieren vermag, fragt ferner Bojana Cvejić in einem Text, der dem Denken des Potenziellen und der Verantwortung auch als Adressierung geschuldet ist. André Lepecki zieht des Weiteren am Ansatz des Buches mit, statt Zukunftsvoraussagen zu legitimieren, über das »Kommende« in Tanz und Performance nachzudenken: Indem er »den Körper als extensive, Affekt artikulierende Maschine sieht, der sich stets jenseits des eigenen Selbst verortet und endlos Singularitäten multipliziert und (neu) verbindet«. Dabei folgt Lepecki einem exklusiven Denken über Tanz und Performance als »eine (bildlose) Vision, eine (körperlose) Geste, ein (nicht semantisch fixiertes) Wort«. Jenseits der semantischen Fixierung bewegt sich auch der Essay von Christine Peters, der mit einem ›zufälligen‹ Lapsus beginnt, um gerade in der Prozession des Verfehlens »hier, an diesem Ort, den wir die Zukunft nennen«, ihre visionäre »Agenda« in 15 Punkten zu notieren. In der Rhetorik des Figurativen entwickelt auch Katherina Zakravsky ihren Text, der die »Nacktheit« als »Metapher« zwischen den Singularitäten nicht enthüllen will: Jene Nacktheit, die, so könnte man sagen, auch die Figur des Potenziellen markiert, die - mit Giorgio Agamben - nicht zu entblößen ist, nicht zu aktualisieren. Dem paradoxen Modus des Potenziellen im Denken von Agamben verpflichtet, imaginiert danach Bojana Kunst »Performance als ein experimentelles und erfinderisches Feld des ›Zusammen-Arbeitens‹, das paradoxerweise genau dann in seiner ganzen transformativen Kraft zum Vorschein kommt, wenn es nicht aktualisiert ist«. Dieses Ereignis des Ästhetischen, das, so könnte man sagen, seine Stätte findet, gerade wenn es nicht stattfindet (IT TAKES PLACE WHEN IT DOESN'T), markiert dann der Rhythmus des Textes von Jennifer Lacey: Lacey skandiert leise im Takt des liebevollen Scheiterns und der Repetition - auch in Korrespondenz zu mehreren bereits erwähnten Buchautoren - und lässt uns in Zukunft »Momente des Scheiterns ohne jede Krise genießen«.

Am Anfang seines Buchbeitrags lässt Tim Etchells Kafka sprechen: »Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?« So hoffen wir, dass die Anstöße, die wir von den hier versammelten Texten bekommen haben, während wir an das Buchgewebe dachten, den Saum der Intentionen, Erwartungen, Prognosen, Kausalitäten - schlagartig oder auch nicht - aufgerissen, aufgelöst haben: Um verfertigte Zukunftsbilder umzustülpen und Unabsehbares zu tanzen und monströse, fremdsprachige Versprechen zu de-monstrieren, immer neu aufzuwecken und in Bewegung zu halten - als Gäste und zugleich Gastgeber eines Ungerufenen, sofern, so Derrida: »Eine Zukunft, die nicht monströs wäre, wäre keine Zukunft; sie wäre morgen bereits vorhersehbar, berechenbar, programmierbar. Jede Erfahrung, die sich der Zukunft gegenüber öffnet, ist vorbereitet oder bereitet sich selbst auf das monströse Kommende vor, begrüßt es, das heißt sie gewährt dem absolut Fremden und Seltsamen Gastfreundschaft und versucht zugleich, dies muss gesagt werden, es zu domestizieren [...]«

Wir danken ganz herzlich allen Autorinnen und Autoren des Buches für ihre inspirierenden Texte, Martina Ruhsam für die redaktionelle Mitarbeit sowie dem Verleger Harald Müller, der Lektorin Anja Krauß, den beiden Übersetzerinnen Hannah Tame und Lilian Astrid Geese, dem Korrektor Nigel Tame und der Grafikerin Sibyll Wahrig vom Verlag Theater der Zeit für die Betreuung der Publikation.

Im Besonderen danken wir dem gesamten Team des Tanzquartier Wien, für das wir stellvertretend die Herausgeberschaft übernommen haben: Eva Baumgartner, Angela Bedekovic, Jelica Ćerimović, Heinrich Eder, Daniela Fohn, Hannes Fürst, Laura Gebetsroither, Christina Gillinger, Martina Hochmuth, Barbara Hochreiter, Doris Jauschowetz, Ulrike Kuner, Marlene Leberer, Ulrike Lintschinger, Sabine Malicha, Carina Netzer, Doris Neubauer, Martin Obermayr, Marlies Pillhofer, Ela Piplits, Klaus Rink, Marlene Ropac, Katrin Roschangar, Bettina Schüle, Gorica Stanković, Reinhard Strobl, Alexander Wanko (feste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses in der Saison 2008/09); sowie Elisabeth Bernroitner, Arne Forke, Nils Jürgenssen, Nathalie Koger, Isabella Kresse, Stephanie Leonhardt, Bernhard Seyringer und Anne Zehetner (Projektleiterinnen und -leiter der Saison 2008/09).

Krassimira Kruschkova und Sigrid Gareis

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