Zukünftige Arbeitsweisen und Infrastrukturen: Machtkritik und Nachhaltigkeit in der Theaterpraxis
Ein Gespräch zwischen Sandra Umathum, Noa Winter, Julia Wissert, Matthias Pees und Julian Warner
von Sandra Umathum, Noa Winter, Julia Wissert, Matthias Pees und Julian Warner
Erschienen in: Recherchen 165: #CoronaTheater – Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie (08/2022)
Assoziationen: Wissenschaft
Sandra Umathum: Ich begrüße alle herzlich in dieser Runde, in der wir über die Zukunft von Arbeitsweisen und Infrastrukturen in der Kulturlandschaft sprechen wollen. Corona hat dem Theater eine Zwangspause verschafft, die viele als Potenzial für Veränderungen in der Zukunft betrachten. Im Blick auf die Frage »Wie geht es weiter?« interessiert mich allerdings weniger die pandemiebedingte Veränderung des Theaters als vielmehr die generelle Infragestellung eines Status quo, mit dem wir uns auch schon vor der Pandemie kritisch auseinandergesetzt haben. »Arbeitsweisen und Infrastrukturen« meinen dabei nicht allein die institutionellen Abläufe zur Realisierung des Spielbetriebs, sondern alle Voraussetzungen der Zusammenarbeit am Theater, etwa auch die Vor- und Fürsorge für die menschlichen Körper, die dort miteinander zu tun haben. So setzt Theaterarbeit in der Regel ein bestimmtes Körperbild voraus – Körper, die dem Leistungsprinzip entsprechen und dieses in der Theaterarbeit zugleich reproduzieren. Es werden also leistungsfähige und nicht behinderte Körper als gegeben angenommen, was wiederum bedeutet, dass die Infrastrukturen am Theater Körper exkludieren, die diesen Normen nicht entsprechen. An dieser Stelle setzt Noa Winters Arbeit an, mit der ich dieses Gespräch beginnen möchte. Noa, du arbeitest als Koordinator*in des Projekts Making a difference, das sich für die Förderung behinderter und tauber Tanzschaffender in Berlin einsetzt und an die Sophiensaele Berlin angegliedert ist. Was verbindest du mit dem Begriff »Infrastruktur«?
Noa Winter: »Infrastruktur« ist in diesem Zusammenhang ein aufschlussreiches Wort, denn es enthält bereits die »Struktur« und damit Fragen der strukturellen In- und Exklusion. Wenn über Teilhabe gesprochen wird, wird oft das Bild bemüht, alle müssten an einem gemeinsamen Tisch zusammenkommen. Und dieses Bild zeigt für mich als behinderte und chronisch kranke Person bereits eine grundlegende Problematik auf, da für mich der Tisch ein Inbegriff von nicht vorhandener Barrierefreiheit ist. Es wird davon ausgegangen, man könnte alle Körper in einem einzigen Akt der Zusammenarbeit beteiligen, ohne grundsätzlich darüber nachzudenken, was dafür eigentlich getan werden und was sich grundlegend an der Arbeitspraxis ändern muss. Behinderte Menschen müssen weiterhin zusätzliche Arbeit leisten, um partizipieren zu können und sich damit doch immer gegebenen Strukturen unterordnen. Inklusion bedeutet folglich, dass diese Strukturen grundsätzlich verändert werden müssen. Strukturelle Veränderung muss auch am Theater und in der Kulturlandschaft allgemein eine Vielfalt von Arbeitsweisen zulassen, ohne dass diese nach ihrer vermeintlichen (Un-)Professionalität hierarchisiert werden, wie etwa die räumliche Situierung oder die Form der Kommunikation. Um hier ein Beispiel zu nennen: In der Hierarchie von Kommunikationsweisen steht die Schrift über der Lautsprache und die Lautsprache wiederum weit über der Gebärdensprache. Am Theater sind aber gerade lange Produktions-E-Mails eher gängig als Sprachnachrichten, obwohl Sprachnachrichten für viele Menschen viel barriereärmer sind. Solche Kommunikationsprozesse müssen grundsätzlich hinterfragt werden. In der Infrastruktur muss dann auch Zeit dafür eingeplant werden, dass Kommunikation länger dauern kann, als wir es gewöhnt sind.
