Theater der Zeit

Zur Frage

von Bernd Stegemann und Nicole Gronemeyer

Erschienen in: Lob des Realismus – Die Debatte (09/2017)

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Seit das „Lob des Realismus“ von Bernd Stegemann im Jahr 2015 den Versuch unternommen hat, an die folgenreichen Debatten um die realistischen Künste anzuknüpfen und sie für die Gegenwart fruchtbar zu machen, sind in der Zeitschrift Theater der Zeit mehr als ein Dutzend Beiträge hierzu erschienen. Künstlerinnen und Künstler, Theoretikerinnen und Theoretiker von internationalem Rang und aus den unterschiedlichsten Disziplinen haben Position bezogen und versucht, die Diskussion um einen neuen Realismus für unsere Zeit zu führen. Grund genug, diese wertvollen Beiträge in Buchform zugänglich zu machen und um weitere Statements zu ergänzen.

Alle Beiträge sind in einem Punkt einig: Ihr Verständnis davon, was Realismus bedeutet, bezieht sich nicht auf eine Erkenntnis der Welt „ohne uns“, sondern ringt um eine Haltung zur Welt, in der sich die Widersprüche wieder zuspitzen. Diese Widersprüche hat Wolfgang Streeck in seinem Text klar für unsere Gegenwart analysiert, die er in Anlehnung an Gramsci als Interregnum bezeichnet: eine Zeit von unbestimmter Dauer, in der eine alte Ordnung schon zerbrochen ist, eine neue aber noch nicht entstehen kann, eine Zeit voller Verwerfungen und Unsicherheiten, in der alte Lösungen nicht mehr greifen und neue noch nicht gefunden sind. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Realismus steht also die Frage, wie die Kunst diese Widersprüche erkennbar machen und mit welchen ästhetischen Mitteln sie sie ins Werk setzen kann.

So gilt für die meisten der Beiträgerinnen und Beiträger der Realismus Bertolt Brechts als Wegmarke. Sein episches Theater zielte darauf, die Wirklichkeit nicht zu bestätigen, sondern dagegen zu protestieren. Und seine realistische Methode wollte die verborgenen gesellschaftlichen Widersprüche mittels der Verfremdung sichtbar werden lassen. Im Verlauf der jüngeren Theatergeschichte haben sich die Verfremdungsmittel von der ihnen zugeschriebenen Rolle entfernt und beanspruchen immer mehr eine ästhetische Autonomie, in der die Eigenrealität des sinnlichen Ereignisses auf der Bühne in den Vordergrund treten soll. So wurden die Mittel der Verfremdung von einem Instrument dialektischen Denkens zu Mitteln der Dekonstruktion umgebaut. Deren Bescheidenheit, angesichts einer komplexen Wirklichkeit die Unmöglichkeit von Repräsentation zu thematisieren, ist jedoch inzwischen zu einer Herrschaftsgeste geronnen. Alain Badiou brachte die politische Tendenz einer solchen Kunst in einem Interview auf den Punkt: „Ich misstraue dieser Richtung. In diesem Fall zöge das Theater aus der Betrachtung der Welt, wie sie ist, die Schlussfolgerung, es müsse der Welt entsprechen. Darin besteht die gesamte Idee des postdramatischen Theaters, des Theaters, das selbst potenziell zu einer Zirkulation von Gegenständen und Zeichen wird, oder von Körpern und Zeichen, allerdings von in ihren leidenschaftlichen oder zerrissenen, aber gleichzeitig hoffnungs- und ausweglosen Beziehungen beinahe objektivierten Körpern. Wenn das Theater sich nur zum Spiegel der Logik des Fehlens einer Welt macht, betrachte ich es, selbst wenn es sich für avantgardistisch hält, als konservatives Theater. Es ist eine Konzeption des Theaters als Ende des Theaters. Es ist ein Theater, das seine eigene repräsentative Unmöglichkeit in einer Welt darstellt, die es nicht mehr erlaubt, dargestellt zu werden. Und das ist meiner Meinung nach ein nihilistisches Theater. Ein Theater, das in einem neuen Sinn weiterhin lebendiges und dramatisches Theater ist, ist ein Theater, das den Widerspruch zwischen dem Fehlen einer Welt und dem Wunsch nach einer Welt zur Schau trägt. Das Theater ist ein aktives Prinzip.“1

Sich heute die Frage nach dem Realismus zu stellen, führt demnach ins Zentrum einer Kritik der Postmoderne. Denn es mehren sich die Anzeichen, dass sich die Dekonstruktion von sprachlichen und sozialen Zuschreibungen immer weiter von ihrem emanzipatorischen Anspruch entfernt und in ihr Gegenteil verkehrt hat. In Zeiten von alternativen Fakten und Internettribunalen hat die Dekonstruktion immer öfter den Effekt, dass angesichts einer zersplitterten Realität nicht mehr zu erkennen ist, wer tatsächlich in ihr profitiert. Es ist also an der Zeit, den kollektiven Individualismus als „große Erzählung“ eines enthemmten Neoliberalismus zu begreifen, von dem nur wenige profitieren und der ein unfassbares Ausmaß an globaler Ausbeutung und Zerstörung produziert hat. Oder wie Milo Rau sagte: „Denn das ist für mich die einzige Weise, realistische Kunst zu schaffen: wirklich einzugreifen ins Getriebe der Welt, ins Getriebe der Geschichte. Trotz der ganzen beschissenen Zweideutigkeit jeder Position.“

Wir möchten allen Autorinnen und Autoren und allen Gesprächspartnern für ihre klugen Diagnosen danken und wir danken dem Verlag Theater der Zeit, dass er einer solchen Debatte den Raum gegeben hat, den sie in unserer Zeit nicht selbstverständlich erwarten durfte.

Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann
Berlin, September 2017

1 Alain Badiou im Gespräch mit Florian Borchmeyer im Spielzeitheft der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 2015.

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