Theater der Zeit

Bericht

Die (menschliche) Natur im Fokus

Von überraschenden Begegnungen und ungewöhnlichen Allianzen

von Christina Röfer

Erschienen in: double 40: Good Vibrations! – Resonanzen im Figurentheater (11/2019)

Assoziationen: Performance

Anzeige

Anzeige

Unser Verhältnis zur Natur ist widersprüchlich: Fast täglich zeugen Berichte über Artensterben, Umweltkatastrophen, kapitalistisch motivierte Ausbeutung von Ressourcen oder die all das umfassende Klimakrise vom rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Erde. Gleichzeitig legen wir Wert auf gesunde Ernährung, Tierschutz oder Outdoor-Aktivitäten und beschreiben das Leben im Einklang mit der Natur nur zu gern als Idealzustand. Die drei hier beleuchteten Performances thematisieren diese komplizierte Beziehung auf sehr unterschiedliche Weise – und stellen unsere Perspektive auf die Natur infrage.

Natur erleben

Im Rahmen der vierten Ausgabe des Theaterfestivals FRATZ International zeigen Angela Schubot und Jared Gradinger mit „YEW:kids“ (dt. Eibe) eine ungewöhnliche Performance für Menschen ab drei Jahren im Botanischen Volkspark Pankow. Als Expeditionsgruppe starten wir einen gut 40-minütigen Spaziergang durch Feld, Wald und Wiesen und werden dabei, so hören wir gleich zu Beginn, „auf Wesen treffen, die vielleicht kein Gesicht oder kein Vorne haben.“ 

Doch zunächst probieren wir die saftigen Blätter des Sauerampfers und hören, wie die Pflanze klingt: Mit einer App wandelt der Sounddesigner Stefan Rusconi deren Impulse in helle Laute um. Die Naturist zutiefst lebendig und auch das erwachsene Publikum tritt neugierig mit ihr in Kontakt. Zwar erwische ich mich dabei, über im Gras lauernde Zecken nachzudenken und zögere, als ich mich auf den Boden legen und die dort wachsenden Halme besingen soll. Doch genau da setzt die Performance an: Denn indem die Künstler*innen sinnliche Erfahrungen anleiten – wenn ich schließlich meine Hand „einpflanze“, spüre ich die kühle Erde an den Fingern und rieche den würzigen Duft der Gräser –, bringen sie unsere an rationalen Parametern orientierte alltägliche Weltanschauung in Schwingung und schärfen, wenn wir uns darauf einlassen, die Aufmerksamkeit für unmittelbar körperliche Verbindungen mit der Umwelt.

Resonanzen erzeugen und Grenzen aufheben: Schubot und der für den erkrankten Gradinger eingesprungenen Lea Kieffer gelingt dies eindrücklich, wenn sie ineinander verschlungen und animalische Laute von sich gebend durchs Gras rollen und so zu einem Wesen verschmelzen, das der Welt entrückt und zugleich tief mit ihr verbunden scheint. Und auch die beiden nackten Körperrückseiten, die sich während des Spaziergangs plötzlich im Kopfstand aus dem Waldboden emporrecken, fügen sich erstaunlich organisch in ihre Umgebung ein.

Die Natur als Zeug*in und Spiegel

„Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, ich spiele eine Ziege.“, erklärt Khalifa Natour zwischen schmatzenden Kaubewegungen, nachdem er ein ums andere Mal die vom Band abgespielten deutschen Floskeln wie „Guten Abend“ oder „Entschuldigung“ auf Arabisch wiederholt (um nicht zu sagen wiedergekäut) hat. In „The Bees‘ Road“, das bei der diesjährigen Ruhrtriennale zu sehen war, erzählt der Theater- und Filmschauspieler unter der Regie der israelischen Theatermacherin Ofira Henig Geschichten von Flucht und Migration und nimmt dabei ungewöhnliche Perspektiven ein: Tieren und Pflanzen, denen die Menschen auf ihren beschwerlichen Reiserouten begegnen, verleiht er eine Stimme und lässt die stummen Zeug*innen zu kommentierenden Miterlebenden werden, die teils einfühlsam, teils entnervt auf die Menschenströme reagieren – wie etwa der Baum, der eine schutzsuchende Person anherrscht, sie solle sich woanders ausruhen. Die Umwelt mag nach monatelanger Flucht unter widrigsten Bedingungen abweisend erscheinen. Ebenso kommen die stets aktuellen Bilder überfüllter, wegen nicht erteilter Landeerlaubnis in Küstengewässern ausharrender Rettungsboote auf dem Mittelmeer in den Sinn ...