Sandra Umathum: In deiner Arbeitspraxis widmest du dich der Veränderung solcher Strukturen und benutzt dafür den Begriff des anti-ableistischen Kuratierens. Was verstehst du darunter?
Noa Winter: Ableismus meint die Normierungen des Körpers, sowohl seiner physischen, psychischen und intellektuellen Leistungsfähigkeit, die in unserer Gesellschaft als grundlegende Norm existieren und auch das Theater und die Theaterarbeit strukturieren. Unter Kuratieren verstehe ich das Organisieren und Entscheidungen von Arbeitsund Veranstaltungsprozessen, wie Zeitpläne oder Kommunikationsgestaltung, und der anti-ableistische Ansatz fragt darin, welche Ebenen und Abläufe dabei normativ strukturiert sind, und wie wir dagegenhandeln und sie nicht-normativ gestalten können. Dabei können auch ganz neue Konventionen des Theaters entstehen, etwas das inzwischen für uns an den Sophiensaelen selbstverständliche »Early Boarding«, bei dem Theaterbesucher*innen mit Behinderung oder auch Ängsten die Möglichkeit haben, bereits vor dem Großteil des Publikums den Saal zu betreten und ihren Platz aufzusuchen. Auf diese Weise wird der Einlass barriereärmer gestaltet.
Sandra Umathum: Julia, du bist bei deiner Übernahme der Intendanz am Schauspiel Dortmund mit einer dezidiert machtkritischen Programmatik angetreten, die bestehende Hierarchien reflektieren will. Inwiefern hat deine Arbeit mit dem Wandel von Arbeitsweisen und Infrastrukturen zu tun?
Julia Wissert: Es hat sehr viel damit zu tun, obwohl ein Stadttheater wie in Dortmund natürlich vollkommen andere Voraussetzungen hat als ein Ort der Freien Szene wie die Berliner Sophiensaele. Meine Bewerbung, mit der ich angetreten bin, ging zunächst einmal von der Frage aus, wie man ein Stadttheater mit der Stadt verbinden kann, in der es stattfindet. Es ging uns also nicht nur um eine möglichst »diverse« Besetzung in den Ensembles, sondern zugleich darum, sich mit den Schauspieler*innen, die Interesse an einer machtkritischen Arbeit haben, auf die Suche danach zu machen, was wir verändern möchten.
Sandra Umathum: Und was möchtet ihr verändern?
Julia Wissert: Ich glaube, wenn ich meine Anstrengungen in einem Satz zusammenfassen soll, ist unsere Arbeit der Versuch, Macht permanent zu dekonstruieren und gleichzeitig Ängste abzubauen. Das ist wahnsinnig komplex, denn wir treffen alle mit bereits gemachten körperlichen und strukturellen Erfahrungen aufeinander. Das fängt bei meiner eigenen Stelle an. Bereits der Titel der Intendanz ist problematisch, weil er aus dem kolonialen Kontext kommt. Ich wünsche mir aber, dass wir nicht nur die Rolle von Intendant*innen diskutieren, sondern den Komplex ›Macht‹ an sich. Macht muss nicht als etwas Schlechtes und zwangsläufig Abzulehnendes betrachtet werden. Vielmehr muss Macht mit Verantwortung verbunden werden. Teilhabe und Mitsprache müssen auch immer mit einer Übernahme von Verantwortung einhergehen, bevor man Gestaltungsprozesse aushandeln kann. Aus dieser Dekonstruktion von Macht und der Bearbeitung der damit verbundenen Unsicherheit versuchen wir dann, etwas Neues zu konstruieren.
Sandra Umathum: Aber wie entsteht dieses Neue? Mich würde hier genauer interessieren: Welche konkreten Maßnahmen ergreift ihr, um Machtstrukturen nicht nur zu reflektieren, sondern auch zu transformieren?
