Theater der Zeit

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Das Versprechen

Mehr sein als eine Stadthalle – Wie sich das Theater Brandenburg nach etlichen Abwicklungsrunden unter der neuen künstlerischen Leiterin Katja Lebelt wieder ins Spiel bringen will

von Lena Schneider

Erschienen in: Theater der Zeit: Peter Kurth: Die Verwandlung (09/2016)

Assoziationen: Brandenburg Brandenburger Theater

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Spaziert man im Sommer 2016 über die Einkaufsmeile in Brandenburg an der Havel und fragt auf gut Glück eine ältere Dame nach ihrem Theater, geschieht etwas Erstaunliches. Aber ja, sagt sie, sie kenne doch ihr Theater. Da hatten wir unsere Stars, Musiktheater zum Schwelgen! Dann wird sich herausstellen, dass sie vom Hoftheater in der Blumenstraße spricht. Es wurde 1944 ausgebombt. Und in jüngerer Zeit? Natürlich geht sie ins Theater, sagt die Dame. Einmal im Jahr, in die Berliner Oper.

Wie schreibt man über das Theater einer Stadt, die Theater nur dem Namen nach hat? Theater findet in Brandenburg, 50 Kilometer westlich von Potsdam gelegen, jenseits des Gastspielbetriebs fast nur in der Erinnerung statt. Als Brandenburg noch Industriestandort und Theater noch gefährlich war, erhielt zum Beispiel Frank Castorf hier seinen Ritterschlag als Regisseur: das erste Verbot. „Golden fließt der Stahl“ wurde einmal gespielt und dann abgesetzt. Brandenburg beschied ihm darauf das Glück einer Kündigung und sorgte so dafür, dass er nach Anklam kam, um dort Theatergeschichte zu schreiben. 1979 war das.

Damals eignete sich das Theater in Brandenburg noch als Sprungschanze. Man spielte in drei Sparten, Karten für das begehrte „Nachtprogramm“ konnte man hochwertig auf dem Tauschmarkt umsetzen. „Solo Sunny“ Renate Krößner war Ensemblemitglied. Wer ahnte schon, dass es 20 Jahre später kein Schauspiel, kein Musiktheater, kein Ballett mehr hier geben würde? 1996 wurde das Theater eine GmbH, 1999 wurden die Sparten abgewickelt. Das Land Brandenburg hatte nur noch Geld für ein Dreispartenhaus und entschied sich für Cottbus. Potsdam sollte für Schauspiel sorgen, Frankfurt an der Oder für Musik und Brandenburg an der Havel für Musiktheater. So wollte es der Theaterverbund. Die Realität sah anders aus. Das skelettierte Brandenburger Theater war überfordert: Bald musste das Musiktheater aus Cottbus geliefert werden. Die Brandenburger Symphoniker spielten Konzerte und Opern in Rheinsberg und reisten ansonsten durch die Welt.

Brandenburger Ironien: Heute gibt es hier zwar kein Schauspiel mehr – dafür aber seit 2000 ein neues Theaterhaus. Cultur-CongressCentrum heißt es vorsichtshalber. Ausgestattet mit drei Spielstätten, 50 Musikern, 35 Technikern, Mitarbeitern in der Verwaltung – und zunächst noch sechs unkündbaren Schauspielern. 2010 machte das Haus von sich reden, weil Intendant Christian Kneisel Rolf Hochhuth für eine Uraufführung gewann: „McKinsey kommt“. Die Presse kam, es gab Lärm und Gerangel im Vorfeld – aber die Brandenburger gewann man so nicht. Das Theater hatte sein Schauspiel schon verloren, jetzt verlor es seine Stadt. Was vom Theater durch die Jahre hinweg blieb, war der Name: Brandenburger Theater. Das klang nach Spielplan und Identifikationspotenzial. Ein Versprechen.

Mit dem Sommer 2016 wurde auch die letzte Schauspielerin in den Ruhestand verabschiedet, Christiane Ziehl. Sie leitete seit 2001 erfolgreich das Jugendtheater – ein kleiner Leuchtturm im theaterverarmten Brandenburg. Dem Brandenburger Theatersommer besorgte Ziehl in diesem Jahr sein Highlight: Fühmanns „Sommernachtstraum“, spielerisch gelesen im Waldgarten Rietzer Berg. Kollegen aus Cottbus lasen mit, Vereinsmitglieder des Waldgartens streunten als Elfen durchs hohe Gras, und Ziehl gab mit triumphaler Spielfreude Puck und Hermia im Wechsel. Brandenburger Improvisationen at their best. Danach sitzt Christiane Ziehl auf einer Gartenbank und spricht über 30 Jahre Brandenburger Theater. Über die Arbeiterstadt und deren Operettenliebe, über das bittere Jahr 1999, darüber, dass die Rollennot auch ihr Gutes gehabt habe, denn so kam sie zur Regie. Und dann sagt sie diesen Satz, der einem nicht aus dem Kopf gehen wird: „Totgesagte leben länger.“

So kann man Brandenburgs Theatergeschichte erzählen: als Abgesang. Das wäre nicht falsch, aber auch nicht alles. Wer heute durch Brandenburgs Innenstadt spaziert, dem kann auch Folgendes passieren: Vor dem ehemaligen C&A, ein leer stehendes, Graffiti-besprühtes Gebäude, hat sich eine Gruppe Jugendlicher aufgebaut. Sie formieren sich, nehmen Haltung an, als wären sie auf einer großen Bühne. Sie werfen den Gettoblaster an und tanzen los. Starke Rhythmen, sichere Bewegungen, strahlendes Lächeln. Eine Kamera filmt. Broadway, mitten in der Mittagshitze von Brandenburg an der Havel! Eine alte Frau an der Straßenbahnhaltestelle gegenüber bleibt stehen, staunt, klatscht zum Rhythmus in die Hände. Als die Gruppe fertig ist, schultern sie den Gettoblaster und ziehen weiter.

