Wissenschaft
Den Dilettantismus feiern – statt negieren!
Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2023: laut & denken (01/2023)
Assoziationen: Theaterpädagogik Wissenschaft

Überall, wo die Kunst selbst noch kein rechtes Regulativ hat, (…) richtet der Dilettantismus mehr Schaden an und wird anmaßender. Der schlimmste Fall ist bei der Schauspielkunst. (Goethe/Schiller 1964: 748)
Eine traditionelle Sicht auf Dilettantismus, wie sie Schiller und Goethe geprägt haben (vgl. Goethe/Schiller 1964), charakterisiert eine*n Dilettant*in drei Eigenschaften: (1) Der Nachahmungstrieb und damit verbunden die Neigung, selbst Kunst zu produzieren. (2) Die Neigung, alles zusammenzuraffen und zu sammeln, was der Kunst ‚verdächtig‘ sei, ohne Kriterien für diese ‚Sammelwut‘ anzulegen; und eine – und das ist vielleicht der größte Vorwurf – (3) Nicht-Ernsthaftigkeit in Bezug auf die Produktion von Kunst und damit auf den Gegenstand der Kunst selbst. Was Dilettant*innen mangele, sei die Kenntnis der Regeln, die nur durch ein intensives Studium erlangt werden kann.
Führt man sich vor Augen, dass das Theaterspiel mit ungelernten Spieler*innen inzwischen ein wesentliches Feld sowohl Kultureller und Ästhetischer Bildung als auch im professionellen Theater etablierte Praxis ist, lässt sich feststellen, dass diese zwar nicht mehr den traditionellen Regeln der Darstellungskunst folgen, sondern ihre eigenen „Regulative“ gefunden haben. Was aber kann Dilettantismus als ästhetische Strategie gerade in den Darstellenden Künsten für junges Publikum und mit Kindern und Jugendlichen an ästhetischem Mehrwert bringen?
Bei der Arbeit mit ungelernten Spieler*innen scheint mir gerade die Verlagerung weg von einer tradierten Darstellungskunst hin zu anderen Darstellungsfragen eine Chance zu sein. Es geht nicht um handwerklich gelungenes „Bühnenspiel“ sondern um ein Spiel mit Formen, in denen neue, gleichermaßen ästhetische wie soziale Fragen gestellt werden, die sich nicht auf Probleme der Schauspielkunst reduzieren lassen. Ein dilettantistischer Ansatz lässt auch das Rohe, Gemachte wie auch das Unfertige in Erscheinung treten.
Gerade das Theater im Schulkontext kann hier Pate stehen. Es schaut auf eine eigene Tradition zurück, die sich spätestens mit der Reformbewegung der 1920er und 1930er Jahre entwickelt hat,1 und in deren Folge eigene ästhetische Programmatiken formuliert wurden: Anstelle einer Umsetzung von dramatischen Texten, tritt die Sammlung von Material und die Bearbeitung bestimmter (sozialer) Themen. An die Stelle einer psychologisch motivierten Figurendarstellung treten Darstellungsstrategien, die etwa kollektive und chorische Formen oder auch Verfremdungseffekte nutzen. Ein solcher künstlerischer Prozess verfolgt prinzipiell andere Darstellungsziele. Er will nicht überzeugen und glaubhaft erscheinen, sondern das Bestehende – auch den Kanon der Kunst – in Frage stellen. Anders als es Schiller und Goethe beschreiben, geht es einem aktuellen Dilettantismus nicht um das Nachahmen einer bereits bestehenden Form, sondern um eine schnelle, skizzenhaft entworfene Antwort auf eine bestimmte Frage.
Ein dilettantistischer Ansatz lässt das Rohe, Gemachte wie auch das Unfertige in Erscheinung treten.
Dilettantisch zu arbeiten bedeutet Transparenz zu schaffen in Bezug auf die Spiel- und Darstellungsräume, die sich für den künstlerischen Prozess ergeben, wenn das psychologische Rollenspiel nicht mehr Grundlage des Spiels ist, sondern das Spielen mit den Formen selbst. Ungelernte Darsteller*innen mögen es hier leichter haben, weil jeder Versuch, sich hinter einer tradierten Darstellungsform zu verstecken, aufgrund des Unvermögens scheitern muss.
Text wird daher beispielsweise nicht als Vorgabe verstanden, die in Form einer Figurendarstellung umzusetzen ist, sondern als Material, das zum Anlass für eine ästhetisch-diskursive Auseinandersetzung mit (ästhetischen und sozialen) Realitäten genommen wird. Die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Annemarie Matzke bezeichnet diesen Zugang als „positiven Dilettantismus“ (Matzke 2005: 231). Die professionellen Standards schauspielerischer Darstellungsprinzipien werden hier zur Referenzfolie der theatralen Auseinandersetzung, mit dem Ziel, »den Moment des Inszenierens mit seinen Irrtümern und Umwegen« mit aufzuzeigen (Matzke 2005: 233).
Ein solcher absichtsvoller Regelbruch mit den – immer noch – bestehenden Konventionen ‚guter‘ Darstellungskunst, kann auch für das Theater mit jugendlichen Akteur*innen Anregung sein. Allerdings darf dies nicht bedeuten, eine solche Formensprache im Kontext mit Kindern und Jugendlichen einfach nur zu adaptieren. Auch hier ist die Aufgabe und Herausforderung „Nicht nach den Profis [zu] schielen“, wie es die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Melanie Hinz auf den Punkt gebracht hat (2016), sondern in jedem Projekt das eigene Verhältnis zum Phänomen des Theaters aufs Neue zu klären und eigene ästhetische Ziele zu verfolgen und zu erproben.
In diesem Sinne stellen Dilettant*innen nicht nur das eigene Theaterverständnis immer wieder auf die Probe, sondern erkunden immer auch die Anforderungen, die das Theater an sie stellt.
Das Spiel, das sich an solchen Maßgaben orientiert, erfindet (s)ein eigenes Regelsystem und sucht sich neue Formen. Orientierungshilfen liegen hier nicht in tradierten Standards, sondern darin den Möglichkeiten, Wünschen und Bedürfnissen der Spieler*innen Raum zu geben. Ein solcher – im besten Sinne! – dilettantischer Ansatz, der sich seiner Möglichkeiten und Grenzen bewusst ist, kann nicht nur ästhetisch überzeugen, sondern hat auch inklusives Potential, das es in Zukunft noch weiter auszuloten gilt.
1 Etwa Martin Luserkes „Schule am Meer“ (vgl. Godde 1990).
Literatur:
Godde, Cornelia Susanne Anna (1990): Das Laienspiel als reformpädagogisches Element: Die Bedeutung Martin Luserkes für das heutige Bildungswesen. Beiträge zu Erziehungswissenschaften 3. Witterschlick/Bonn: Wehle.
Goethe, Johann Wolfgang v./Schiller, Friedrich (1964): „Über den Dilettantismus.“ In: Goethe – Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. (Herausgegeben von Ernst Beutler). 2. Aufl age. Bd. 14: Schriften zur Literatur. Zürich: Artemis, S 729–754.
Hinz, Melanie (2016): „Nicht nach den Profis schielen“. In: Was für ein Theater… 60 Jahre die Bühne, herausgegeben von „die Bühne – das Theater der TUD“, Dresden, S. 22–35.
Matzke, Annemarie M. (2005): Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater. Hildesheim: Olms.