Julia Wissert: Der erste Aufschlag war es, mich gemeinsam mit der leitenden Dramaturgin Sabine Reich schon vor meinem Antritt in Dortmund vorzustellen. Ich war auf Vereinsveranstaltungen und bei Premieren, habe soziokulturelle Zentren besucht und Quartiersmanager*innen kennengerlernt. Es ging darum, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die bereits in Dortmund arbeiten. Das ging sogar so weit, dass ich mit Amtsleiter*innen auf Geburtstagspartys stand und diskutiert habe. Dabei konnte es zu seltsam aneignenden Situationen kommen, weil dabei immer wieder meine Person in den Mittelpunkt einer großen Verwunderung gerückt wurde, mein Kleidungsstil, meine eigene Schwarze Positionierung, die Tatsache, dass ich unter Kultur nicht nur Hochkultur verstehe. Ich versuche, mobil und vor Ort im Theater für einen persönlichen Austausch erreichbar zu sein. Wir versuchen also, möglichst Angelegenheiten im direkten Dialog zu besprechen, es sei denn, jemand möchte nicht unmittelbar – beispielweise wegen des Titels Intendantin – mit mir sprechen. Dafür haben wir dann Ensemblesprecher*innen und Vertrauenspersonen. Es gibt auch eine WhatsApp-Gruppe, in der ich drin bin, aber eben auch eine, in der ich nicht bin.
Sandra Umathum: Und wie gestalten sich machtkritische Kommunikationsprozesse am Haus im Fall von künstlerischen oder personalen Entscheidungsfindungen?
Julia Wissert: Eine Überlegung von uns setzt genau dort an: Als Intendantin habe ich ja das Recht, Verträge nach ihrem Ablauf nicht weiter verlängern zu müssen. Uns stellte sich die Frage, wie man einen solchen Prozess der Nicht-Verlängerung transparenter gestalten kann, sodass es eine gegenseitige Entscheidung sein könnte. Ich versuche, mich mit dem Ensemble einmal im Jahr zum einem Feedbackgespräch zu treffen, bei dem nach Wunsch auch die Personalvertretung anwesend sein kann. Das ist vor allem als ein Gespräch gedacht, in dem wir den jetzigen Stand festhalten: wie es gerade professionell läuft, wie Produktionen funktionieren, wie die Person sich selbst entwickeln möchte und wie wir das als Haus unterstützen können. Dabei gibt es auch die Möglichkeit zum upward feedback, also zu einer Rückmeldung an mich, was funktioniert und was nicht. Und seit einem halben Jahr planen wir zudem eine open space-Konferenz für das Haus, bei der alle Mitarbeiter*innen zusammenkommen und über Themen sprechen, die von der künstlerischen Leitung bearbeitet werden sollen. Dabei soll auch darüber gesprochen werden, was in der Verantwortung der Mitarbeiter*innen und was in meiner Verantwortung liegt. Die Konferenz soll ein offener Prozess sein und für alle Möglichkeiten bieten, sich zu äußern. Diesen Dialog muss man auch mit Interessensgruppen von außerhalb führen, um Feedback darüber zu bekommen, was nicht funktioniert oder geändert werden muss. Bei meinem Antritt habe ich mich übrigens auch mit dem Behindertenrat in Dortmund getroffen – denn egal, wie wir es drehen und wenden, die Architektur des Hauses ist nicht barrierefrei, weil während des Baus nie darüber nachgedacht wurde, sodass wir nicht einmal Rollstuhl-Plätze haben. Das ist wahnsinnig frustrierend und ich muss in diesem Prozess wirklich die Karten auf den Tisch legen, um Unterstützung bitten und fragen: Wie kann so etwas umgestaltet werden?
Sandra Umathum: Vielleicht ist es gut, an dieser Stelle Matthias Pees ins Gespräch einzubinden, der ebenfalls Intendant ist, allerdings an einer wichtigen Spielstätten der Freien Szene, am Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt. Matthias, wie schätzt du die Arbeit an Macht- und Infrastrukturen am Theater ein?
Matthias Pees: Die Produktionshäuser der Freien Szene wie z. B. bei uns am Frankfurter Mousonturm haben sich ja ursprünglich aus dem Impuls heraus formiert, ein selbstbestimmteres und von Machtstrukturen befreiteres Modell von Arbeit als Zusammenleben praktizieren zu wollen. Heute profitieren wir von den ökonomischen und kulturpolitischen Strukturen, die damals geschaffen wurden, um aus diesem Ansatz auch staatlich geförderte Institutionen zu schaffen. Diese Entwicklung solcher alternativen Strukturen in der Vergangenheit gibt mir erstmal Hoffnung, dass auch in Zukunft neue Möglichkeiten des Wandels entstehen.