Auch das ist Brandenburger Theater. Der Auftritt ist Teil von „Deine irre Leere“, einem Langzeitprojekt des Regisseurs Wolfram Scheller, in dem es darum geht, Leerstand in der Stadt zu thematisieren. Wir sind da, sagt das Theater damit. Wir sind wieder da! Für die beginnende Spielzeit wurden sieben Eigenproduktionen angekündigt. Die Frau, die hinter diesem Ehrgeiz steht, heißt Katja Lebelt. Seit Anfang 2016 ist sie künstlerische Leiterin am Haus, und dies ist die erste Spielzeit, die sie gestalten konnte. Zwei Jahre lang war das Theater von dem Geschäftsführer Jörg Heyne zuvor im Alleingang geführt worden, nachdem er Christian Kneisel 2013 entlassen hatte, ohne für einen Nachfolger zu sorgen. „Dieses Theater ist systematisch an die Wand gefahren worden, ohne Plan und Verstand. Wir wollen Plan und Verstand hier wieder hineinbringen“, sagt Katja Lebelt. Sie will das Versprechen im Namen des Theaters Brandenburg einlösen.

Jedoch: Im Frühsommer 2016 waren – nicht zum ersten Mal – Insolvenzunkenrufe aus Brandenburg zu hören. Im Juli setzte die Stadt Geschäftsführer Heyne mit Klaus Deschner über Nacht einen Vorsitzenden vor die Nase, der das zu Rettende nun retten soll. „Es wird eine Spielzeit im Blindflug“, sagt der Neue in seinem Büro, das er vor zwei Tagen bezogen hat. Blindflug? „Was im Spielzeitprogramm steht, ist das Ziel. Wir können nicht garantieren, dass es so auch stattfinden wird.“ Für Klaus Deschner und Katja Lebelt keine leichte Diagnose. Aber sie wollen nichts schönreden – und gleichzeitig Kritikern keine Vorlage für eine Theaterschließung geben. Problematisch dabei: Die Orchesterchefin, die Controllerin – im vergangenen halben Jahr haben alle, die am Haus über Ein- und Ausgang der Gelder Bescheid wussten, das sinkende Schiff verlassen. Ebenfalls problematisch: Anfang 2017 läuft der Haustarifvertrag mit den Brandenburger Symphonikern, diesem bislang einzigen Aushängeschild des Theaters, aus. Die Musiker streiten um eine Tariferhöhung – nur reichen die sieben Millionen Etat nicht aus, um alles zu bieten: ein Theater, das seinen Namen verdient, und angemessene Bezahlung für die Musiker. Aber Deschner ist kein Jammerer. Er will aufräumen. Natürlich sollen die Musiker bleiben. Nur nicht um jeden Preis. Ein neuer Haustarifvertrag muss her. Ein Finanzplan muss her. Das Künstlerische ist Frau Lebelts Sache. „Da mische ich mich nicht rein.“

Die Kunstzuständige sagt: „Wir müssen erst mal etwas liefern, bevor wir mehr Geld verlangen können.“ Und liefern möchte sie: wieder mehr Musiktheater, das Jugendtheater ausbauen, eine Bürgerbühne schaffen, Musicals selber entwickeln – mehr in die Stadt gehen. Die Stadt wiedergewinnen. Mehr sein als Stadthalle. Was sie nicht möchte: ein festes Ensemble. Stattdessen will sie freies Arbeiten und vorhandene Strukturen zusammenführen: „Für mich eine durchaus zukunftsweisende Form städtischen Theaters – projekthaftes Arbeiten mit einem festen Stamm an Mitarbeitern und Gästen.“ Wenn das gelingt, dann könnte hier tatsächlich eine neue Form des Stadttheaters entstehen. Eins, das sich nicht über sein Ensemble an die Stadt binden will, sondern über sein Programm. Und über sein Musiktheater, wie anno dazumal in der Blumenstraße. Klaus Deschner lacht, wenn Katja Lebelt so träumt. Ängstlich? „Ach was.“ Nur: Man werde sich ab und zu bescheiden müssen.

Brandenburger Ironien. Es gibt jetzt einen Schulterschluss zwischen Geschäftsführung und künstlerischer Leitung in Brandenburg an der Havel. Es gibt jetzt einen Plan. Nur die Sicherheit über den Etat gibt es nicht. So ähnlich könnte das schon 1817 gewesen sein, als das Stadttheater in Brandenburg bald nach seiner Gründung finanziell ins Schleudern kam. „Alles bleibt, alles anders“, lautet der Leitspruch für die neue Spielzeit. Ein Versprechen. //

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