Einzelsituationen werden zu einer assoziativen Collage verdichtet, die durch wechselnde Erzählweisen und -ebenen besticht. Beeindruckend etwa, wie Natour sich den Lebewesen körperlich annähert: Mal springt er als ausgelassen um sich tretendes Kalb umher, dann erinnern seine hektisch flatternden Hände und die schnell gehaspelten Worte an die scheinbar unermüdlichen titelgebenden Bienen. Die selbstverständliche Mehrsprachigkeit des Stücks unterstreicht dabei das Ringen um Verständigung in einer permanenten (Neu)Verhandlung diverser Perspektiven. Wie dies wiederum den Blick auf das Eigene verschiebt, zeigt Natour, wenn er aus einem Ratgeber für Geflüchtete vorliest, der die gesellschaftlichen Gepflogenheiten der Deutschen zu vermitteln versucht, und diese dabei mitunter höchst absurd erscheinen.

Dass die Erkenntnis über die globalen Auswirkungen unseres Handelns konsequenterweise mit einer Infragestellung der menschlichen Vormachtstellung in der Welt einhergehen muss, ist nicht neu, sollte aber – etwa mit Blick auf die Klimakrise – gerade jetzt wieder betont werden.

Politische Teilhabe

Club Real treiben dies, wenn sie in „Jenseits der Natur – Volksherrschaft im Garten“ ein auf Grundlage der Allgemeinen Organismenrechte arbeitendes Parlament der Organismen etablieren, auf die Spitze, indem sie den Fokus von der menschlichen Kontrolle hin zur politischen Teilhabe (bzw. Herrschaft) der Natur verlagern. Beim Impulse Theater Festival bauten sie in der Düsseldorfer Brause eine Installation, die das ursprünglich in Wien und aktuell in Berlin laufende Projekt, das auf einem abgesteckten Bodengebiet zunächst eine Volkszählung aller darin lebenden Organismen durch- und dann eine repräsentative Demokratie einführt, dokumentiert.

Politik wird dabei als strukturgebende Instanz verstanden, die es den Organismen ermöglicht, sich in einer Gemeinschaft zu organisieren und dem Menschen auf Augenhöhe gegenüberzutreten – zumindest in der Theorie. Denn um tatsächlich von uns gehört zu werden, braucht es wiederum menschliche Stellvertreter*innen, die an ihrer statt zusammenkommen und die Anliegen und Konflikte von Weinbergschnecke, Kanadischer Goldrute oder dem Wurzelknöllchenbakterium im Ringen um ein friedliches, gleichberechtigtes Miteinander aushandeln. Herrlich skurril und doch bisweilen bitterernst wirken die über Audio- und Videoaufnahmen nachvollziehbaren Parlamentsdebatten, etwa über eine Klage der Gräser wegen systematischer Diskriminierung oder den Antrag auf die Versetzung eines Busches, der andere Pflanzen aufgrund seiner wuchernden Dominanz in ihrem Wachstum hindert.

So gibt das Projekt nicht nur Aufschluss über moralisch-ethische Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens und die Mechanismen von Demokratie: Das Hineindenken in die Lage der jeweiligen Organismen fördert auf lustvolle Art auch das Verständnis für die Bedürfnisse anderer Lebewesen und stellt die Selbstverständlichkeit ihrer Vereinnahmung durch den Menschen radikal infrage.

Wie wäre es wohl wirklich, wenn bisher nicht gehörte Lebewesen die Macht übernehmen und selbst entscheiden könnten, wann sie ihre Freiheit beschränkt sehen? Darüber denke ich nach, während ich in einem autoritären Akt meine Balkonpflanzen zurückschneide. – www.angelaschubot.comwww.ofirahenig.comwww.clubreal.de

1 Eine differenzierte Diskussion des Naturbegriffs kann hier nicht erfolgen. Vielmehr ist in diesem Artikel alltagssprachlich die uns umgebende Flora und Fauna gemeint.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"