Sandra Umathum: Inwiefern?
Matthias Pees: Die Kritik von freien Künstler*innen bezog sich ja damals explizit im marxistischen Sinne auf die Arbeitsteilung. Eine Arbeitsteiligkeit in den darstellenden Künsten führt zum einen zwangsläufig zu einer Ausschnitthaftigkeit der eigenen Arbeit im Gesamtprozess, zum anderen ist sie hierarchieabhängig und dementsprechend nicht machtfrei organisiert. Die Hoffnung, dass die Zusammenarbeit im künstlerischen Prozess Modell für ein utopisches Zusammenleben sein kann, gilt natürlich auch für die Stadt- und Staatstheater. Die Tatsache, mit welchen Aufgabenstellungen, Erwartungshaltungen und Problemen du direkt konfrontiert warst, Julia, legt ja Zeugnis davon ab, dass dieser Wunsch auch in Stadttheatern besteht. Auch in den 1990er Jahren, zu meiner Zeit im Stadttheaterbetrieb, war das bereits Thema. Es gab Versuche, die Reibungslosigkeit und die Effektivität des Arbeitsprozesses in Frage zu stellen und aus dieser Destruktivität entstand eine lustvolle Form der Anarchie. Damals waren andere Strukturen und komplexe historische Erfahrungen kurz nach der Wende der Auslöser. Ich glaube, über solche Mechanismen sind verschiedene Strukturen aufrollbar, nicht nur Freie Produktionshäuser wie der Mousonturm. Und auch der ist natürlich kein Juwel, wenn es z. B. um Barrierefreiheit geht, an der wir gemeinsam mit Expert*innen wie Noa arbeiten. Es gibt jedenfalls nach wie vor wahnsinnig viel zu tun und all diese Fragen nach zukünftigem Wandel sind wiederum mit Machtstrukturen verbunden, da es um die Setzung von Prioritäten geht, und daher geht es immer auch um eine Kritik von Dominanz.
Sandra Umathum: Das ist ein günstiger Moment, um Julian Warner einzubeziehen, der in vielen dekolonialen und antirassistischen Projekten als Performer, Kulturanthropologe und Sänger auf der Bühne gestanden hat, seit einigen Jahren aber auch kuratorisch tätig ist. Julian, bei dem Festival, das du gerade kuratierst, geht es ebenfalls um künftige Infra- und Arbeitsstrukturen, allerdings weniger im Theater als vielmehr in der Industrie.
Julian Warner: Das Festival 2022 der KulturRegion Stuttgart ist eine Kooperation mit den verschiedenen kommunalen Kulturämtern, für deren Kommune jeweils mit meiner Kuration ein lokales Projekt maßgeschneidert wird. Das ist für mich tatsächlich eine ziemlich neue Tätigkeit, die erstmal wenig mit meinen vergangenen Theaterarbeiten und Musikprojekten zu tun hat, gerade weil es diesen spezifischen regionalen Bezug gibt. Ich trete dort auch nicht als der einzige Akteur auf, sondern neben mir als Kurator bringt jede Kommune ihre heterogenen Mittel ein – die Institutionen und Akteur*innen sind vor Ort sehr heterogen und es entsteht eine geteilte Autor*innenschaft. Ziel ist es, auf der einen Seite nach innen hin die regionale Identität zu verhandeln und zu festigen, aber zeitgleich auch einen Marketing-Aspekt mitzudenken, der nach der Präsentation der Region nach außen fragt.
Sandra Umathum: Was zeichnet denn die Region Stuttgart aus?
Julian Warner: Die Region ist bis heute von einem hohen Grad an Industrialisierung und damit einhergehend von Arbeitsmigration geprägt. Aus dieser materiellen Wertschöpfung wird traditionell ein Wohlstandsversprechen abgeleitet, das an Arbeit geknüpft ist. Das spiegelt sich sowohl in der sozialen als auch in der kulturellen Struktur der Region wider, die wiederum momentan einen radikalen Wandel erfährt. Durch Automatisierungs- und Digitalisierungsprozesse in der Industrie werden zunehmend Arbeitsplätze und damit die finanzielle Lebensgrundlage von Arbeiter*innen bedroht. Ein ganzes Milieu droht zu verschwinden.
Julia Wissert: Da möchte ich dich etwas fragen: Glaubst du, dass ein Stadttheater dieselbe Rolle des Gestalters der Transformation in einer Region übernehmen kann, oder sind die Strukturen kommunaler Organisation, in die diese Institutionen verstrickt sind, aus deiner Sicht zu starr, sodass sie keinen größeren gesellschaftlichen Einfluss nehmen können?
Julian Warner: Spannend wird es in meinen Augen gerade dann, wenn man ein kulturelles Angebot erstellt, das in diesen Strukturen sinnvoll und lesbar ist, die es adressiert, z. B. in Industriebetrieben. Die Freie Szene gilt für solche Unterfangen als besser gewappnet als die Stadt- und Staatstheater, weil die Projektkultur dynamischer und flexibler ist. Aber das ist gegebenenfalls nur ein Vorurteil gegenüber dem Stadt- und Staatstheaterbetrieb.
Sandra Umathum: Ich möchte an dieser Stelle noch auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen, der sowohl vor als auch während der Pandemie häufig thematisiert wurde, und das ist die ökologische Nachhaltigkeit von Infrastrukturen. Wie wir wissen, sind Theater und andere Kulturinstitutionen in den seltensten Fällen klimaneutral. Doch angesichts der zunehmenden globalen Erderhitzung wird sich das dringend ändern müssen. Matthias, das Künstlerhaus Mousonturm war im vergangenen Jahr Teil eines Pilotprojekts der Kulturstiftung des Bundes, das 19 Kultureinrichtungen dabei unterstützt hat, ihren eigenen CO2-Fußabdruck zu ermitteln. Welche Rolle spielt die Klimabilanz für die Fragen zukünftiger Arbeits- und Infrastruktur im Theater? Und was sind Ansätze eines klimafreundlichen Produzierens und Präsentierens von Kunst?
Matthias Pees: In Hinsicht auf ökologisches Produzieren gibt es mehrere beachtenswerte Aspekte: Zunächst einmal ist da das Gebäude: Der Mousonturm ist – wie viele Spielorte der Freien Szene – in einem alten Industriegebäude untergebracht, das zwar viel Charme, aber auch ungenügende Klimabilanzen beschert. Dadurch stellen sich zum einen Fragen der Ressourcennutzung im büropraktischen Alltag, zum anderen sind infrastrukturelle Veränderungen notwendig, die mit der Bausubstanz zusammenhängen, wie die mangelhafte Dämmung. Solche grundlegenden Veränderungen lassen sich nur unter großem politischen Druck und entsprechender Finanzierung lösen. Ein zweiter Aspekt ist die internationale Zusammenarbeit der freien Produktionshäuser. Im Gegensatz zur Lokalität der Stadt- und Staatstheater schlagen sich natürlich die vielen Reisen der internationalen Künstler*innen, die bei uns auftreten, in der CO2-Bilanz nieder. Nun könnte man sagen, das muss sofort aufhören. Allerdings spiegelt die Internationalität unserer Arbeit auch eine postkoloniale Dimension der europäischen Kulturproduktion wider. Es ist in meinen Augen auch eine Frage der Gerechtigkeit, unsere Produktionshäuser für Künstler*innen aus dem globalen Süden nicht einfach zu verschließen, um die Probleme der europäischen Ökobilanz zu lösen und diesen Künstler*innen damit zeitgleich Zugang zu unseren Produktionsstrukturen zu verwehren. Drittens spielen noch ganz andere Faktoren für die Erhebung der CO2-Bilanz eine Rolle, wie beispielsweise die Frage, auf welchem Weg unsere Mitarbeiter*innen oder Zuschauer*innen zu uns kommen, ob sie mit der U-Bahn oder mit dem PKW fahren usw. Das alles ist unglaublich komplex und schwierig zu erheben. Wir hatten ein Ökoprofitteam am Haus, das alle Mitarbeiter*innen und ihre Funktionen im Betrieb gleichermaßen einbezogen hat. Es ergibt sich eine Gesamtverantwortung für den Betrieb aus der Erhebung, deren Vorgänge und Ergebnisse kommuniziert werden müssen. Solche Ergebnisse werfen dann verschiedene Fragen auf: Ökologie wird eine Kategorie, die in der Arbeit mitbedacht wird. Sie müssen an die Öffentlichkeit und die Stadt getragen werden, um Sanierungs- und Umbaumaßnahmen für die kommenden Jahre mitzubedenken, die das Haus ökologischer gestalten können. Es stellen sich aber auch Fragen nach den Prioritäten und den Kompensationsmöglichkeiten, sowie danach, wie man die eigene Ökobilanz im Zusammenhang mit den einzelnen Beteiligten errechnet und im Gesamtbild eines Stadt- oder Landkreises verrechnet.
Julian Warner: Die Frage nach der ökologischen Nachhaltigkeit ist in der Tat äußerst komplex. Sie stellt sich natürlich auch in unterschiedlichen Regionen und sozialen Milieus nochmal anders. In der Industrieregion Stuttgart ist mir sehr klar geworden, dass Klasse dort nicht nur Identitätsmarker ist, sondern auch ein Verhältnis zu anderen Komplexen umfasst. Also etwa zur Frage: Wer kann sich Klimaschutz überhaupt leisten und wer nicht? Das sind sehr spannende Konfliktpunkte, an denen ich mit meiner kuratorischen Arbeit ansetze, indem wir überlegen, welche künstlerischen und kulturellen Formate Teil dieses umfassenden Transformationsprozesses sein können.
Sandra Umathum: Wir haben zu diesem Thema eine Frage aus dem Publikum: »Wie seht ihr die Verstrickung von Pandemie und Klimawandel? Ist die Pandemie als Teil der Ausbeutung verschiedener Umwelten nicht auch ein Phänomen, das die Abstraktion des Klimawandels sicht- und fühlbar macht? Und welche künstlerischen Darstellungsmöglichkeiten gibt es da?«
Julia Wissert: Vielleicht zunächst im Anschluss an Matthias: Hier im Ruhrgebiet initiiert die E.ON-Stiftung gerade ein ähnliches Projekt wie die Bundeskulturstiftung am Mousonturm. Es werden Modellhäuser angefragt, ob sie bereit sind, ihren ökologischen Fußabdruck messen zu lassen. Die Ergebnisse sollen gemeinsam gesammelt werden, um zu gucken, wie etwas verändert werden kann. In Bezug auf die Frage nach ökologischer Nachhaltigkeit finde ich aber noch andere Dinge wichtig: Bei uns am Haus thematisieren wir beispielsweise aktuell die Frage nach Wiederverwendbarkeit: Wir laden Bühnen- und Kostümbildner*innen ein, in die Fundi und das Magazin zu gehen, um zu gucken, was dort umgebaut und umgenutzt werden könnte. Denn Nachhaltigkeit betrifft ja auch die Produktion der Gewerke und das ganze Bühnenmaterial. Außerdem versuchen wir, mit Initiativen in der Stadt zusammenzukommen und über Sichtbarmachung des Themas zu sprechen, aber künstlerisch kam es bisher auf der Bühne noch nicht explizit vor.
Sandra Umathum: Eine weitere Frage aus dem Publikum: »Hier sitzen vier progressive und veränderungswillige Positionen« – damit seid ihr gemeint. »Organisationen sind aber in aller Regel träge, vor allem im Stadt- und Staatstheater. Was glaubt ihr, welchen Einfluss die Krise auf die 160 anderen Stadt- und Staatstheater in Deutschland hat, die immer noch den größten Teil der Kulturetats auffressen? Gibt es ein Weiter so der Infrastrukturen, oder ändert diese Krise gerade wirklich etwas?«
Julia Wissert: Ich habe das Gefühl, es gibt einen Grund dafür, warum sich Menschen entscheiden, in einem Stadt- oder Staatstheater zu arbeiten. Ein Argument dafür ist die Absehbarkeit von Abläufen und Berechenbarkeit von Strukturen. Durch die Pandemie werden diese Abläufe aufgelöst, was einen Verlust von jeglicher Struktur und Sicherheit bedeutet. Wir dürfen das nicht als eine Momentaufnahme betrachten, sondern könnten versuchen, an dieser Unberechenbarkeit und Strukturlosigkeit ein Vergnügen zu entwickeln, denn der Widerstand dagegen erschöpft uns wahnsinnig. Gleichzeitig werden durch die Pandemie die Dinge, die vorher nicht funktioniert haben, an die Oberfläche geschwemmt und besprochen, sodass sie danach hoffentlich aufgelöst werden. Natürlich kann im Umgang mit Strukturlosigkeit mehr Kontrolle auch eine Reaktion auf Strukturlosigkeit sein, um so eine scheinbare Sicherheit zu schaffen.
Sandra Umathum: Du meinst, die Krise sei eine besondere Chance des ökologischen Wandels?
Julia Wissert: Für mich ist jedenfalls die zentrale Frage nicht, ob die Krise eine Transformation beschleunigt, sondern wie man darauf reagiert, dass die Strukturen brüchig werden und sich Risse auftun; wo man beginnt, Forderungen zu stellen oder Angebote zu machen. Aus meiner Position heraus ist es schwierig, Dinge zu verändern, wenn ich gar nicht weiß, dass sie Veränderung brauchen. Aber wenn mir etwas zurückgemeldet wird, das nicht funktioniert, kann ich mit der Macht, die mir gegeben wurde, anders reagieren. Ich bin nicht davon überzeugt, immer neue Positionen zu schaffen, sondern glaube, dass die Kolleg*innen, die da sind, ein anderes Basiswissen brauchen, damit Expertise nicht immer mit Identitäten verbunden wird. Es muss klar werden, dass Expert*innenwissen Basiswissen dafür ist, eine respektvolle, konstruktive und kritische Arbeitspraxis auf allen Ebenen zu ermöglichen. Der Anspruch muss sein, dass wir uns alle darauf verabreden, dass bestimmte Parameter nicht unterschritten werden. Das wird nicht von der Krise realisiert, sondern muss von uns umgesetzt werden. Ich denke, nur so kann innovative Kunst entstehen.
Noa Winter: Um auf die Frage aus dem Publikum einzugehen: Ich sehe diese oft scharf aufgebrachte Trennung zwischen Freier Szene und Stadt- und Staatstheater auch wesentlich weniger scharf. Wenn ich aus meiner Expertise heraus über Barrierefreiheit im Sinne von struktureller Veränderung nachdenke, sehe ich keinen aktuellen Trend, dass die eine Arbeitsweise weiter in ihrem Wandel fortgeschritten ist als die andere. Auch in der Freien Szene gibt es normierte Vorstellungen über zeitliche und kommunikative Abläufe von Produktionen. Sowohl in meiner Arbeit im Projekt Making a difference als auch in der freiberuflichen Tätigkeit für unterschiedliche Institutionen beobachte ich nicht, dass die Arbeit, die an den jeweiligen Häusern in das Umdenken von Strukturen investiert werden muss, weniger ist. Diese Arbeit gestaltet sich manchmal anders aus, aber es wird unterschätzt, wie vielen Normen freies Produzieren tatsächlich unterliegt, und das zu hinterfragen, ist auch in der Freien Szene für ein machtkritisches Arbeiten enorm wichtig. Dafür braucht es vor allen Dingen eine Veränderung der Berufe.
Sandra Umathum: Gelingt diese Veränderung leichter in der Krise?
Noa Winter: Es ist immer wieder die Entscheidung von den Menschen in institutionellen Machtpositionen, wie diese »Krise« – in Anführungszeichen – und der Möglichkeitsraum, den sie eröffnet, genutzt wird. Aus meiner Praxis kann ich berichten, dass manche Institutionen sie als Chance begreifen, sich die Zeit zu nehmen und sich mit ihren Strukturen auseinanderzusetzen und Veränderungen in Richtung Barrierefreiheit und Anti-Ableismus vorzunehmen. In anderen gab es aber auch das genaue Gegenteil: Mit der Begründung, man müsse so viele Herausforderungen bewältigen, da gäbe es keine Zeit, sich noch mit Barrierefreiheit auseinanderzusetzen. Das sind Leitungsentscheidungen. Die Krise hat nicht verändert, dass wir nach unseren Prioritäten im Theater fragen müssen. Was sind die Prioritäten eines Teams, an welchen Veränderungen will es arbeiten? Diese Frage hat sich nicht verändert, nur die Begründung – die »Krise« – hat sich verändert. Entschieden werden muss, welchen der Wege man einschlagen will.
Sandra Umathum: Ich danke euch für das Gespräch.